In Potsdam sind fünf Menschen mit Behinderung Opfer einer Tötungsserie in einer sogenannten Behinderteneinrichtung geworden – vier von ihnen starben. Während die Hintergründe der Tat noch untersucht werden müssen, stellt sich Raúl Krauthausen nicht erst seit heute Fragen zu strukturellen Problemen dieser Wohnformen und wie viel Ableismus in ihnen steckt.
Ein Mensch hat in Potsdam fünf Menschen angegriffen und vier davon in ihrem Zuhause, einer Behinderteneinrichtung, getötet. Ich bin darüber unheimlich traurig und entsetzt. Allen Angehörigen, und Freund*innen der Getöteten und Verletzten möchte ich mein aufrichtiges Mitgefühl ausdrücken. Die Gründe dieser Gewalttat liegen noch im Dunkeln, die Polizei ermittelt gegen eine Pflegekraft. Die Frage nach den Strukturen der Umgebung einer solchen Tat drängt sich jedoch schon jetzt auf.
Die Opfer lebten schon seit vielen Jahren in einem Wohnheim für Menschen mit Behinderung. Statt über die Opfer mit Behinderung zu sprechen, lag aber das Augenmerk des Oberbürgermeisters der Stadt Potsdam Mike Schubert in seinem Statement bei der „aufopferungsvollen Pflege“ in dieser Einrichtung, und die Leiterin betonte, dass die Mitarbeiter*innen „außerordentlich engagiert“ seien. Wenn es um die Arbeit mit Menschen mit Behinderung geht, benutzen Menschen ohne Behinderung rasch paternalistische Superlative – als wäre es eine Art „Mission Impossible” und keine Dienstleistung. Es wird fast ausschließlich über sie gesprochen, und nicht mit ihnen. Polizei, Politik, Pflegepersonal, Pfarrer. Dabei hat unser Mitgefühl den Betroffenen, Angehörigen und Nahestehenden nach dieser schrecklichen Tat zu gelten. Gerade den Betroffenen sollten wir zuhören. Da braucht es angesichts dieser Schmerzen keine kraftvollen bis bevormundenden Begriffe und Ausschlüsse von sog. “Expert*innen”. Die Diskussion darum, wie wenig Personal in diesen Einrichtungen arbeitet und wie schlecht die Bezahlung ist, ist vorhersehbar. Beides stimmt und ist beklagenswert, aber nicht zu diesem Zeitpunkt. Als Erklärung für diese Mehrfachtötung wird diese schlechten Rahmenbedingungen niemand angeben wollen, aber: Warum wird im Zusammenhang von Gewalttaten in Pflege- und Wohnheimen immer dieser Punkt erwähnt?
Nach jeder Tat wird versucht ein Motiv zu finden, und auch in diesem Fall werden in den nächsten Tagen sicher Vermutungen angestellt, sofern sich der*die Täter*in nicht äußert. Im Gegensatz zu anderen Fällen wird bei solchen Taten oft die „Überlastung” ins Spiel gebracht. So vermutet ein Polizeipsychologe in der rbb Sendung „Zibb“, dass das Tatmotiv auch „Erlösung von Leiden“ gewesen sein könnte. Damit entsteht eine Täter-Opfer-Umkehr: weil die Bewohner*innen des Heimes wohl zu anstrengend seien, käme es zur Überlastung und damit zu der Tat. Dass diese Argumentation bemüht werden wird, ist meine größte Sorge. Denn dies ist gefährlicher, und in diesem Fall tödlicher Ableismus: Die Diskriminierung und Abwertung behinderter Menschen.
