„Angry Cripples“ – Wie laut darf oder muss Protest sein?

Das Buchcover ist vor einer weißen, brüchigen Backsteinwand zu sehen. Auf dem Cover ist ein Lautsprecher zu sehen, der den Titel "Angry Cripples. Stimmen behinderter Menschen gegen Ableismus" aussendet.
Luisa L'Audace und Alina Buschmann haben ein neues Buch herausgebracht: „Angry Cripples. Stimmen behinderter Menschen gegen Ableismus", Leykam Verlag 2023.
Lesezeit ca. 7 Minuten

„Angry Cripples. Stimmen behinderter Menschen gegen Ableismus” versammelt 15 Stimmen aus der Behinderten-Community, die eines eint: die Wut darüber, wie die Gesellschaft mit ihnen umgeht. Carolin Schmidt hat das Buch gelesen und mit Luisa L’Audace, eine der Herausgeberinnen, darüber gesprochen.

Wütend, aber bitte nicht ,zu‘ wütend

Was bedeutet der Begriff „Angry Cripples“ eigentlich und um welche Wut geht es genau? Viele Jahre wurde der Begriff „wütender Krüppel“ als abwertender Ausdruck und als Narrativ gegenüber Menschen mit Behinderung benutzt – sie sollten nicht so unfreundlich sein, sondern Dankbarkeit zeigen und ihre Bedürfnisse doch bitte etwas netter vortragen, hieß es häufig. „Tone Policing“ nennt man dieses Vorgehen, den Ton, die Wortwahl, Mimik oder Körpersprache einer Person zu kritisieren, um die eigentlichen Argumente oder Aussagen abzuwerten, die Diskussionen beizulegen und (behinderte) Menschen zum Schweigen zu bringen. Die Künstlerin Jameelah Janan Rasheed hat dieses Phänomen unlängst in ihrer Arbeit „How to suffer politely (and-other-etiquette)“ in Form von großformatigen Plakaten mit Aufschriften wie „Lower the pitch of your suffering“ – „Senke den Tonfall deines Leidens“ oder „Tell your struggle with triumphant humour“ – „Erzähle deinen Kampf mit triumphierendem Humor“ im Rahmen ihrer Ausstellung in den Kunst-Werken Berlin, die bis zum 24. Januar 2024 zu sehen war, gezeigt. Im Kontext von Rasheeds Arbeit geht es zwar vor allem um weiße Menschen, die Schwarzen Menschen vorschreiben wollen, wie sie mit ihrem Leid umzugehen haben. Aber das lässt sich ebenso auf andere Diskriminierungsformen übertragen.

Wie barrierearm ist Bücherschreiben

Um dieser Diskriminierung also etwas entgegenzusetzen, wurde der Begriff politisch aufgeladen und durch Behindertenbewegungen als Selbstbezeichnung zurückgefordert und neu besetzt. Mit Luisa L’Audace, Aktivistin und Beraterin für Inklusion und Antidiskriminierung, spreche ich über ihr Buch und dessen Entstehung: „Es hat damit angefangen, dass ich 2021 zusammen mit Alina Buschmann die Empowerment-Plattform „Angry Cripples“ von behinderten Menschen für behinderte Menschen aufgebaut habe. „Wir hatten das große Glück, dass der Leykam Verlag auf uns zukam.“ L’Audace erzählt, dass es ihnen nicht nur thematisch um Barrierefreiheit ging, sondern dass sie auch den Prozess des Büchermachens selbst möglichst barrierearm für die Autor*innen gestalten wollten. Das hieß konkret, dass die Teilhhabeanforderungen der Beitragenden im Vordergrund standen, dass sie die größtmögliche Freiheit in der Gestaltung ihres eigenen Beitrages, aber auch, wenn erwünscht, Unterstützung bieten wollten. Bei einigen hieß das etwa, dass sie keinen eigenen Text schreiben, sondern interviewt werden wollten oder dass sie ein anderes Genre, etwa einen poetischen Text oder eine Zeichnung wählten. L’Audace kritisiert die hohen Barrieren in der Literaturbranche, die behinderten Autor*innen den Zugang erschweren oder ganz verwehren: „Bücherschreiben muss anders gedacht werden – nicht alles kann nach einem Schema X laufen.“ Sie hat sich gemeinsam mit Buschmann dazu entschieden, das Lektorat selbst zu übernehmen, um die Beitragenden vor Ableismus zu schützen und eine Veränderung der Texte durch nicht-behinderte Lektor*innen zu vermeiden. Das ist nachvollziehbar in Hinblick auf den Wunsch eines ,Safer Spaces’. Dennoch sollte ein geschützter Prozess doch gerade dann möglich sein, wenn sich ein Verlag für die Herausgabe eines Buches zum Thema Ableismus entscheidet.

Die Aktivistin und Autorin Luisa L’Audace sitzt im Rollstuhl und blickt in die Kamera.

