Fünf Jahre Paulchen mit Frauchen

Das Logo von die neue Norm auf grünem Grund. Rechts davon steht: Die Neue Kolumne. Unten steht: Von Jennifer Sonntag.
Lesezeit ca. 11 Minuten

Seit fünf Jahren unterstützt mich mein Blindenführhund Paul nun schon im Alltag. Sogar zu meinen Presse- und Fernsehterminen begleitete er mich regelmäßig, um „Pfote“ zu zeigen, dieses wertvolle Hilfsmittel mit Seele. Paul war auch bei meinen Engagements als Peer Beraterin und Inklusionsbotschafterin an meiner Seite, in Hörsälen, in Kaufhallen und Gaststätten, bei mancher Kulturveranstaltung oder bei Arztterminen und sogar in den Umkleidekabinen meiner Lieblingsshops. Wir waren mit der Bahn und im Auto unterwegs, am liebsten jedoch bewegen wir uns als Gespann zu Fuß und erleben unsere Zusammenarbeit unmittelbar. Das war auch der Grund, warum ich mir Paul so sehr gewünscht hatte, ich wollte nach meinem letzten Erblindungsschub wieder mobiler und selbstbestimmter sein. Mir wurden inzwischen viele Fragen zu unserem blinden Verstehen gestellt. Ich wurde auch immer wieder mit falschen Vorstellungen konfrontiert. Deshalb kläre ich in Textbeiträgen und auf unserem Insta-Kanal “Blind Feminista” über unsere gemeinsame Arbeit auf.

Mir begegnet zum Glück immer wieder viel Offenheit und Interesse. Manchen Personen fällt es jedoch schwer, sich vorzustellen, wie ich als blinde Frau meinen Alltag bewältige. Einige betrachten mich als mystische Gestalt mit außerordentlichen Fähigkeiten, andere denken, ich sei ein hilfloser Mensch ohne Möglichkeiten. Kommt nun noch ein Assistenzhund dazu, entstehen auch hier oft extreme Bewertungen. Auf der einen Seite muss der Hund, häufig auch durch Medien unrealistisch transportiert, wahre Wunder vollbringen können, andererseits denken einige immer noch, das Wesen des Hundes würde durch die Ausbildung gebrochen. Deshalb war die erste Lektion, die mir meine Trainerin beibrachte, spätestens jetzt die Chance zu nutzen und nicht mehr darüber nachzudenken, worüber andere wohl nachdenken. Wichtig war, mit Paul zusammen zu wachsen und zu einem sicheren Gespann zu werden, das mit Freude an die Arbeit geht. 

Aufwachsen und Ausbildung

Paul und ich bilden ein Team und agieren als Einheit. Eine gute Ausbildung von Hund oder Mensch allein ist nicht ausreichend. Erst unsere Gespannprüfung entschied darüber, dass wir zusammen im Straßenverkehr aktiv sein dürfen. Bereits als ich einen Blindenführhund bei der Krankenkasse beantragte, wurde geprüft, ob ich mich für die Haltung eines solchen “Hilfsmittels” eigne. Mit der Führhundschule meiner Wahl traf ich dann genauere Absprachen zu den gewünschten Eigenschaften meines geplanten Helfers auf vier Pfoten. Nur ein gesunder, wesensfester, lernfreudiger, gutmütiger, und selbstbewusster Hund eignet sich überhaupt zur Ausbildung. Außerdem mussten Rasse, Geschlecht, Größe, Statur, Fellbeschaffenheit und Temperament entsprechend zu mir passen. Ich war mit dem Wesen des Labradors seit vielen Jahren vertraut, da ich bereits als Sehende einen besaß. Nun durfte ich blind einen Probelauf mit einem Azubi-Labi erleben, der damals noch nicht Paul hieß und war sofort begeistert. Ich entschied mich szenebedingt für schwarz, denn helle Tierhaare würde ich auf meiner dunkelbunten Kleidung nicht so gut kontrollieren können. 