Von Einzelfällen in einer Struktur
Noch einmal: Natürlich handelt es sich bei der gestrigen Potsdamer Gewalttat um eine sogenannte Einzeltat und Spekulationen sind deplatziert, auch über die psychische Gesundheit der Tatverdächtigen, die sich inzwischen in einer Spezialklinik befindet. Aber immer wieder gibt es in Pflege- und Wohnheimen für Menschen mit Behinderung Fälle von Gewalt, Missbrauch, Diskriminierung und Beleidigung. Dabei geht es nicht um Einzelfälle, es geht um eine diskriminierende Struktur, die in diesem Fall sogar viermal tödlich war. Kommen solche Fälle ans Tageslicht, ist dann stets von „Einzelfällen“ die Rede. Diese aber fügen sich zusammen zu einer Struktur. Denn diese Heime sind “totale Institutionen”. In ihnen werden aus Sicht der Öffentlichkeit behinderte Menschen leicht und effektiv versorgt, aber diese Systeme sind anfälliger für Gewalt. Menschen mit Behinderung bekommen oft von Geburt an kaum eine Option, aus diesem System herauszukommen: Vom Internat zur Förderschule, dann Wechsel in ein anderes Wohnheim und von dort zur Werkstatt; später dann ins Altenheim, nicht selten finden sich all diese Adressen auf einem einzigen Gelände, wie auch beim Oberlinhaus, wieder. Und selten gelangen Informationen über Missstände von drinnen nach draußen an die Öffentlichkeit.
Strukturelle Exklusion
Es handelt sich also um Sonderwelten, um Parallelgesellschaften. Sie trennen. Sie schaffen angesichts mangelnder Selbstbestimmung und fast totaler Abhängigkeit ein Klima, in dem Gewalt leichter entstehen kann als anderswo. Ob diese „Einrichtungen“ immer das Richtige für Menschen sind, die dort nur landen, weil sie mit einer Behinderung leben, dahinter muss ein riesiges Fragezeichen gesetzt werden. Nur um eine Zahl zu nennen: Laut einer Studie der Universität Bielefeld aus dem Jahr 2012 wurden mindestens sechs Prozent aller behinderten Frauen, die in Heimen und Werkstätten „untergebracht“ wurden, sexuell missbraucht. Und erst im Januar dieses Jahres wurde bekannt, dass gegen 145 Beschäftigte einer Behinderteneinrichtung in Bad Oeynhausen wegen Verdachts auf Freiheitsberaubung und in einigen Fällen auf Körperverletzung ermittelt wird. 145 ist eine Zahl, die mit der Beschreibung „Einzelfall“ nicht mehr zu erklären ist. Da hilft es übrigens nicht, wenn Medien die Opfer solcher Angriffe als “besonders Schutzlose” oder als “Schwächste” beschreiben – damit wird Menschen mit Behinderung ihr so genannter Opferstatus noch einmal obendrauf serviert. Statt einer Spaltung in IHR und WIR fehlt es an einer realistischen Bestandsaufnahme ohne verklärenden Blick dem zur Verfügung stellen präventiver (inklusiver?) Strukturen.
Was das alles mit dem Ereignis von Potsdam zu tun hat? Solche Einrichtungen bergen strukturell gesehen ein Potenzial für Ungutes. Daher müssen wir uns mehr Gedanken darüber machen, wie es für Menschen mit Behinderung andere Perspektiven geben kann. Wie Ableismus besser bekämpft werden kann. Und wie wir es schaffen, in Tagen wie diesen den Fokus auf die Opfer zu richten.
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20 Antworten
Hallo Raúl, danke für deinen Beitrag. Ich stimme dir zu und finde, man kann schon schauen, warum die Pflege oder Arbeit so „aufopferungsvoll“ geleistet werden muss. Nicht, weil die Menschen mit Behinderungen so unerträglich anstregend sind, sondern weil der Pflegeschlüssel nicht stimmt. Wenn es weniger um den Gewinn und Verdienst in der Behindertenhilfe geht und dafür mehr Personen gleichzeitig im Dienst sind, dann muss man sich nicht aufopfern, sondern könnte einer befriedigenden Arbeit nachgehen. Arbeitgeber sollten sich schämen, wenn die Mitarbeiter*innen sich aufopfern statt damit auch noch anzugeben.
Emotionale Grüße
Katja
Erstmal danke für den Artikel Raúl Krauthausen. Und dann noch danke für diesen Kommentar. Stimme dem sehr zu.
