Zehn Schritte zu einem inklusiven Arbeitsmarkt

Eine weiblich gelesene Person mit lila Oberteil, braunen Haaren und Brille sitzt in einem Rollstuhl, neben ihr eine männlich gelesene Person mit kurzen brauenen Haaren, einem dunklen Hemd und einer dunkelblauen Hose. Sie sitzen an einem Schreibtisch mit aufgeschlagenen Laptops und unterhalten sich.
Arbeit für alle? Gerade für Menschen mit Behinderung, aber auch für die Unternehmen gibt es häufig noch strukturelle Barrieren. Foto: Andi Weiland | Gesellschaftsbilder.de
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Ein hohes Armutsrisiko, wenig Wahlmöglichkeiten und viel Fremdbestimmung. Für Menschen mit Behinderungen ist das leider noch oft die Norm. Der Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt ist für sie noch immer mit Barrieren verbunden. JOBinklusive setzt sich dafür ein, dass sich das ändert – für eine Arbeitswelt, in der alle Menschen gleichberechtigt mitgestalten können. Projektreferentin Sarah Schank erklärt in 10 Schritten, wie der Arbeitsmarkt inklusiver und gerechter wird.

Diesen Text gibt es auch in Einfacher Sprache.
Du findest ihn hier.

1. Mehr Übergänge aus Werkstätten für behinderte Menschen ermöglichen

Viele Beschäftigte in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) möchten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt arbeiten – aber die Hürden sind hoch. Deshalb braucht es effektive Übergangsmanagements, Unterstützung bei Praktika auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, Weiterbildungsangebote und verlässliche Informationen über Rechte und Möglichkeiten. So kann der Übergang auf den allgemeinen Arbeitsmarkt erleichtert werden.  Außerdem darf niemand durch drohende Nachteile davon abgehalten werden, auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu wechseln – etwa durch die Aussicht auf eine geringere Rente. Der Übergang muss so gestaltet sein, dass er sich lohnt und keine finanziellen Einbußen mit sich bringt.

Eine Studie des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales untersuchte das Entgelt sowie die Perspektiven von Werkstattbeschäftigten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Sie zeigt: Bisher wechseln weniger als 1% der Beschäftigten jährlich auf den allgemeinen Arbeitsmarkt – viel weniger als sich eine Arbeit oder Ausbildung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt wünschen. 

2. Alternativen zu Werkstätten stärken

Alternativen zu Werkstätten für Menschen mit Behinderungen, wie Beschäftigungen im Rahmen des Budgets für Arbeit, Ausbildungen mit dem Budget für Ausbildung oder die Unterstützte Beschäftigung müssen gestärkt werden. Es muss zur Regel werden, dass Menschen mit Behinderungen in Betrieben des allgemeinen Arbeitsmarkts lernen und arbeiten. Inklusionsbetriebe spielen dabei eine wesentliche Rolle und sind ein wichtiger Baustein des inklusiven Arbeitsmarkts.

Klar ist aber auch: Beim Budget für Arbeit muss nachgebessert werden. Nachteilsausgleiche bei der Rente müssen auch im Rahmen des Budgets für Arbeit berücksichtigt werden. Es wäre zudem besser, wenn Arbeitsverhältnisse im Budget für Arbeit arbeitslosenversichert werden, damit Leistungen wie Arbeitslosen- und Kurzarbeitergeld in Anspruch genommen werden können. So ist man besser abgesichert, wenn man seine Arbeit verliert oder im Betrieb Kurzarbeit angeordnet wird. Die Begleitung am Arbeitsplatz im Rahmen des Budgets für Arbeit sollte nicht pauschal angesetzt werden, sondern muss sich an dem individuellen Bedarf der jeweiligen Person orientieren.

Es ist sinnvoll und notwendig, betriebliche Praktika bereits während der Schulzeit sowie später während der Qualifizierung und Beschäftigung in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen zu ermöglichen. Dabei müssen Assistenz und Jobcoaching unkompliziert, unbürokratisch und in ausreichendem Umfang zur Verfügung stehen. Der Umfang des Unterstützungsbedarfs darf nicht darüber entscheiden, ob jemand die Möglichkeit hat, Praktika auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu absolvieren oder nicht.

