Kein Auffangnetz für Blinde – Vom Hilfesystem mit Depressionen im Stich gelassen

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Triggerwarnung

In dieser Kolumne geht es um Depressionen und Suizid.

Durch Mobbing am Arbeitsplatz entwickelte sich bei mir eine Depression. Hier berichte ich von meinen Erfahrungen, mir Hilfe zu wünschen und diese nicht zu bekommen. Über die Vorgeschichte und das Tabuthema “Depression und Behinderung” habe ich in zwei vergangenen Kolumnen geschrieben: Die Erste findet man hier und die Zweite hier.

 

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Zwischen Missgunst und Maskottchenrolle

Als Sozialpädagogin leistete Jennifer Sonntag jahrelang gute Arbeit – und wurde Opfer von Mobbing, Missgunst und Neid am Arbeitsplatz. Lange versuchte sie, die Situation zu lösen oder zu entschärfen, doch es gelang ihr nicht. Schließlich entwickelte sich bei ihr eine schwere Depression. Von dieser Erfahrung und welche Rolle ihre Blindheit dabei spielte, schreibt sie in ihrer Kolumne.

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Als ich 2014 für die MDR-Sendung “Selbstbestimmt!” ein Interview mit Gustl Mollath führte, der ganze sieben Jahre unfreiwillig in der Psychiatrie verbrachte, ahnte ich noch nicht, dass ich selbst einmal mit dem umgekehrten Problem konfrontiert sein würde. Ich wurde aufgrund meiner Behinderung in eine solche Klinik gar nicht erst aufgenommen. Ausgerechnet im Urlaub, als ich etwas Abstand zu meiner Situation am Arbeitsplatz gewinnen wollte, traf mich die Depression so schwer, als wären die Dementoren aus Harry Potter über mich gekommen. Ich fühlte mich in einer eisernen Klemme, lebendig begraben, in kalter Todesangst, konnte nicht essen, nicht schlafen, bewegte mich in einem ständigen Gedankenkarussell und fand keine Lösung für mein Problem. Alles fühlte sich so schlimm an, dass sich Suizidgedanken einstellten. Mein Partner erkannte mich nicht wieder. Ich telefonierte mehrere Tageskliniken durch und erlebte statt eines Auffangnetzes durchgehend Ablehnungen aufgrund meiner Blindheit. Dabei hatte ich selbst so viele Jahre in einem helfenden Beruf gearbeitet und war nun auf Hilfe angewiesen. Nie hätte ich für möglich gehalten, dass Menschen mit Behinderungen derartige Lücken in der medizinischen Versorgung erleben müssen. Man begegnete mir gleich bei der Anfrage direkt mit der Absage, auch bei großen Trägern und obwohl ich mich genau an die Einrichtungen wandte, die mir der MDK nahegelegt hatte. Die Begründungen: Es gäbe zu viele Treppen im Haus, ich würde mich nicht zu den einzelnen Therapiestationen finden, die Therapien seien nicht für blinde Menschen vorgesehen, dafür gäbe es kein Klinikpersonal. Trotz meines in dieser Zeit extrem geringen Selbstwertgefühls, versuchte ich meinen Gesprächspartner*innen am anderen Ende der Leitung Vorurteile und Berührungsängste zu nehmen, wieder die Brückenbauerin, die Mittlerin zwischen den Welten zu sein. Dabei hätte ich so dringend selbst eine Brücke und eine helfende Hand gebraucht und kommunizierte das auch ehrlich so. Am Ende half es nichts, man fühlte sich nicht zuständig und riet mir sogar, es doch bei der nächsten Klinik zu versuchen, vielleicht hätte ich da mehr Glück. Nach jedem dieser Telefonate ging es mir noch ein Stück schlechter und die mittlerweile lebensbedrohliche Grabesplatte auf mir wurde unerträglich schwer.

Nur durch das Bemühen meiner Eltern und Freunde konnte ich dann in einer Klinik vorstellig werden, die es mit einer blinden Patientin versuchen wollte. Ich war nicht mal mehr ein Schatten meiner selbst. Inzwischen hatten meine Lieben wirklich Angst um mich und wir setzten große Hoffnung auf dieses zugesagte Klinikbett. Prompt wurde mein zugesagtes Bett wieder abgesagt, weil sich einige Nachtschwestern nicht zugetraut hatten, eine blinde Patientin zu betreuen. Dabei gab es nachts für mich keinen besonderen Betreuungsbedarf und wieder hatten Vorurteile und Berührungsängste zu einer Ablehnung geführt, erneut musste es Gespräche geben, Flehen, Verzweiflung. Die Bittstellerrolle. 

