Inklusion in der Schule geht anders: “Opfer bringen” nicht falsch verstehen

Das Logo von die neue Norm auf blass orangem Grund. Rechts davon steht: Die Neue Kolumne. Unten steht: Von Jennifer Sonntag.
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Als Inklusionsbotschafterin wurde ich oft gefragt, welche Erfahrungen ich mit dem Thema Inklusion in der Schule gemacht habe. Meine persönliche Geschichte ist ein Beispiel dafür, wie Inklusion an der Schule nicht laufen sollte. Ich habe sie deshalb oft lieber nicht erzählt, um Inklusionsgegner*innen nicht in die Karten zu spielen. Heute denke ich, dass ich gerade als Befürworterin der Inklusion von meinen Erfahrungen berichten muss, damit sich aus den Fehlern von damals ableiten lässt, wie wir es heute besser machen können. 

Ich selbst war ein schulisches “Integrationsexperiment” der Nachwendezeit und bin in ein System hineingepuzzelt worden, was dafür einfach noch nicht bereit war. Die Lehrerschaft sprach von einer Ellenbogengesellschaft und viele meiner Mitschüler*innen definierten sich über Trend- und Markenklamotten oder rühmten sich mit den vermeintlich besseren Berufen ihrer Eltern. Unser Gymnasium lag in einem Neubauviertel, nahe an sozialen Brennpunkten, was Konkurrenzgedanken und Mobbing denen gegenüber begünstigte, die anders aussahen oder irgendwie nicht zum Sound dieser Schule passten. Ich war ein Teenager mit dicken Brillengläsern, die “Halbblinde”, die man verlachte, mit ekligen Dingen bewarf und der man absichtlich Stolperfallen in den Weg stellte. Dabei hatte ich mich so auf das neue Schuljahr gefreut, war eine der wenigen, die aus der Glasglocke der Sonderschule auf ein „normales“ Gymnasium gehen durften. Auf der Regelschule jedoch war man auf meine Augenerkrankung wenig vorbereitet. 

Die Schikanen gingen manchmal schon an der Haltestelle los, bevor ich überhaupt richtig angekommen war. Ich traute mich nicht allein ins Gebäude hinein, selbst jüngere Schüler stellten sich mir in den Weg und ließen mich die Treppen hoch- und runterstolpern, sodass ich die Orientierung verlor. Oft fand ich meinen Rucksack und die Räume nicht, war ungeschickt, unbeholfen, ich wollte, aber ich konnte nicht dazu gehören. Ich träume heute noch manchmal davon, den Anschluss zu verpassen, dann stehe ich allein im Klassenraum und sehe nicht, wo die anderen hingegangen sind. So versäumte ich im Geiste die nächste Unterrichtsstunde oder eine wichtige Klassenarbeit. Mein Schulalltag wurde damals zu einem gehetzten Hinterherrennen. Meine ohnehin geschädigten Augen waren ständig überlastet. Als sehbehindertes Integrationskind bekam man zwar für Klassenarbeiten etwas länger Zeit, das führte jedoch zu Missgunst und Neid bei Mitschülerinnen, die vorher eigentlich nett oder neutral zu mir waren. 

Sehbehinderte Schüler*innen konnten ihre Hofpausen dafür nutzen, sich um vergrößerte Kopien von Unterrichtsmaterialien zu bemühen. Bei meiner Sehbehinderung, einem immer enger werdenden Tunnelblick, halfen Vergrößerungen jedoch nicht und bewirkten eher das Gegenteil. Hier hätte ich mir auch mehr Kompetenz der Beratungslehrer*innen gewünscht, was die einzelnen Augenerkrankungen sehbehinderter Integrationskinder betraf. Was bei der einen Sehbehinderung hilft, kann bei einer anderen kontraproduktiv sein. Damals konnte ich das noch nicht reflektieren, zweifelte an mir, weil andere sehbehinderte Kinder besser zurechtkamen. So konnte sich eine Freundin, die noch ein besseres räumliches Sehen hatte, an der Schule auch besser orientieren. 