Bevor ich Paul bekam, absolvierte ich ein Auffrischungs-Training in Orientierung und Mobilität. Dies wird gefordert, damit sich blinde Menschen auch mit Langstock sicher im Straßenverkehr bewegen können, z.B. wenn das Tier einmal erkrankt. Erst als feststand, dass Paul mein Hund wird, durfte ich ihn in der Hundeschule besuchen und er zeigte mir im Führgeschirr begeistert seine Umgebung. Mein Herz gehörte sofort ihm. Dann folgte die mehrwöchige Einarbeitung in meiner Stadt. Es ging nun darum, die Gespannarbeit in meinen Alltag zu integrieren und die Hörzeichen richtig einsetzen zu lernen. Ich musste auch üben, Pauls Signale zuverlässig zu deuten und sein Wesen zu lesen. Aber zur Hundehaltung gehört noch mehr: Futter, Pflege, Tierarzt, Versicherung, Zubehör, Betreuung im Alter, auch das galt es zu besprechen. Paul musste sich auch erst an die neue Situation gewöhnen, meine Sprechweise, meinen Gang und meine Eigenarten. Er hing ja noch an seiner Trainerin, mit der er viele Monate intensiv gearbeitet hatte. Dass Paul und ich nun so gut zusammen passten, das war auch für die Hundeschule entscheidend, denn darauf baut alles Weitere auf. 

Pauls Hundeschule kooperiert mit bewährten Züchtern. Schon als Welpe wurde er auf bestimmte Eigenschaften, die zur Eignung als Führhund erforderlich sind, geprüft. Bis zum Zeitpunkt seiner eigentlichen Ausbildung lebte er bei seiner Patenfamilie. Dort erhielt er seine Grunderziehung. Gerade diese Prägung war entscheidend für seinen weiteren Weg. Für Pauls Gastmutti war es sicher nicht leicht, den lieb gewonnenen Schützling nach einem Jahr wieder abzugeben. Ich bin ihr unbeschreiblich dankbar. Das Aufwachsen in familiärer Umgebung war notwendig, damit Paul in Ruhe erwachsen werden und sich auf seine spätere soziale Rolle vorbereiten konnte. 

Pauls Ausbildung zum Blindenführhund dauerte neun Monate. Das variiert von Hund zu Hund, aber auch in den verschiedenen Ländern und Hundeschulen. Außerdem gibt es unterschiedliche Modelle, nach denen ausgebildet wird. Das der Hund Freude an seiner Arbeit hat, muss oberstes Gebot sein. Für den Hund ist wichtig, dass er seiner Bezugsperson vertrauen kann und sich durch sie bestätigt fühlt. Ein Führhund lernt in seiner Ausbildung zwei Dinge, die sich eigentlich widersprechen. Er muss einerseits gut gehorchen und die Hörzeichen seines Menschen zuverlässig befolgen. Andererseits lernt er auch, vollkommen selbstständig zu agieren, wie beim Umgehen von Hindernissen. Er muss den Gehorsam sogar manchmal komplett verweigern und sofort sperren, etwa bei Abgründen und Sturzgefahr. Das gewünschte Verhalten wird im Training liebevoll belohnt, falsches Verhalten korrigiert. Wenn der Hund z.B. lernen soll, seinen Menschen einen Weg entlang zu führen, ohne ihn seitlich ins Gestrüpp zu reißen, simuliert die Ausbildungsperson ein Stolpern oder Stürzen. Bewegt er sich jedoch korrekt, ist das für ihn deutlich angenehmer, als das gemeinsame Straucheln. Auch der blinde Mensch würde hinfallen und könnte nicht vorher tadelnd einwirken. Deshalb wird dem Hund bei dieser Trainingsmethode bereits das Verhalten eines blinden Menschen vorgespielt. 

Auf einem Weg zwischen sattgrünem Rasenflächen steht Jennifer Sonntag, eine weiße Frau mit langen dunkelbraunen Haaren. Sie trägt ein schwarzes Kleid und eine rote Herzchen-Sonnenbrille und hält ihren schwarzen Blindenführhund Paul am Führgeschirr. Paul ist ein Labrador.
Jennifer Sonntag und ihr Blindenführhund Paul

Alltag und neue Wege

Wie hilft mir Paul aber nun konkret im Alltag? Er führt mich auf verschiedenartigen Wegen sicher geradeaus, zeigt Straßeneinmündungen an und weicht leicht zu umgehenden Hindernissen selbstständig aus. Dabei umgeht er nicht nur Boden- sondern auch Seiten- und Höhenhindernisse. Vor schwer zu bewältigenden Barrieren stoppt er. Hier erkunde ich dann mit meinem Taststock die Details und mache mir ein Bild von der Situation. Ich muss dann selbst entscheiden, welches Kommando ich Paul geben muss, um die Hürde gemeinsam zu nehmen. Er kann auf mein Signal hin einen anderen Weg aufsuchen, umkehren oder das Hindernis direkt bewältigen, etwa durch Übersteigen. Es ist auch möglich, dass Paul das Hörzeichen verweigert, wenn eine zu große Gefahr vom Hindernis ausgeht. In diesem Fall ist Ungehorsam erwünscht. 