Dann endlich auf dieser Station angekommen, durfte ich tatsächlich nur sehr wenige Therapien mitmachen, musste im Zimmer bleiben und mich dort beschäftigen, weil ich am Geschehen oft nicht teilnehmen sollte. Es gab trotz der Offenheit einzelner psychiatrisch Tätiger kein einheitliches Inklusionsbewusstsein und das Klinikpersonal reagierte sehr gespalten auf die Einbindung einer vollblinden Patientin. Ich wollte nicht negativ auffallen, um den so hart erkämpften Platz nicht wieder zu verlieren, weinte stille Tränen in mein Kopfkissen, wenn die anderen zu ihren Therapien gingen. Ich kam mir zusätzlich zu meiner Depression nun auch mit meiner Behinderung lästig vor und meine schlimmen Gedanken verstärkten sich, sodass ich trotz äußerlicher Gefasstheit, am Ende hoch suizidal war. Extrem hilfreich in dieser Zeit waren meine Mitpatient*innen, denn was immer da war, das war unsere Sitzgruppe im Aufenthaltsraum und jemand, der mir eine Tasse Tee aufbrühte.

Krank der Klinik verwiesen

Von Covid 19 waren wir damals zum Glück noch verschont, aber auf unserer offenen Station kursierte eine andere Viruserkrankung, die mich hart erwischte. Da der Geschirrspüler über Wochen defekt war, sollten wir Patient*innen selbst abwaschen und mit demselben Geschirrhandtuch abtrocknen, was eine rasche Verbreitung des Virus begünstigte. Da ich mit den Händen viel ertasten musste und es eben diese hygienischen Mängel gab, konnte ich mich schlechter schützen. Die Klinik reagierte darauf, indem sie mich, damit die Krankheit nicht noch weiter verbreitet würde, in meiner schwierigen Lage einfach entließ. Mein Partner wurde noch im Krankenhaus angewiesen, er solle keinen Notarzt rufen, da ich offiziell ja noch in der Klinik sei. Auch er sah sich abhängig von diesem Hilfesystem, überfordert, verzweifelt. Meine Mitpatient*innen waren erschüttert, als sie erlebten, wie mein Freund mich in diesem Zustand aus dem Krankenhaus schleppte. In der Folge lag ich ohne ärztliche Betreuung mit einem heftigen Virusverlauf zuhause, kollabierte mehrfach und zog mir durch die Stürze schwer heilende Schürfwunden zu, hatte keinen Tropf und meine damals hoch angesetzten Medikamente blieben nicht im Körper, was zu furchtbaren Absetzsymptomen mit Halluzinationen führte. Als man mich wieder aufnahm, hatte die Depression sich so verschlimmert, dass ich auf die psychiatrische Intensivstation verlegt werden musste. Auch wenn das für mich der Tiefpunkt meines Lebens war, muss ich heute sagen, dass für mich hier das Licht wieder anging. Hier musste ich mich nicht hineinbetteln, hier sah man mich psychisch und körperlich am Ende angekommen, weil ich, die ewige Kämpferin, inzwischen endgültig aufgegeben hatte.

Ich weiß heute, durch die Erfahrungsberichte von Long-Covid-Patient*innen, dass eine Fibromyalgie, eine chronische Schmerzerkrankung, die sich durch Schmerzen in verschiedenen Körperregionen äußert, die Folge mancher Viruserkrankungen sein kann. Leider entwickelte sich auch bei mir nach all diesen Torturen eine Fibromyalgie mit Fatigue. Ich bin also seither nicht wieder richtig gesund geworden und leide unter starken Schmerzen am ganzen Körper, begleitet von einer schweren Abgeschlagenheit. Ich denke, hätten Kliniken weniger mit meiner Behinderung gefremdelt und mich in der schweren Zeit mit dem Viruseinbruch nicht mir selbst überlassen, wäre ich nicht in eine solche gesundheitliche Abwärtsspirale geraten. Und auch später sollte ich erneut Ablehnungserfahrungen mit Kliniken machen, als ich wegen meines ebenfalls chronifizierten Ohrenleidens Kontakt zu mehreren Tinnitus-Zentren aufnahm. Auch wenn ich es jetzt schon ein bisschen gewohnt war, es traf mich doch immer wieder auf verschiedenen Ebenen, wenn die Stimme am anderen Ende sagte: „Ach sie sind blind! Ganz blind? Sie sehen wirklich gar nichts mehr? Das tut mir leid, dann können Sie nicht kommen.“ 

