Ableismus in der Familie – ein unscheinbarer Gast

Eine Familie, bestehen aus Vater, Mutter Sohn und Tochter laufen Hand in Hand über den Bürgersteig. Die Tochter hat eine Behinderung.
Ein starker Zusammenhalt in der Familie ist wichtig. Oft erleben Kinder mit Behinderung aber hier ihre ersten Diskriminierungserfahrungen. Foto: Andi Weiland | Gesellschaftsbilder.de
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Was ist, wenn die ersten diskriminierenden Erfahrungen, die Menschen mit Behinderung erleben, zu Hause anfangen? Durch respektlose Sätze, abwertendes Verhalten oder Einschränkung der Autonomie, was zu einer Abhängigkeit zwischen Eltern und Kind führt. Bárbara Zimmermann gibt als Mutter einer Tochter mit Behinderung selbstkritische Antworten auf oftmals ungestellte Fragen.

Ich bin Mutter von drei Kindern, zwei ohne und eines mit Behinderung. Hier schreibe ich über mich. Über meine eigenen Herausforderungen in der Beziehung zu meiner behinderten Tochter. Aber auch über ein verbreitetes Phänomen.

Der Begriff Ableismus, der aus dem englischen Wort „able“ (= fähig sein) stammt, bezieht sich auf Situationen, wo Menschen mit Behinderung auf Grund von körperlichen, psychischen Merkmalen diskriminiert oder abgewertet werden.

Ich habe dreiunddreißig Jahre meines Lebens in einer Blase gelebt. Bis zur Geburt meines dritten Kindes hatte ich keine emotionale Bindung zu irgendeinem Menschen mit Behinderung. Meine Vorstellung davon, Kinder zu bekommen, war die von „perfekten Babys“, die fünf Finger an jeder Hand haben, irgendwann krabbeln und laufen können, die sprechen, hören und sehen und als Erwachsene selbstständig aus dem Haus ziehen. Diese Bezugsbilder sind in vielen Aspekten anders als die vielfältigen Realitäten von behinderten Menschen und deren Familien. 

Gerade diese illusorische Blase der Normalität ist eine grundlegende Ursache für Ableismus, der sich in meiner Haltung, meinen Gedanken, Gefühlen und Handeln oft unbewusst äußert, dessen subtile Formen mir in einem langen Prozess immer bewusster werden.

Die Löwenmama

Ich liebe mein Kind! Diese Liebe geht weit über unsere Zweierbeziehung hinaus und gibt mir die Kraft, mich aktiv für eine antidiskriminierende Gesellschaft einzusetzen. Heißt dies dann, dass ich vor Vorurteilen automatisch geschützt bin und keine ableistischen Gedanken, Sätze und Haltungen meinem Kind gegenüber habe? Ist die Mutterliebe bei uns „special moms“ ein Schutz dagegen? Schön wäre es. Aber leider ist das nicht so einfach.

Wenn es um Mutterschaft geht, leben in uns Bilder und Referenzen von bedingungsloser Liebe, von Zärtlichkeit und von Müttern, die alles für ihre Kinder machen. Und gerade mit Blick auf Mütter von behinderten Kindern sind diese Vorstellungen in zweierlei Hinsicht noch stärker zu erkennen: entweder wird angenommen, dass wir eine unendliche Kraft haben und nur für unsere Kinder leben. Oder dass wir, im Gegenteil, keine Lebensfreude mehr haben, da die Belastung durch die vielen Aufgaben, die wegen der Behinderung des Kindes zu organisieren sind, sehr groß ist. Der Aufwand ist de facto meist groß, aber Glück hat nichts mit Behinderung zu tun. Diese fast zu Heiligen stilisierten Mütter sind sehr weit entfernt von echten Menschen, die komplexe Wesen und ganz unterschiedlich sind.

Gleichzeitig ist es ein großes Tabu, über „die Mutter“ zu reden. Wenn wir uns als Mütter trotzdem trauen, kann es gut sein, dass in uns Gefühle von Schuld und Undankbarkeit aufkommen. Es fühlt sich oft sehr unangenehm an, darüber zu reden. Aber hier geht es nicht darum, mit dem Finger auf jemanden zu zeigen. Sondern um eine ehrliche Einladung an uns Eltern. Ohne Schuld, sondern mit Verantwortung für das Erkennen von solchen Mustern in der Beziehung mit unseren Kindern.