Ich war mir höchst peinlich, meine Probleme schienen mir unlösbar und überdimensional. Ich erkannte das Tafelbild nicht mehr, konnte mit dem Sehrest nur holpernd laut vorlesen und traute mir nichts mehr zu. Wenn ich irgendwo davon lief oder über etwas stolperte, machte ich mich immer wieder zum Gespött bestimmter Mitschüler*innen. Ich zog mich zunehmend zurück.

Zur Klassenfahrt traute ich mich am Ende nicht mitzufahren. In der betreffenden Woche sollte ich in eine der Parallelklassen gehen. Gleich am ersten Tag wurde ich dort so gemobbt, dass ich den Rest der Woche draußen auf der Parkbank verbrachte. Ich wusste nicht mehr ein noch aus. Ich wollte keinen enttäuschen, nicht die Integrationslehrer*innen, nicht meine Eltern, alle, die an das Experiment geglaubt hatten. Mit den Einsernoten ging es runter auf Vier, ich musste zurück in die Sonderschule, Triumph für alle, die mich in der “Normalschule” scheitern sahen. Ich war froh, dass ich nun wieder mit meinen alten Freund*innen zusammen sein konnte, die aber von meinen Erfahrungen wenig ahnten. 

Bei meinem Fach-Abi klappte es dann besser. Ich ging erneut an eine Regelschule. In der 11. Klasse waren meine Mitschüler*innen auch etwas erwachsener und wollten alle in soziale Berufe. Mobbing war kein Thema. Die fachliche Ausrichtung entsprach meinen Potenzialen und meinem späteren Studienwunsch. Ich schrieb wieder Einsen. Auch wenn man mir an dieser Schule wohlgesonnener war, erlitt ich hier meine ersten merklichen Erblindungsschübe. An manchen Tagen sah ich so schlecht, dass ich nicht wusste, wie ich Exkursionen oder gar den eigenen Schulweg bewältigen sollte. Als Kind war ich oft beschämt worden, wenn ich zugab, etwas nicht zu sehen. Ich solle mich nicht anstellen, wie der erste Mensch im Weltall, wurde dann von den Erwachsenen gesagt. So hatte ich Überspielen und Überkompensieren gelernt, jedoch keine echten Empowerment-Strategien. Das wirkte sich nun aus. 

Ich tat, als ob ich klar käme, weil das sozial erwünscht war, und fand allerlei komische Ausreden, um nicht zugeben zu müssen, dass ich etwas nicht sah. Bei schlechten Lichtverhältnissen lief ich blind vor Blend- und Schattenwänden und meine Gefühle kamen nicht hinterher. Zu meinem eigenen Abiball ging ich nicht aus Angst, über Tische und Bänke zu stolpern. Bat ich darum, mich unterhaken zu dürfen, war man irritiert, weil mir nicht anzusehen war, wie zerstört meine Netzhaut inzwischen war. Die Phase zwischen hochgradiger Sehbehinderung und Erblindung war kommunikativ wirklich schwierig, weil meine Mitmenschen meinen Zustand nicht einordnen konnten und sagten: „Da hat sie schon eine dicke Brille auf und kann trotzdem nicht gucken.“ 

Halt gab mir in dieser Zeit die Punk-Szene. Ich machte meine Hausaufgaben zwischen den bunten Jungs und Mädels, die ich nach der Schule in der City traf. Hier hatte jeder irgendetwas zu verlieren, ich eben mein Augenlicht. Meine Clique, ein ganz schön rüder Haufen, hatte mich stark gegen die Welt gemacht. Ich weiß nicht, ob ich in diese extreme Szene gegangen wäre, wenn ich in der 9. Klasse bei den Marken-Mädels besser weggekommen wäre. Punkerin zu sein hat mich aber auf jeden Fall davon abgehalten, mich resigniert im Kinderzimmer zu verkriechen. In meinem Buch “Märchenland im Müll” beschrieb ich später unter dem Pseudonym Constanze S. diese für mich sehr zerrissene Zeit in zerrissenen Klamotten, zwischen Erblindungsschüben und Subkultur. Hier geht’s zur Audio-Fassung meines Buches.