Aktiv werden

Als ich wieder bei Kräften war, wurde ich als Inklusionsbotschafterin der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL) aktiv zu diesen Themen, begann Texte darüber zu veröffentlichen, gründete die Initiative „Irrlichter“, schrieb das Buch „Seroquälmärchen“ und beteiligte mich mit meiner persönlichen Geschichte am Almanach „Nicht gesellschaftsfähig – Alltag mit psychischen Belastungen“. Außerdem durfte ich immer wieder auch inklusionsoffene Therapeut*innen kennenlernen, unterstützte eine Forschungsarbeit zu diesem Schwerpunkt und sprach beim Festival „Stadt der Sterblichen“ 2019 in Leipzig erstmals zusammen mit prominenten Gästen auf der Bühne über Depressionen, Angst und Suizidprävention. Ich möchte nur sehr ausgesucht zu diesem Thema Gesicht zeigen, weil ich meine schlimmen Erfahrungen ganz privat verdauen muss und mich beruflich auch über andere Inhalte definiere. Aber wenn ich schon Zeugin dieser Umstände war, dann will ich mit meiner Geschichte wenigstens dabei helfen, diese drastischen Barrieren im gesundheitlichen Hilfesystem auszuräumen. Ich möchte sogar noch weiter vorn, nämlich bei der psychischen Gesundheit am Arbeitsplatz, ansetzen und dafür sensibilisieren, dass wir Menschen mit Behinderungen auch Seelen haben, hohe Kompensationsleistungen vollbringen und uns unsere großen und kleinen Erfolge nicht zugeflogen sind. Mobbing, Missgunst und Neid zerstören Potenziale und verhindern ernstgemeinte Inklusion. Ich habe deshalb ebenfalls in meiner Zeit als Inklusionsbotschafterin der ISL das Projekt „stop.mobb.handicap“ ins Leben gerufen, was unter gleichnamiger Rubrik auf meiner Archivseite bereitsteht und insbesondere behinderte Arbeitnehmer*innen in Mobbingsituationen anspricht: www.blindverstehen.de

Als öffentliche Mutmacherin habe ich lange gezögert, einen so persönlichen Text über Depressionen online zu stellen. Genau die Menschen, die mir meine „Stärken“ neideten, würden nun auf meinen „Schwächen“ herumtrampeln, befürchtete ich. Inzwischen denke ich, es ist die Aufgabe solcher Menschen sich zu fragen, warum sie das eigentlich machen. Ich jedenfalls schicke den Text bewusst nun gerade als öffentliche Mutmacherin auf die Reise, da mir in meinen düstersten Zeiten eine Person mit Behinderung gefehlt hat, die offen über ihre Depression sprach und mir Rollenmodell sein konnte. Diesen Anspruch hege ich auch nicht, aber drüber reden hilft immer. Und keine Sorge, um den Bogen zum Anfang dieser Kolumnenreihe zu spannen: Ich verbringe nicht den ganzen Tag als dauertrauriger Tropf hinter vergilbten Gardinen, ich habe gar keine Gardinen!

Ergänzende Links zu diesem Thema:

https://kobinet-nachrichten.org/2018/01/28/da-wird-man-ja-irre-patientinnen-zweiter-klasse/

https://kobinet-nachrichten.org/2017/12/17/inklusion-trifft-depression/

https://kobinet-nachrichten.org/2016/12/18/auf-der-suche-nach-barrierefreien-klinikstandards/

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Eine Antwort

  1. Was für eine furchtbare Situation: Mit einer Depression und den ganzen damit einhergehenden Symptomen, die du in deinem Artikel beschrieben hast, zu leben und dann aber trotzdem immer wieder von den Kliniken abgewiesen zu werden und das ‘nur’, weil du blind bist und die behandelnden Ärzt*innen, Therapeut*innen und das Pflegepersonal nicht wissen, wie Sie mit dir und deiner Behinderung umgehen sollen. Wieso muss es erst soweit kommen, dass du erst auf einer psychatrischen Intensivstation landest, bevor dir geholfen wird? Es ist wirklich unfassbar, wie wenig inklusiv unser Gesundheitssystem leider immer noch ist und das, obwohl die UN-Behindertenrechtskonvention bereits vor 13 Jahren ratifiziert wurde. Hier muss dringend etwas passieren. Vor allem ist es wichtig, dass das Thema Behinderung endlich in das Medizinstudium – bzw. in die Psychotherapie- und Pflegeausbildung implementiert wird, sodass Studierende und Auszubildende in diesen Berufen von Anfag an lernen, wie sie am Besten mit behinderten Patient*innen umgehen. Natürlich wäre es dann auch am Besten, wenn solche Seminare von behinderten Dozent*innen durchgeführt werden würden, denn auf diese Weise könnten Berührungsängste und Vorurteile der angehenden Ärzt*innen, Pfleger*innen und Therapeut*innen von Anfang an abgebaut werden.

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