In allen Punkten meine Zustimmung, Danke an Raul
ich sehe nun auch die Notwendigkeit, den Artikel 8 der UN-Behindertenrechtskonvention verstärkt anzuwenden. Dieser verpflichtet die Vertragsstaaten zu sofortigen, wirksamen und geeigneten Maßnahmen der Bewusstseinsbildung. Ziel ist es, in der Gesellschaft das Bewusstsein für Menschen mit Behinderungen zu schärfen und die Achtung ihrer Rechte und ihrer Würde zu fördern. Die Maßnahmen sollen dazu beitragen, dass Klischees, Vorurteile und schädliche Praktiken gegenüber Menschen mit Behinderungen, auch aufgrund des Geschlechts oder des Alters, in allen Lebensbereichen bekämpft werden und dass das Bewusstsein für die Fähigkeiten und den Beitrag von Menschen mit Behinderungen gefördert wird.
Der Pflegeberuf zieht auch manche – zum Glück wenige – Menschen an, die die Abhängigkeit der zu Pflegenden nutzen und ausnutzen. Menschen mit z. B. Persönlichkeitsstörungen, die sich gegen ihre Mitmenschen richten, in der Form von subtil über manipulativ bis aggressiv. Als jemand, der Pflegeleistungen bezieht, habe ich das an mir selbst erlebt (und das Pflegeverhältnis beendet). Von Pflegebetrieben wünsche ich mir, dass sie solche Menschen erkennen und nicht beschäftigen.
GOLDRICHTIG!
Das Problem ist nur, wie man solche Personen zuverlässig erkennen und solches Verhalten ahnden soll. Denn manipulatives Verhalten fängt bekanntlich tief im legalen Bereich an, ist meist für Beobachtende extrm schwer – wenn überhaupt – zu erkennen und als Tatbestand oftmals kaum bis nicht fassbar weil es genau dann geschieht wenn niemand hinschaut und nicht unbedingt von außen sichtbare Spuren hinterlassen muss. Außerdem manipulieren solche TÄTER, denn darum handelt es sich hier, oftmals ihr gesamtes Umfeld sodass ihre subtilen Teufeleien nochmal schwerer zu erkennen sind.
Haben sie Ideen, was man wirksames gegen solche Zustände unternehmen könnte?
Liebe Katrin, lieber Raúl, auch ich möchte, daß meine Tochter in Ihrer Wohngruppe von Menschen betreut wird, die sich dort wohl fühlen und sich auf ihre Arbeit freuen. Da es aber, wie woanders auch, Konflikte geben kann, muss eine Kultur wachsen, in der es möglich ist, offen anzusprechen, wenn man sich gestresst fühlt, um dann Lösungen zu finden. Ich finde, es bringt auch nichts, zu verschleiern, dass das Zusammensein mit einem Menschen der besonders starke Zuwendung braucht, die Angehörigen oder Betreuer zeitweilig an ihre Grenzen bringt. Man schämt sich aber, das einzugestehen und verstellt sich damit den Weg aus der Schieflage. Wir sind doch letztlich alle hilfsbedürftig. Uns sogenannten “Nichtbehinderten” sieht man es nur nicht gleich an. Das ist es, was wir lernen sollten, dass wir uns den Hochmut nicht leisten können, nicht um Hilfe zu bitten.
Guten Abend, besten Dank Raul Krauthausen, jetzt verstehe ich das Anliegen und stimme zu.
Eine realistische Bestandsaufnahme, die müsste her, außerdem wäre es auch wichtig, Sie sprechen es an, das jeder Mensch sich an verschiedenen Einrichtungen im Leben, die selbst ausgesucht werden können, erproben dürfen müsste. Es ist doch schlecht, wenn ich vom Kleinkindalter bis ins höhere Alter immer nur vor der gleichen Gruppe von Menschen auftrete, die mich einschätzen und beurteilen sollen. Gerade der Punkt war mir auch für mich selbst immer ganz wichtig. Wenn ich unsicher war und dachte, vielleicht war meine ganze Laufbahn ein einziger Irrtum, dann sagte ich mir: Mich haben so viele verschiedene Leute völlig unabhängig voneinander beurteilt – ganz falsch kann es nicht gewesen sein. Die Chance haben aber Menschen nicht, die ihre letzte Adresse gleich am Anfang ihres Lebens finden.