3. Unbürokratische Unterstützung für alle

Wenn Menschen mit Behinderungen eine*n Arbeitgeber*in gefunden haben, der*die sie einstellen möchte, beginnt oft ein langwieriger, komplizierter und undurchsichtiger Prozess, um die notwendigen Lohnkostenzuschüsse, Arbeitsplatzausstattungen, Hilfsmittel und Assistenz- bzw. Jobcoaching-Leistungen zu erhalten. Trotz bestehender Beratungsangebote und rechtlicher Grundlagen, die diesen Prozess unterstützen sollen, stehen Menschen mit Behinderungen und ihre (potenziellen) Arbeitgeber*innen häufig vor einem bürokratischen Wirrwarr, das im schlimmsten Fall die Arbeitsaufnahme gefährden kann und bei Arbeitgeber*innen wirtschaftlichen Schaden anrichtet. Es ist deswegen dringend erforderlich, schnelle, unkomplizierte und personenzentrierte Prozesse zu schaffen, die die Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen ermöglichen, anstatt sie zu erschweren. Menschen mit Behinderungen dürfen nicht als Bittsteller*innen wahrgenommen werden. Im Mittelpunkt muss ihr Recht auf Arbeit und Teilhabe stehen. 

Armut trotz Arbeit darf kein Normalzustand mehr sein. 


4. Keine Mogelpackungen mehr

Derzeit können Unternehmen Aufträge an WfbMs auf ihre Ausgleichsabgabe anrechnen – ein Schlupfloch, das echte Inklusion verhindert. Erschwerend kommt hinzu, dass die neue Regierung in ihrem Koalitionsvertrag beabsichtigt, dass zukünftig wieder Werkstätten Geld aus der Ausgleichsabgabe erhalten können. Stattdessen sollte das Geld für inklusive Projekte und Maßnahmen genutzt werden. Auch ausgelagerte Werkstattarbeitsplätze dürfen keine Dauerlösung sein, sondern müssen zur Brücke in reguläre Beschäftigung werden – idealerweise über das Budget für Arbeit.

5. Werkstätten umbauen – Inklusionsbetriebe schaffen

Nicht alle Werkstattbeschäftigten wollen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt wechseln. Die Werkstatt, in der sie arbeiten, ist ihnen vertraut und sie fühlen sich wohl. Das ist verständlich. Alle sollen bei der Umgestaltung der Werkstätten mitgenommen werden. Eine Möglichkeit wäre, dass Werkstätten nach und nach zu Inklusionsbetrieben umgewandelt werden, in denen Menschen mit und ohne Behinderungen zusammenarbeiten. So könnten viele Menschen weiterhin an einem vertrauten Ort mit vertrauten Tätigkeiten arbeiten. Und zwar zu fairen Bedingungen – mindestens zum gesetzlichen Mindestlohn. Armut trotz Arbeit darf kein Normalzustand mehr sein. 

Die Transformation der Werkstätten muss auch Tagesförderstätten umfassen. Bisher ist es in den meisten Bundesländern so, dass Menschen mit Behinderungen nicht in Werkstätten arbeiten können, wenn angenommen wird, dass sie kein Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Leistung erbringen. Sie gelten als nicht leistungsstark genug, um in einer WfbM zu arbeiten. Teilhabeleistungen wie das Budget für Arbeit, Ausbildung oder die Unterstützte Beschäftigung stehen ihnen somit auch nicht zur Verfügung. Das muss sich ändern. Auch für sie braucht es Teilhabe – individuell gestaltet, nicht pauschal ausgeschlossen. 

Zwei Frauen sitzen an einem runden Tisch und unterhalten sich lachend. Eine Frau nutzt einen Rollstuhl. Im Hintergrund sind mehrere Menschen zu sehen.

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Ein blinder Mann trägt eine Sonnenbrille, sitzt in einem Büro am Schreibtisch und hält ein Smartphone in der Hand.

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6. Mehr Transparenz und bessere Qualitätssicherung: Erfolge sichtbar machen

Welche Werkstatt vermittelt erfolgreich auf den allgemeinen Arbeitsmarkt? Wie hoch sind die Löhne in den jeweiligen Werkstätten? Diese Informationen sind bisher kaum zugänglich. Deshalb braucht es klare Kriterien und einheitliche Standards, um die Inklusionserfolge einzelner Werkstätten jährlich zu erfassen und bewerten zu können. Diese Daten müssen öffentlich sein, damit Menschen mit Behinderungen selbstbestimmt entscheiden können, wo sie arbeiten möchten. Auch die Finanzen sollten transparenter werden: Zum Beispiel indem Werkstätten ihre Jahresabschlüsse offenlegen, einschließlich Informationen über das durchschnittliche Entgelt sowie die Spannbreite zwischen dem niedrigsten und höchsten gezahlten Lohn.