Luisa L ́Audace

Luisa L ́Audace, queere Aktivistin und Beraterin für Inklusion und Antidiskriminierung, hat durch ihre Aufklärungsarbeit, die größtenteils auf Social Media stattfindet, maßgeblich dazu beigetragen, dass sich der Begriff »Ableismus« auch in der deutschen Sprache immer mehr etabliert. Ihr Buch »Behindert und stolz« (Eden Books) erschien 2022.
Foto: Privat

Alina Buschmann

Alina Buschmann, Schauspielerin und Beraterin für Inklusion und Antidiskriminierung, setzt sich online unter dem Namen Dramapproved als Aktivistin für die Rechte von behinderten Menschen ein. Bei ihrer Arbeit als Beraterin legt sie großen Wert darauf, Zusammenhänge innerhalb ableistischer Strukturen aufzuzeigen.
Foto: Privat

Warum ein intersektionaler Blick wichtig ist

In einigen Texten der Anthologie ist die Wut über die Ungleichbehandlung, über fehlende Teilhabe, eingeschränkte Zugänge und Diskriminierung deutlich spürbar, etwa bei der queeren Künstlerin Kübra Sekin, die zudem durch ihre Perspektive einer migrantischen und rassifizierten Person gleich gegen verschiedenen Diskriminierungsformen ankämpft. Sekin führt den Begriff der Intersektionalität auf die Schwarze Juristin Kimberlé Crenshaw zurück, die ihn als Phänomen beschreibt, in dem „mehrere Unterdrückungsmechanismen zusammenwirken beziehungsweise sich gegenseitig verstärken“ – und betont, dass das in allen gesellschaftlichen Schichten, in allen Umfeldern passieren könne. Der strukturelle Ableismus mache weder vor dem universitären Raum, noch etwa vor religiösen Gemeinschaften halt. Sekin, für die lange Zeit der muslimische Glaube ein Zuhause war, erzählt von der „Opferrolle“, die Menschen mit Behinderung hier manchmal innehaben. Sie macht deutlich, wie wichtig der intersektionale Blick in allen Lebensbereichen ist und vor allem in der politischen wie feministischen Arbeit mitgedacht werden muss.

Doch wieviel Wut ist eigentlich nötig und ab wann kann sie auch kontraproduktiv sein, weil das Gegenüber vielleicht abschaltet oder davon überfordert ist? „Oftmals gehört der Wunsch nach Konstruktivität auch schon zum Tone Policing“, meint Luisa L’Audace. Als Aktivistin habe sie die Erfahrung gemacht, dass egal wie höflich oder konstruktiv sie einen Missstand benenne, es immer Menschen gebe, die sie dennoch als zu emotional, zu anstrengend, zu wütend disqualifizieren möchten. Ein Phänomen, dass sicherlich auch viele Feminist*innen, BIPoCs oder trans Personen kennen.

Individuum vs. Struktur

Wie also können behinderte Menschen aufbegehren, laut werden? Die Ideen sind hier so vielfältig wie die Behinderten-Community selbst – Luk Bornhak etwa wünscht sich eine starke Bewegung, die gegen Ableismus auf die Straßen geht und präsent ist. Er kritisiert das Werkstatt-System, das nicht-inklusive Schulsystem und der Besuch der Sonderschule ohne Abschluss, der Menschen mit Behinderung oft keine andere Wahl lasse, als sich dort für einen Hungerlohn ausbeuten zu lassen. Auch die Kulturbranche kritisiert er als wenig inklusiv. Gerade hier sollte sich etwas ändern, denn Kultur könne in der Gesellschaft viel verändern, so Bornhak. Als Tipp für nicht-behinderte Menschen schlägt er vor, Aktivist*innen auf den Sozialen Medien zu folgen, sich von deren Stimmen und Beiträgen leiten zu lassen und gemeinsam laut zu werden.

Welche Fallstricke wiederum in der Idee liegen, dass die Veränderung (nur) Sache des Individuums sei, erzählt Lela Finkbeiner in ihrem Text „Ändert das System, nicht uns!“. Sie geht strukturellen Fragen auf den Grund und bricht sie vor allem auf einen Aspekt runter: Macht. Welche Rolle spielen Machtverhältnisse? Wer profitiert vom Erhalt des derzeitigen Systems? Und auch ganz persönlich: Welche Position nehme ich ein innerhalb der Gesellschaft und welche Privilegien habe ich? Finkbeiner führt hier den Begriff des PLODs an – „(non-disabled) People Living off Disability“, also „(nicht-behinderte) Menschen, die sich an behinderten Menschen bereichern“. Finkbeiner sieht hier etwa Beispiele bei Integrationsfachdiensten, Beratungsstellen oder Wissenschaftler*innen im Themenfeld Behinderung unter dem Aspekt, dass nicht-behinderte Menschen in diesen Bereichen oft keine behinderten Expert*innen mit einbeziehen, unterstützen sowie wertschätzen. Ein zentrales Merkmal von Macht sei deren Tabuisierung, schreibt Finkbeiner. Wie auch Alina Buschmann, Irina Angerer und Senami Viktoria Hotse kritisiert Finkbeiner die ableistische Haltung von nicht-behinderten Menschen, die Behinderung sei mit etwas gutem Willen schon zu „bessern“ oder gar zu „überwinden“. Diese Methode, Menschen ohne Behinderung als „Norm“ zu definieren und behinderte Menschen als defizitär hinzustellen, würde, wie auch das Tone Policing, von der eigentlichen Thematik ablenken. Stattdessen sei es essenziell, sich mit Machtverhältnissen und Ungleichheiten auseinanderzusetzen. Finkbeiner orientiert sich hier an Hanna F. Pitkins Definition von Macht nach der Menschen keine Macht über andere Personen ausüben sollen, sondern das Ziel sein sollte, alle Menschen selbstbestimmt handeln zu lassen.