Paul reagiert auf die Richtungsbefehle „rechts“ und „links“ und hilft mir dabei, gewünschte Zielpunkte anzulaufen, z.B. Briefkästen, Ampeln oder Zebrastreifen, Treppen, Haus- oder Geschäftseingänge. In Gebäuden unterstützt er mich beim Auffinden von Ausgängen, Fahrstühlen oder Informationsschaltern. Er sucht den Ein- und Ausstieg von Straßenbahn, Bus oder Zug auf und führt zu freien Sitzplätzen an Haltestellen. 

Beim Überqueren von Straßen müssen wir zusammenarbeiten. Paul führt zur Überquerungssituation hin und bleibt stehen. Ein Hund schaut nicht auf die Ampel, da das Licht- und Farbenspiel auf der anderen Straßenseite nicht in seinem natürlichen Wahrnehmungsfeld liegt. Ich muss nun mit meinem Gehör die Verkehrssituation richtig interpretieren, um Paul im passenden Moment den Befehl zum Überqueren geben zu können. Habe ich ein leise herannahendes Fahrzeug überhört oder eine Situation falsch gedeutet, verweigert Paul den Befehl und bleibt so lange stehen, bis die Straße frei ist. Dann überquert er sie rasch und geradlinig. 

Häufig benutzte Wege bewältigt Paul routiniert. Gewohnte Situationen werden von ihm mit bestimmten Bedingungen und Befehlen verknüpft. Wir sind jedoch täglich mit neuen Hindernissen konfrontiert. Gemeinsam Lösungen zu finden macht uns Spaß. Dafür entwickeln wir manchmal zusätzliche Hörzeichen. So gibt es an einer für uns entscheidenden Straße weder eine Ampel, noch einen Zebrastreifen. Paul muss mir dann Alternativen anzeigen, z.B. einen orientierenden Papierkorb an einer Kreuzung. In einer mir völlig unbekannten Gegend müsste ich mit Paul alle neuen Wege wiederholt üben, um selbst eine Art innere Karte entwickeln zu können. Ich habe mit Paul Stück für Stück meinen Radius erweitert und selbst neue Wege ausprobiert. Im Alltag nutzen wir etwa 20-30 Hörzeichen.

Ich kann bestätigen, dass das Laufen mit Führhund entspannter und zügiger vonstatten geht, als die Fortbewegung mit Langstock. Paul zieht mich am Führbügel sanft mit sich, meinem Rhythmus und Tempo angepasst, sodass ich mich seiner Bewegung hingeben kann. Durch seine Umsichtigkeit muss ich nicht jeden Schritt mühsam durch das Pendeln mit dem Stock absichern. Da ich zusätzlich mit einer Fibromyalgie lebe, die von starken Muskelschmerzen geprägt ist, verursachte der permanent angewinkelte Stockarm weitere Verspannungen. Bei der Gespannarbeit kann ich beide Arme nach unten hängen lassen, was den gesamten Oberkörper deutlich entlastet. Pauls Führgeschirr überträgt alle notwendigen Impulse auf mich. Richtungsänderungen werden somit für mich sofort spürbar. Dieses Vertrauen ist vor allem in Situationen entscheidend, in denen mir die Orientierung, etwa durch Baulärm, zusätzlich erschwert wird. Wenn z.B. ein Presslufthammer wichtige Umweltgeräusche übertönt, bin ich nochmal mehr auf den Hund angewiesen. 