Wenn man mit einer Behinderung lebt, und dies öffentlich ist, weil man es sehen kann, oder bemerken kann, muss man damit rechnen, sich einiges leisten zu können, aber nicht ernst genommen zu werden-das ist schwer zu bearbeiten, auch mit Strukturen schwer zu wandeln, ich denke, das geht nur, wenn eben alle Menschen, egal was mit ihnen ist oder nicht ist, von Anfang an zusammen leben in den Bildungs- und Kultureinrichtungen und auch in den Wohnhäusern, ich meine mit Zusammen nicht unbedingt eine WG, sondern die Idee, das es für Menschen mit Behinderungen barrierefreie Häuser geben muss, in die aber jeder hinein kann.
Ich wüsste auch gerne einmal, was diese Zuschreibungen “schwer behindert” “schwerst behindert” letztlich bedeuten, ich hätte gerne Stimmen der Menschen selbst.
Besten Dank Raul Krauthausen, einen schönen Freitagabend.
Unglaublich guter Beitrag!! Sehr gut erklärt und formuliert (vor allem für Laien wie mich auf diesem Gebiet).
LG Saskia
Ich stimme dem Artikel zu und würde noch ergänzen, dass dies bekannterweise auch in Altenheimen vorkommt und zumindest früher in Kinderheimen und psychatrischen Einrichtungen verbreitet war.
Die Kombination aus wehrlosen Opfern, Autoritärer Macht, “Guten/Sozialen” Ruf des Berufes und Personal- bzw. Zeugenmangel scheint einen bestimmten Schlag von Menschen anzulocken oder hervorzubringen.
Dieses “Erlösen von Leiden” ist mMn ein Ausdruck von Narzißmus. Ich verstehe auch nicht, wieso man das positiv bewertet.
Danke für die klaren Worte! Mir ist bei der Berichterstattung auch irgendwie gleich unangenehm gewesen, als ein Politiker das als Tragödie für seine Stadt und die Einrichtung bezeichnet hat. Es ist erst einmal eine Katastrophe für die Getöteten und Verletzten.
Ob die Stadt oder Einrichtung nun irgendwie in schlechtem Licht dasteht, ist egal. Es ist eine Katastrophe für Behinderte.
Und eben nicht einmalig, sondern strukturell.
Warum aber soll man nicht über die strukturellen Ursachen schreiben?
Immer wieder wird von Gewalt in der Pflege berichtet, nicht nur in Heimen, auch bei Pflege zu Hause durch Angehörige. Typische Beispiele sind Pflegende, die auch mal ihre Ruhe haben wollen und Pflegebedürftige, die den ganzen Tag alleine sind und im Gegenteil Unterhaltung brauchen. Und dann ist der Pflegende, der vielleicht noch einen Beruf oder Kinder zu versorgen hat, irgendwann am Ende seiner Kraft und schreit den Pflegebedürftigen an, wenn der Durchfall hat und der Pflegende mitten in der Nacht Bettwäsche wechseln und den Pflegebedürftigen waschen muss.
In Heimen spricht man oft von “Rennpflege”. Ein Pfleger nachts für 50 Bewohner. Jedes Zimmer muss zwei oder dreimal eingesehen werden, viele, vor allem Menschen mit Demenz sind nachts wach und klingeln, einige verirren sich im Gebäude und müssen zurück aufs Zimmer gebracht werden, einige brauchen Bettpfannen oder Hilfe beim Toilettengang, einer übergibt sich vielleicht und dann mag es noch den einen oder anderen Notfall geben, in dem jede Minute zählt. Und der Pflegende hat mal mit dem Beruf angefangen, weil er gern helfen wollte, weil er menschlich sein wollte, weil er vielleicht selbst in seiner Familie schon Pflegebedürftige mitbetreut hat und meinte, für diese Arbeit zu taugen.