Prinzip Allyship: einfach mal zuhören

Wir alle nehmen unsere Welt anders wahr, erleben unterschiedliche Barrieren, Einschränkungen, Diskriminierungen. „Nicht jede Person kann Mimiken lesen“, hieß es bei Lehner. Wie kommen wir nun aber zu einem besseren Verständnis und wie können nicht-behinderte Menschen sich mit Menschen mit Behinderungen verbündet zeigen? Es ist das Prinzip Allyship – Verbündetsein – das bislang vor allem im Kontext von Antirassismus in den Medien diskutiert wurde und (leider) oft nur an der Oberfläche kratzt. Was macht einen guten Ally aus? „Oftmals nehme ich Vorbehalte wahr, Aussagen werden leichtfertig getroffen und Privilegien als selbstverständlich angesehen. Ein*e gute*r Ally ist eine Person, die behinderten Menschen viel zuhört, die weiß, dass sie beim Thema Behinderung keine Deutungshoheit hat, sich auch mal zurücknehmen kann und gleichzeitig laut wird gegen Menschen, die sich ableistisch äußern“, sagt L’Audace. Zudem sei es wichtig, Menschen aktiv zu fragen, was sie brauchen, Menschen mit Behinderung eine Bühne zu bieten und sie immer und überall mit einzubeziehen. Diese Idee des Disability Mainstreamings ist nicht neu und scheint dennoch relativ unbekannt zu sein, schreibt auch Aktivistin und Redakteurin Tanja Kollodzieyski in ihrem Text. Sie fordert, dass Menschen mit Behinderung in die Mitte der Gesellschaft rücken müssen und sie damit in allen Lebensbereichen sichtbar seien, denn „behinderte Menschen existieren eben nicht neben dem Mainstream, behinderte Menschen sind der Mainstream.“

"Behinderte Menschen existieren nicht neben dem Mainstream, behinderte Menschen sind der Mainstream."

Ableismus erkennen und Lautwerden

Wie kommen wir als Gesellschaft dorthin? Die meisten Autor*innen und Beitragenden werden neben den schönen Portraitskizzen von Carolin Treml in der Anthologie zusätzlich mit ihren Social-Media-Kanälen vorgestellt. Für Alina Buschmann und L‘Audace sei Social Media ein sehr wichtiger Raum, eine Bühne geworden, um relativ barrierearm über gesellschaftliche Themen und Probleme zu sprechen, so L’Audace. So hat sie vor einigen Wochen, als die Demonstrationen gegen Rechts in ganz Deutschland stattfinden, den Hashtag #OnlineGegenRechts ins Leben gerufen. Menschen mit Behinderungen sähen sich oft mit solchen Barrieren konfrontiert, die die Teilnahme an Veranstaltungen wie Demonstrationen vor Ort erschweren oder unmöglich machen. Die Hürden reichen von langen Laufstrecken über nicht barrierefreie Transportmittel bis hin zur Angst vor großen Menschenmengen. Zudem werde oft vernachlässigt, dass Reden und Informationen nicht in leichter Sprache oder Gebärdensprache verfügbar seien. Viele Menschen könnten aufgrund ihrer gesundheitlichen Situation, wegen Kinderbetreuung oder zu pflegenden Menschen das Haus nicht verlassen. Die Aktion ging viral – tausende beteiligten sich Online mit Posts, Stories und Reels unter diesem Hashtag. „Wenn wir diese Aktion innerhalb von wenigen Tagen starten können – was kann dann noch alles möglich sein“, fragt L’Audace.

„It is not our differences that divide us. It is our inability to recognize, accept, and celebrate those differences.” // „Es sind nicht die Unterschiede, die uns spalten, es ist unsere Unfähigkeit, diese Unterschiede anzuerkennen, zu akzeptieren und zu zelebrieren“, zitiert die Künstlerin Amie Savage die Dichterin Audre Lorde in einer ihrer Illustrationen. „The Beauty of Nature“ heißt der Titel der Serie, die Körper in ihrer Zartheit und Behinderung in ihrer Verschiedenheit zeigt.

Die Heterogenität wird in dieser Anthologie nicht nur anerkannt und zelebriert, sondern aktiv sichtbar gemacht. Eine must-read für alle Menschen, die für eine gleichberechtigte Gesellschaft einstehen und die offen dafür sind, ihre ableistischen Stereotype abzubauen. Oder wie Luisa L‘Audace es formuliert: „Protest wird nicht leise und höflich vorgetragen – sonst ändert sich nichts.“

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