Ich fühle mich heute Schüler*innen sehr nahe, die glauben zu scheitern, weil eigentlich ein System scheitert, was für Inklusion noch nicht bereit ist. Die Verantwortung für gelingende Inklusion darf nicht allein beim behinderten Kind liegen. Es geht nicht darum, dass jede*r Mal gehänselt wird, das verträgt ein gut inkludierter Mensch. Ich meine, symbolisch oder direkt gesprochen, eher Kids, die nicht einmalig in die Mülltonne gesteckt werden, sondern jahrelang. Das zerstört die Entwicklungsmöglichkeiten eines jeden Menschen nachhaltig und manchmal sogar den ganzen Menschen. Meine Erfahrungen sollen kein „gefundenes Fressen“ für Inklusionsgegner*innen sein. Wenn etwas nicht gut gemacht ist, müssen wir es eben besser machen, nicht weglassen. Inklusion gelingt nur durch Inklusion! Schüler*innen sind aber keine Experimente, deshalb „Opfer bringen“ bitte nicht falsch verstehen!

Wie Inklusion gelingen kann, zeigt ein Erfahrungsbericht im PRO RETINA-Podcast „Blind verstehen“, in Folge 43. Niko ging seit der 5. Klasse als sehbehinderter Schüler auf eine kleine Privatschule und spricht mit seiner damaligen Lehrerin Katalin Dienes über hilfreiche Schutzfaktoren. Auch zwei weitere Podcast-Folgen von “Blind verstehen” kann ich empfehlen: Folge 44 und Folge 45 mit dem Thema “Schule im Blick – Eltern betroffener Kinder berichten”.

Diese Parameter finde ich impulsgebend für den Diskurs: 

  • Worauf sollte sich die Lehrerschaft einstellen? 
  • Wie reagieren die Mitschüler*innen? 
  • Welche Innovationen gibt es im Hilfsmittelbereich inzwischen? 
  • Welche Rolle spielen die Eltern und die Behörden? 
  • Erfordern Art und Schwere der Sehbehinderung ein jeweils anderes methodisches Herangehen? 
  • Ist das behinderte Kind ausreichend empowert, durch innere und äußere Schutzfaktoren?

Ergänzende Links zum Beitrag:

Hier findet ihr mein Kobinet-Interview mit Dorothee Feuerstein, die ebenfalls von ihren Erfahrungen als „Integrationsexperiment“ berichtet.

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2 Antworten

  1. Ich darf seit 25 Jahren inklusive Schule als Schulleiter gestalten. Unter Quasi-Verzicht auf Datenschutz erhält jede 5. Klasse an meiner Schule Informationen zu den verschiedenen und den in der Klasse vorkommenden Behinderungen- so verstehen sie sehr schnell, welche Bedürfnisse die Mitschüler haben.
    Das Konzept trägt durchgängig sehr gut!

    Als Begründung zur Aushebelung des Datenschutzes gebe ich den Eltern beh. Kinder zu bedenken, dass jemand im Rollstuhl auch nicht durch eine DSGVO geschützt davor wird, dass andere wissen, er sitzt im Rolli! Ihn zu schützen, wäre kontraindiziert, weil die Mitschüler in ihrer Neugier die besten Mitspieler werden, um zu inkludieren!

    Inklusion durch Wissen und Perspektivwechsel ist ein bewährter Weg!

    Ich könnte stundenlang schreiben, aber lasse es jetzt mal…
    Möchte nur sagen: Inklusion ist ein Kinderspiel!

  2. Hallo Olli,
    das hört sich sehr gut an!
    Unser Mattis ist in der 5. Klasse (Eine Aussenklasse an einer Gemeinschaftsschule).
    Wir sind wieder am Kämpfen, wie es nach dem Schuljahr weitergehen wird…
    Wäre toll, von Dir Tips zu bekommen, wir die Strukturen in der Schule angepasst werden können/müssen…

    [email protected]

    Viele interessierte Grüße, Jörg

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