Was auch möglicherweise stimmt, aber halt nicht, wenn nie Zeit genug ist, wenn man von Zimmer zu Zimmer hetzen muss, wenn keine Gespräche möglich sind, wenn man Arbeiten, die eigentlich Einfühlungsvermögen erfordern wie Waschen oder Hilfe beim Toilettengang oder Säubern nach Erbrechen im Eiltempo machen muss, weil noch 10 andere Bewohner oder Patienten klingeln und gar nicht weiß, ob einer davon gerade einen Erstickungsanfall hat und sofort Hilfe braucht.
Natürlich will keiner Gewalt entschuldigen und natürlich ist auch keinesfalls eine “Schuld” bei Bewohnern oder Patienten zu suchen!!!
Aber man kann auch nachvollziehen – nicht entschuldigen, nur nachvollziehen – wenn man in so einer Situation ist, einer hatte Durchfall, einer hat erbrochen, einer ist aus dem Bett gefallen und braucht jetzt einen Notarzt. einer ist überzuckert und kurz vorm diabetischen Koma, weil er das letzte Pralinenpräsent geplündert hat – und einer klingelt wiederholt, weil ihm langweilig ist, er nicht schlafen kann, er irgendetwas möchte, das er selbst machen könnte, aber klingelt, weil er halt Unterhaltung braucht – dass man dann eventuell wütend wird. Oder wenn man dann ins Zimmer eines Menschen mit Demenz geht, der abgeführt hat, sein ganzes Bett besudelt und einen jetzt mit Kot bewirft. Im Idealfall ist man auf diese Situation eingestellt, kann ruhig reagieren, kann sich hinter kurz waschen und umziehen, kann professionell reagieren.
Aber im Realfall scheint es in einigen Heimen auch unter Mitarbeitern eine regelrechte Mobbingstruktur zu geben, so dass man im Team keinen Rückhalt hat und dann noch überarbeitet ist, weil ma Personal gespart wird und dann noch mies gelaunte Bewohner hat, weil auch an anderen Stellen – Einrichtung, Essen, Beschäftigung/ Förderung – gespart wird und irgendwann einfach überfordert ist. Dazu kommen Heime, in denen der Dienstplan wöchentlich ohne Absprache vorgesetzt wird, so dass man außerhalb seines Urlaubs – den man nicht immer zur gewünschten Zeit bewilligt bekommt – gar nichts planen kann. Was eventuell den Stress noch erhöht.
Jeder normale Mensch würde zustimmten, dass KEINER, besonders nicht Menschen in besonders abhängigen Situationen, Gewalt in irgendeiner Form verdient hat. Und dass es schon Gewalt ist, wenn man auf Toilette muss, klingelt und 30 min lang keiner kommt. Dass es natürlich auch entwürdigend ist, wenn man dann nicht mehr einhalten kann und in seine Kleidung oder ins Bett macht.
Aber trotzdem sollte auch diskutiert werden, WARUM das passiert, oft nicht, weil Pfleger faul sind, Kaffeetrinken wollen, dem Bewohner mal zeigen wollen, wo der Hammer hängt, sondern weil sie schlicht nicht genug Zeit haben und eben parallel noch 5 andere Bewohner klingeln, von denen 3 auch dringende Anliegen haben. Wenn man dann alleine oder zu zweit ist, und alle 6 dringend auf Toilette müssen oder ein oder zwei vielleicht wirklich schwerwiegendere Anliegen (medizinische Notfälle) haben, dann reicht leider oft die Zeit nicht, jedem rechtzeitig, ruhig und professionell gerecht zu werden.
Und mit Recht ist Herr Meier sauer, wenn der 30 min auf den Toilettengang warten musste, wenn er in der Zeit vielleicht überlegt, ob man ihn absichtlich warten lässt, ob er jemanden beleidigt hat, der sich jetzt “rächt” oder ob er einfach nicht so wichtig ist oder ob man das Klingeln vielleicht gar nicht hört. Aber mit Recht hat der Pfleger auch keine Schuld, wenn er allein (nachts) auf Station oder im Wohnbereich ist oder zu zweit und beide halt nicht 5 Klingeln auf einmal abarbeiten müssen und es bei einem vielleicht berechtigterweise deutlich länger dauert.