Paul lässt sich nicht von Lärm, Hektik und Stress aus der Ruhe bringen. Hier ist er ein großes Vorbild für mich. Im Laufe meiner Erblindung nahmen meine Ängste im Straßenverkehr zu, besonders vor LkWs. Mit Paul konnte ich an meinen Unsicherheiten arbeiten, das übertrug ich auch auf andere Lebensbereiche. Durch ein Tier lernt man viel über sich selbst, die eigene Körpersprache, unnütze Denkmuster, seine innere Mitte. Hier geht es um pure Authentizität und nicht darum, sich für andere zu verstellen. Ich lernte auch, in meinem Tempo vorzugehen. Gerade wenn man nicht sehen kann, wirkt sich die Hektik der Mitmenschen auf den blinden Orientierungsprozess hinderlich aus. 

Hund sein dürfen ist wichtig

Auch wenn er Freude an seiner Arbeit hat, braucht Paul Entspannungsphasen, in denen er einfach nur Hund sein darf. Ich muss dafür sorgen, dass er regelmäßig seine Auslauf-, Futter- und Ruhezeiten erlebt. Er ist aus Fleisch und Blut und kann nicht, wie ein Stock, nach Bedarf ein- und ausgeklappt und im Schrank verstaut werden. Im Dienst ist Paul nur dann, wenn er sein Führgeschirr trägt, wird es abgestreift, benimmt er sich, wie andere Hunde auch. Er schnüffelt an Büschen und Häuserecken, pflegt Hundefreundschaften, knabbert Stöckchen oder klaut mir auch schon mal eine Socke. Er verknüpft seine Führtätigkeit mit dem Geschirr und umgeht, sobald er es abgegeben hat, keine Hindernisse mehr. Man muss also davon ausgehen, dass er im Freilauf natürlich unter Absperrungen hindurchschlüpft und herabhängende Zweige unterläuft. Es kann auch ihm passieren, dass er beim Tollen auf die Straße springt oder auch mal die Ohren auf Durchzug schaltet. Paul ist also in seinem tierischen Dasein nicht eigenverantwortlicher als andere Hunde. Damit er als Blindenführhund erkennbar ist, trägt er in seiner Freizeit eine Kenndecke mit Aufschrift und ein Glöckchen, damit ich ihn höre.

Kritische Situationen

Ein Führhund begegnet seiner Umwelt mutig und mit Entdeckerlaune. Dennoch darf er nicht absichtlich erschreckt oder in Bedrängnis gebracht werden. Wegen eines rückwärts ausparkenden Autos fiel ich einmal eine Treppe herunter. Paul wollte mich vor dem Sturz schützen und blieb vor der Treppe stehen, gleichzeitig fuhr das Auto weiter rückwärts auf uns zu. Der Fahrer machte sich ohne nachzuschauen einfach aus dem Staub. Paul und ich geraten regelmäßig in Bedrängnis, wenn sich auf der Hundeseite – ein Führhund läuft immer links – Menschen auf Fahrrädern eng vorbeiquetschen. Ich habe dann Angst, dass Paul mit dem Führgeschirr im Radrahmen hängenbleibt oder wir sogar angefahren werden. Der Führhund meiner Freundin war einmal im Passantengedränge zwischen Bahnsteigkante und Zugeinstieg auf die Gleise gerutscht. Aufgrund dieser Einwirkung verweigerte er zukünftig das Zugfahren. Eine einzige dieser rücksichtslosen Handlungen kann die Diensttauglichkeit des Hundes nachhaltig beeinträchtigen. Auch ist es unverantwortlich, wenn ein so gut ausgebildetes, wesensfestes Tier zum Spaß, etwa durch das Werfen von Knallkörpern, verunsichert wird. 

Unsere größte Alltagshürde sind auf dem Gehweg parkende Autos. Paul und ich müssen dann oft auf die Fahrbahn ausweichen, was gefährlich ist. Damit ein Fußweg sowohl von einem blinden Menschen allein als auch von einem Führhundgespann sicher passiert werden kann, ist eine entsprechende Durchgangsbreite zu gewährleisten. Auch breite Hecken oder herabhängende Äste, die das Weitergehen auf der Straße erzwingen, müssen zurückgeschnitten werden. Das hilft nicht nur uns Führhundgespannen, sondern auch Menschen, die mit Rollstuhl, Kinderwagen oder Rollator unterwegs sind. Oft sind auch für uns strategisch wichtige Bordsteine unzulässig zugeparkt, die Paul dann nicht mehr ansteuern kann. Eine Unart ist, wenn Menschen ihren Motor laufen lassen, ohne losfahren zu wollen. Ich stehe dann sinnlos am Straßenrand und warte. Ich sehe ja nicht, dass da jemand im Auto sitzt und erstmal in Ruhe telefoniert. 