Zusätzlich wäre eine unabhängige Prüfstelle notwendig – geleitet von Menschen mit Behinderungen –, die regelmäßig Arbeitsbedingungen, Schutzkonzepte und die Zufriedenheit der Beschäftigten überprüft.

7. Gewaltschutz verbessern

Beschäftigte in Werkstätten für behinderte Menschen haben ein erhöhtes Risiko, Gewalt zu erfahren. Es sind daher wirksame Gewaltschutzmaßnahmen erforderlich. Angebote und Informationen für gewaltbetroffene Menschen müssen inklusiv und barrierefrei gestaltet werden. Frauenbeauftragte sind häufig die ersten Ansprechpersonen für gewaltbetroffene Werkstattbeschäftigte und benötigen daher ausreichend Unterstützung sowie Ressourcen, um ihre wichtige Arbeit leisten zu können.

8. Berufliche Bildung reformieren

Die berufliche Bildung für Menschen mit Behinderungen muss ins allgemeine System integriert werden – flexibel, durchlässig und inklusiv. Der Zugang zu regulären Ausbildungen und Berufsschulen muss erleichtert werden, das Budget für Ausbildung ausgebaut und bekannter gemacht werden.

Inklusion ist kein Nice-to-have – Inklusion ist ein Menschenrecht.


9. Personenzentrierte Berufsberatung

Noch immer entscheiden defizitorientierte medizinische und psychologische Gutachten, ob Menschen Zugang zu Leistungen erhalten. Stattdessen braucht es eine Beratung, die auf Wünsche und Potenziale schaut. Menschen mit Behinderungen wissen selbst, was sie können – sie brauchen Beratung, keine Bevormundung.

Unterstützungs- und Teilhabeleistungen müssen unabhängig vom Arbeits- oder Lernort gewährt werden und sich am individuellen Bedarf orientieren. Entscheidend ist, welche Unterstützung erforderlich ist, um die beruflichen Ziele und Wünsche zu verwirklichen. Menschen mit Behinderungen müssen schnell und unkompliziert die Hilfsmittel und Assistenz erhalten, die sie brauchen.

10. Inklusive Bildung statt weiterer Förderschulen

Inklusive Bildung ist der erste Schritt in Richtung eines inklusiven Arbeitsmarkts. Förderschulen führen oft direkt in Werkstätten. Ein Bildungssystem, das allen Kindern und Jugendlichen echte Chancen gibt, ist auch entscheidend für die berufliche Teilhabe. 

Bildung endet nicht nach der Schulzeit. Menschen mit Behinderungen muss der Zugang zu (beruflicher) Bildung, Hochschulbildung und Weiterbildungen erleichtert werden. Zusätzlich braucht es mehr barrierefreie Bildungsangebote sowie Angebote in leichter oder einfacher Sprache, um die Teilhabe an Bildungsprozessen für alle zugänglich zu machen.

Fazit

Inklusion ist kein Nice-to-have – Inklusion ist ein Menschenrecht. Das bedeutet die konsequente Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Alle Menschen, ob sie von Geburt an behindert werden oder erst im Laufe des Lebens, haben das gleiche Recht auf Arbeit und Bildung. Sie müssen diskriminierungsfrei und chancengleich ihren Lebensunterhalt durch Arbeit verdienen können und Zugang zu inklusiver Bildung erhalten.

JOBinklusive Kampagne „Tag der Arbeit für alle!“

Alle reden von Arbeit – aber niemand vom inklusiven Arbeitsmarkt. Das muss sich ändern. Du findest, Menschen mit Behinderungen sollten überall arbeiten können? Sie sollen fair bezahlt werden und die Unterstützung bekommen, die sie brauchen – schnell, unbürokratisch und selbstbestimmt?
Wir auch! Deshalb setzen wir uns zum 1. Mai, dem Tag der Arbeit, für eine grundlegende Reform der Arbeitswelt ein.

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