Statt nun zu verlangen, dass die Pfleger bitte nicht meckern und professionell ihre Arbeit machen, sollte man doch überlegen, was man tun kann, um den Pflegern die Arbeit so zu erleichtern, dass sie sie problemlos professionell erledigen können. Dann werden sie auch mehr Freude haben und entspannter und motivierter mit den Bewohnern/ Patienten umgehen können.
Es sollte zu denken geben, dass oft Pfleger nicht nach mehr Gehalt, sondern mehr Kollegen fragen.
Und dass in Reportagen oder Foren sehr viele Pfleger sagen, dass sie den Beruf an sich lieben, aber nach 10 Jahren aus der Pflege aussteigen wollen, weil sie die Verantwortung, Menschen nur im oder unter dem absoluten Minimum zu pflegen und für Kommunikation etc. gar keine Zeit mehr zu haben – was bedenklich ist, wenn jemand z.B. bettlägerig ist und keine Verwandten/ Freunde mehr hat, also völlig allein und auf ein paar Gespräche am Tag angewiesen ist – obwohl sie den Beruf einmal mit Herzblut und besten Absichten angefangen haben.
JEDER Beruf dürfte Menschen irgendwann aufreiben und “dünnhäutiger” mache, wenn sie ständig über der möglichen Arbeitsbelastung arbeiten müssen. Wenn man einem Kassierer vorschreiben würde, dass er einen Kunden pro Minute abzufertigen habe und Überstunden machen müsse, wenn das nicht möglich sei. Wenn man einem Erzieher 200 Kinder in eine Gruppe stecken würde, die er in einem Raum bitte adäquat zu fördern habe. Wenn ein Kellner 20 Tische pro halbe Stunde zu bedienen habe, aber bitte entspannt und freundlich. Irgendwann würden von diesen Menschen einige anfangen, die unschuldigen Kunden oder Kinder kurz abzufertigen oder anzuschreien, weil sie sich so viel Mühe geben und trotzdem nur hören und sehen, dass sie versagen, dass sie es nicht schaffen. Da kann dann eine kleine und berechtigte Bitte oder Frage als persönliche Beleidigung angesehen werden und man wird – unprofessionell.
Das Ganze wird mMn befeuert, wenn unterstellt wird, dass es keinen Fehler im System gäbe, dass Pfleger bitte immer professionell und freundlich zu sein haben und wenn sie es nicht schaffen, “schlechte Menschen” sind.
Entspannen könnte man es, wenn man nach sowohl strukturellen als auch persönlichen Ursachen suchen würde. Möglich, dass in diesen Berufen auch völlig ungeeignete Menschen arbeiten, denen Empathie und Geduld fehlt. Keiner wird gezwungen, jemanden zu töten oder gewalttätig zu werden. Natürlich ist diese Tat zu verurteilen!
Aber man sollte schon fragen, wie man Gewalt durch Verbesserungen der Arbeitsbedingungen auf Lehrniveau reduzieren könnte. Also Menschen so arbeiten lassen, wie sie es gelernt haben, nicht wie am Fließband.
Wenige Menschen bis auf Pfleger müssen z.B. 8 Stunden arbeiten, dann eine Stunde nach Hause fahren, 3 bis 4 Stunden schlafen und dann wieder zur nächsten Schicht fahren und das vielleicht mehrere Tage hintereinander.
Es wäre mal interessant zu erfahren, wie viele Menschen (die nicht in Pflegeberufen arbeiten) unter diesen Bedingungen auch am 5. Tag noch freundlich, entspannt und professionell sind.
Und dann sollte man NICHT sagen, aha, wir wissen jetzt, woher die potenzielle Gewaltbereitschaft kommt, sorry, Bewohner, ihr müsst Verständnis haben und das jetzt einfach ertragen, SONDERN überlegen, wie man die Rahmenbedingungen ändern kann, um die Situation für ALLE zu verbessern!
Ich denke das Problem ist, dass es Unternehmen sind und diese Gewinn erwirtschaften müssen. Also wo spart man beim Personal Hauptsache billig ,wenig daran kann man sehen was der Mensch wert ist
WOW! Genau so sieht es aus!
Danke vielmals für diesen wichtigen Artikel!