Im Dienst nicht ablenken

Andere Hundebesitzer helfen uns sehr, wenn sie zügig und in ausreichendem Abstand an uns vorbei gehen oder ihre freilaufenden Vierbeiner kurz anleinen. Ein Führhund im Geschirr kann sich gegen Angriffe von Artgenossen nicht wehren. Für Paul war es besonders schlimm, als er in seiner „Arbeitskleidung“ von einem Hund in die Schnauze gebissen wurde. Sein Vertrauen hat dadurch massiv gelitten und meines gleich mit. Ich bin froh, dass sein selbstbewusstes Wesen diese Situation einigermaßen verschmerzt hat. Führhunde sind sehr intelligent und extrem sensibel. Nur deshalb eignen sie sich zur Ausbildung. Sie lernen durch die Einwirkung kleiner Impulse und haben feine Antennen. Gerade aufgrund ihrer hohen Auffassungsgabe speichern sie eben auch jede negative Konsequenz als Lernerfahrung ab und übernehmen sie in die Führtätigkeit. Zum Glück haben Paul und ich aber überwiegend positive Hundebegegnungen. 

Ist Paul im Dienst, darf er nicht von anderen Menschen gelockt oder abgelenkt werden. Leckerlis von Fremden sind total tabu. Gerade der Labrador würde die Futtererfahrung dann an bestimmte Personen knüpfen und, so ist es einem blinden Bekannten passiert, sein Herrchen hinter fremden Leckerlitüten herführen. Und dann sagen die Leute: „Na, der hört aber nicht“. Das ist für blinde Führhundhalter wirklich unangenehm und bloßstellend. Ich konnte meinem Umfeld bislang ganz gut vermitteln, dass Paul nur von mir gefüttert werden darf. Das wird meist verstanden. Ein größeres Problem sind herumliegende Lebensmittel. Als blinde Person bemerkt man den Müll erst, wenn der Hund ihn schon im Maul hat. Auch ein Führhund ist keine Maschine und Pizzareste auf der Straße sind auch für ihn verlockend. Der Führhund einer Freundin geriet durch gefährlichen Unrat sogar in Lebensgefahr. Leuten, die dann sagen: „Als Führhund darf der das aber nicht fressen!“, möchte ich gern entgegnen: „Als Mensch lässt man sowas nicht im Park liegen!“. Das gilt auch für Glas auf Gehwegen. Paul hat sich schon mehrfach daran die Pfoten verletzt und konnte nicht arbeiten. Die Gefahr von Glasscherben kann er als Tier nicht einschätzen. Auch hier muss der Mensch mitdenken.  

Paul trägt an seinem Führbügel den Schriftzug „Nicht streicheln, ich arbeite“. Die meisten Menschen respektieren das und unsere sozialen Begegnungen sind überwiegend angenehm. Ich signalisiere, wenn ein Smalltalk ok ist und lege dann den Führbügel kurz ab. Manchmal suche ich auch von mir aus den Kontakt. Ich bin zwar durch Paul selbstständiger in meiner Mobilität, aber das heißt nicht, dass wir als Gespann nicht auch hin und wieder Hilfe brauchen. Alles kann ein Führhund nicht leisten. Er kann z.B. die Linie der Straßenbahn nicht ansagen, die Fahrplanänderung nicht vorlesen und sieht nicht, ob der Fahrstuhl heute defekt ist. Situationen, die ein Hund nicht erfassen kann, müssen von Mensch zu Mensch besprochen werden. Wichtig ist hier, dass mir niemand ungefragt ins Führgeschirr greift. Das ist, als würde man einem Autofahrer einfach ins Lenkrad fassen. Ich hake mich lieber bei einer hilfsbereiten Person unter, bis der Hund von allein weiterführen kann. Dabei muss ich stets darauf hinweisen, dass wir mit Paul keine Rolltreppen passieren dürfen. Das ist wegen der Verletzungsgefahr an den Krallen für Führhundpfoten verboten! 