Bevor über Arbeitsbedingungen in Pflege etc. gesprochen wird, ist es erstmal wichtig die Betroffenen anzuhören und das strukturelle Problem der Marginalisierung von Menschen mit Behinderung anzuerkennen. Ihr Schutz und ihre Teilhabe ist schließlich in erster Linie das, was gefährdet ist und was in der Einrichtung verletzt wurde. Es ist einfach notwendig, das als Ausgangspunkt für weitere Debatten/Konsequenzen zu nehmen. Es geht nicht um Meinung, sondern um Grundrechte.
Es gibt sehr viele Menschen, die für pflegende Berufe keine Berufung haben. Wenn man in sozialen Berufen arbeitet, muss man entsprechendes Herz mitbringen.
Mir ist schleierhaft und unverständlich, wie man diese Tat, über deren Umstände niemand aus der Allgemeinheit irgendetwas Genaues und Valides weiss, zum Mittel einer nicht neuen, wenn auch dringlichen Kritik an möglichen und gegebenen Symptomen struktureller Gewalt in Pflege-Heimen (& anderen Institutionen) machen kann. Diese Tat ist, gerade weil die Täter*in bereits bei der Festnahme als schuldunfähig diagnostiziert wurde, bis zum Beweis des Gegenteils und bis sich erklärende Hinweise nachweisen lassen, kein Mittel zum Zweck struktureller, hier in diesem Kommentar auch auffallend verallgemeinernder, sehr starke Assoziationen herstellende, Kritik. Zumal einer Kritik an strukturellen Bedingungen für oftmals dann strafrechtlich relevante Gewalt an pflegebedürftigen Menschen in Heimen oder ausserhalb.
Ich halte diese Art eines sich in solche Geschehnisse mit solchem Nachdruck einhängenden kritischen Aktivismus für grundsätzlich verfehlt. Die brutale Tötung von 4 Menschen als Mittel zum Zweck einer breiten, stark verallgemeinernden und verdichteten Kritik zu nehmen, wirft ein fragwürdiges Licht auf den Stand dieser Kritik selbst, nämlich die Frage auf, wie und woher sie die Bedeutung, die Stärke und Plausibilität ihrer Argumentation bezieht. Diese Kritik ist nicht nur fragwürdig, weil sie in einer zeitlichen Nähe zur Gewalttat aufschiesst, die keinen Raum für Trauer und Stille lässt (& die eingangs geäusserten Mitleidsbekundungen im Nachhinein wirklich floskelhaft erscheinen lässt), sondern zugleich mit einer Vehemenz, die sich durch den gegebenen & notwediigen Bezug auf diese brutale Tat stärkt und die nicht neue, aber weiterhin sozialpolitisch dringliche Kritik an institutionellen Gewalt-& Machtmissbrauchsräumen in der Pflege (in Heimen) mit dem Phantasma einer ja vielleicht doch möglichen, ganz direkten ursächlichen Verbindung von Pflege-Heim, Lebensweise der brutal Getöteten Menschen, Täterin und Tat verknüpft, die zum Beweis der Argumente und Beschreibungen dient und dienen s o l l. Bedeutungsstiftung, Beispielhaftigkeit und Argumentation klaffen auseinander: Hier konkret die derzeit jede*m völlig unerklärliche mörderische Tat, dort die sich assoziativ daran und daraus herleitenden kritischen Anmerkungen verallgemeinernder, fast programmatoscher Art. Das ist näher an den Rhetoriken des Boulevard, als es dem Verfasser lieb sein sollte, der dieses Dilemma oder Paradox ja selbst benennt. Ich frage mich und finde, es ist nachdrücklich zu hinterfragen, warum gerade diese extreme und extrem unzugängliche mörderische Tat für einen an sich treffenden Rundumschlag und Aufruf zur Aufklärung und Wachheit über Diskriminierung, Selbstbestimmung und Räume der Gewalt in der Pflege her halten muss(te). –
In einer Kultur, in der kriminelle, tödliche oder mörderische Motive in allen Sparten der “Kunst” bis zum Überdruss herhalten, um soziale, politische, psychologische Themen sinnvoll, sinnhaft und sinnstiftend erscheinen zu lassen, wäre etwas mehr Abwägung und Reflexion über die Bedingungen und Möglichkeiten allgemeiner, sozialpolitischer und menschenrechtlicher Kritik dringend geboten. Dass es das so gibt, dass es das braucht und dass es so gebraucht wird, zeigt im Grunde, wie entpolitisiert in dieser Hinsicht der Zeitgeist und die Gesellschaft ist.
Statt Demonstrationen und durch breite Bürgerbündnisse gebildeter Solidarität auf der Strasse oder in Parteien und unbedingt von Vielen der Gesellschaft geforderter und umgesetzter Transformation der bestehenden unwürdigen und ungeRechten Verhältnisse, kulturalistische, ja angesichts der Rhetorik dieses Komnentars mit seinen implizit hergestellten Sinnverbindungen literaterarisch zu nennende Programm- Kritik. Sie liest sich gut, aber sie verbleibt zum Wohle und dem Lustprinzip aller, der Zustimmenden, aber auch gerade der*jenigen, die sich um echte Teilhabe (noch) nicht kümmern, im satten Überbau einer durch solchen- und besonders in diesem Fall sehr sensationssatten – Kulturalismus schön lesbar eingehegten, ent-politisierten Dringlichkeit.
Ich habe selbst miterlebt, was in den Einrichtungen für Menschen mit Behinderung bis in die 80er Jahre los war. Durch das Engagement kritischer Kollegen/innen, Profs, Betroffene usw. konnten u.a. durch Konzepte wie ambulant vor stationär einige Verbesserungen der Lebensqualität erreicht werden. Dieses Konzept dient heute allerdings dem Leistungsabbau innerhalb der Sozialsysteme. Das neue BTHG versucht durch allerlei Tricks die Rolle rückwärts.
Gewaltausübung gegenüber Betreuten nimmt wieder deutlich zu … so wie auch die prekären Lebensbedingungen deutlich wachsen.
Die Massenmörder von damals organisierten die Euthanasie an den Schreibtischen, in den Anstalten und den T4 Transporten, spürten bis auf wenige Ausnahmen nach den Kriegsjahren keine Konsequenzen. Aus ihnen wurden wieder ganz normale Bürger, Kanzler, Ministerpäsidenten, Klinikleiter, Pädagogen oder etwa Juristen.
Die Saat über die Enkel und die jahrzehntelange Verdummung durch die politischen Parteien, Kirchen usw. geht jetzt im Zeitalter der Digitalisierung auf: die alte Frage des Faschismus lautet nun wieder: wohin mit den Überflüssigen und Leistungsschwächeren? Beispielgebende Misshandlungen und Morde könnten ggf. richtungsweisende Funktion einnehmen.
Guten Morgen Raul Krauthausen,
besten Dank noch einmal für den Beitrag und das Forum. Noch mehr Tote, jetzt durch Überschwemmungen in NRW und Rheinland-Pfalz. Die Fotos zeigen Häuser, ich kenne sie aus Besuchen in Hagen, Mühlheim Ruhr am Ortsausgang Richtung Duisburg, in Brandenburg, in Berlin – da, wo die großen Städte nicht sind bzw. ihren Rand haben. Wo kommen all die Toten her? Wie ist das zu erklären? In meinem Herkunftsdorf kenne ich ein altes Bäckereigebäude, früher “Münstermann”, heute leben dort eher viele, als wenige, Schichtarbeiter der fleischverarbeitenden Industrie. Die “Hauptstr.” des Dorfes ist zur “Landstraße” geworden über die Jahrzehnte, sie war mal “Prachtmeile”, ist heute vernachlässigt, aus Unternehmenssitzen früherer Tage wurden schlechte Behausungen für temporär beschäftigte Arbeitnehmer – diese Entwicklung gab es an sehr vielen Orten in der Bundesrepublik Deutschland. Das US-Konsulat in Frankfurt am Main berichtete, die großen Städte habe es nicht getroffen. In den kleineren, unsanierten Städten leben die, die aus den großen sanierten Städten verdrängt wurden, bzw. es nie in die großen Städte geschafft haben.
Gentrifizierung ist lebensgefährlich!