Zutrittsrechte für Assistenzhunde

Ein Führhund erfüllt nur dann seinen Zweck, wenn er der Begleiter seines Menschen in so vielen Situationen wie möglich sein darf. Mir ist sehr bewusst, dass all das Engagement des Führhundewesens nur dann nützt, wenn die Zutrittsrechte des Hundes auch im Alltag weiter gestärkt werden. Ich selbst trage also mit Paul dazu bei, die wichtige Aufgabe von Assistenzhunden sichtbar zu machen. Immer, wenn ich mich einem verwehrten Zutritt beuge, ist das ein Rückschritt nicht nur für mich, sondern für die Arbeit des Führhundewesens und vieler Organisationen, die sich seit Jahren für uns einsetzen. Seit ich Paul habe, kämpfte ich immer wieder auch als Inklusionsbotschafterin für die Stärkung der Zutrittsrechte und wir konnten zusammen einiges erreichen. Hier haben wir z.B. Pfote für den Zutritt zur Parkeisenbahn und hier für den Zutritt ins Hotelrestaurant gezeigt. Allerdings können persönliche Diskriminierungserfahrungen ganz schön schlauchen und aktiv zu werden kostet immer wieder Kraft. In den letzten fünf Jahren durfte ich so viele wundervolle Erfahrungen mit Paul teilen und das empowert mich am meisten. Er hat sich inzwischen ein zartes graues Unterlippenbärtchen wachsen lassen. Steht ihm gut, sagen die Sehenden. Mein größter Wunsch ist es, noch ganz viele erfüllte Jahre mit meinem Helfer auf vier Pfoten verbringen zu dürfen. 

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4 Antworten

  1. Liebe Jennifer,
    danke für diesen tollen Text! Du bringst das Thema Führhund mit all seinen Facetten super auf den Punkt und benennst viele positive und negative Erfahrungen, die auch uns wohlbekannt sind.
    es grüßen Dich und Paul sehr herzlich und plüschig
    Lea und Arzu, schwarzes Labradormädchen mit Führungsaufgaben in Altersteilzeit 🙂

  2. Liebe Jennifer Sonntag, vielen Dank für den großartigen Text zum Thema Führhund.
    Eine Frage habe ich allerdings noch: “Wie ist es mit den Hinterlassenschaften des Hundes?” Vermutlich ist es ja für die blinde Person nicht möglich, diese selbst zu beseitigen. Im Mietshaus unserer Tochter lebt seit Kurzem eine blinde Frau mit zwei Hunden. Ob einer davon ein Führhund ist, konnte sie mir nicht beantworten. Das Haus liegt mitten in der Stadt, an den Gehwegen sind Grünanlagen. Die beiden Hunde, so die Beobachtungen der Mieter, entleeren ihren Darm direkt in der Einfahrt, wo die Hinterlassenschaften dann durch Fahrzeuge zerfahren bzw. verteilt werden. Ein vorsichtiges Nachfragen, auch ob evtl. Hilfe benötigt wird, schlug leider fehl und die Wohnungstür schlug vor der Nase der Tragenden zu. Was würden Sie empfehlen? Herzliche Grüße von Maren Ruden

    1. Vielen Dank für deine Frage. Paul hat so genannte Lösewiesen. Zum Glück gibt es davon einige in meinem näheren Wohnumfeld. Mit meinen sehenden Bezugspersonen sammle ich die Hinterlassenschaften von Paul auf den Lösewiesen ein. Das würde ich mir auch von sehenden Hundebesitzer*innen wünschen, die oft die Geschäfte ihrer Hunde einfach liegenlassen. Natürlich merke ich mir nicht immer alle Lösestellen von Paul und kann sie dann auch nicht immer mit einer sehenden Person ablaufen. Deshalb hat der Hund gelernt, sich an Randstreifen oder Wegesrändern zu erleichtern. Ich kann leider nur für mich und meine Möglichkeiten sprechen, da ich nicht beurteilen kann, was für andere blinde Menschen sinnvoll und hilfreich in ihrer Situation ist. Ich würde mir für eure Situation auch wünschen, dass es kommunikativ für alle Seiten eine schönere Variante gäbe und eine bessere Löseoption für die Hunde, die auch für die blinde Frau bewältigbar ist.

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