Wie lässt sich Ableismus in der Eltern-Kind-Dynamik erkennen? 

Einige Beispiele:

Manchmal kommt es zu einem überdimensionierten Beschützen des Kindes, entweder weil die Gesellschaft einem inklusiven Leben einige Stolpersteine in den Weg legt oder weil das Kind etwas Bestimmtes nicht selbstständig machen kann. Liegen die Beschränkungen in der Gesellschaft, sind die Eltern durch viele frustrierende Erfahrungen sehr müde, bei denen sie gesehen haben, dass das Kind – sei es in der Schule, in Freizeitangeboten oder allgemein in der Gesellschaft – nicht angenommen und akzeptiert wird. Diese Müdigkeit oder Verärgerung, die natürlich sehr verständlich ist!, kann dazu führen, dass sie das Kind noch mehr vom sozialen Leben fernhalten. Stößt das Kind selbst an Grenzen, trauen die Eltern ihm viele Erfahrungen nicht zu: Sei es, ohne ihre Begleitung für zwei Stunden bei der Tante zu sein, alleine mit Freunden ins Kino zu gehen, Partys bis 3 Uhr nachts zu feiern oder aus dem Elternhaus auszuziehen.

Andere Eltern versuchen, die Behinderung zu kaschieren. Eine taube Freundin hörte oft von ihrer Mutter, wenn sie unter anderen Menschen waren: „Musst du deine Haare so frisieren? Dein Hörgerät ist dadurch sichtbar.“

Verbreitet ist teilweise auch, das Kind als einen besonderen Menschen zu sehen, der ‚special needs‘ hat. Menschen mit Behinderung werden heute noch als Menschen mit besonderen Bedürfnissen gesehen. Um über das Thema aufzuklären, hat die Organisation Coor Down eine Online-Kampagne gestartet. „Es wären besondere Bedürfnisse, wenn Menschen mit Down Syndrom Dino-Eier essen müssen würden. (…) Wir brauchen Bildung, Arbeit, Möglichkeiten, Freunde und etwas Liebe. So wie alle anderen. Sind das besondere Bedürfnisse? #notspecialneeds, #justhumanneeds“. 

Manchmal passiert es, dass mit Arzt*innen und Therapeut*innen vor dem Kind über den Körper des Kindes gesprochen und entschieden wird. Das Kind ist dadurch bloß ein passiver Patient.

„Ich mache das schnell für dich.“ Das kann ein typischer Satz oder Gedanke von Eltern sein, wenn das Kind nicht so schnell ist wie sie selbst. Wofür ich eine Minute brauche, braucht mein Kind eventuell zehn. Aber es ist extrem wichtig, dass das Kind durch seine Frustration geht – und auch ich durch meine Ungeduld – und seine eigene Art und Weise entwickelt, die Tätigkeiten zu meistern. Die Helikoptereltern überschreiten hier eine wichtige Linie.

Aufgefallen ist mir auch eine unbewusste und ungesunde Symbiose zwischen Eltern und Kind, bei der die Eltern den Erfolg des Kindes für sich beanspruchen, ganz nach dem Motto „Ohne uns/mich wärst du nicht so weit gekommen“.

Eine kindliche Haltung in der Kommunikation, selbst wenn das Kind nicht mehr klein ist. Eine unachtsame, respektlose Behandlung des Körpers des Kindes bei der täglichen Pflege sind weitere Verhaltensweisen, die man beobachten kann. Wollen wir unser Kind als unmündig erklären oder es wie eine leblose Puppe behandeln?

Ein heikles, aber wichtiges Thema

Den richtigen Ton bei diesem Thema zu finden ist nicht leicht. Meine Intention ist nicht, mit dem Finger auf andere Mütter oder Väter zu zeigen. Wir stehen zusammen vor den ähnlichen Aufgaben und Herausforderungen. Ich will auch nicht behaupten, dass dieser Weg einfach ist. Damit würde ich meine eigene Realität leugnen.

Plötzlich gab es diesen Moment in der Schwangerschaft, wo ich bei meiner Ärztin war, um eigentlich zu hören, dass wir weiter eine Hausgeburt planen können. Aber mit der Diagnose des offenen Rückens bei meinem Baby war dies nicht mehr möglich. Ab diesem Moment wurde vieles anders. Ich musste anfangen, mehr über die Funktionen und Zusammenhänge von Gehirn, Wirbelsäule, Füßen, Nieren, der Blase und die Konsequenzen bei einer Fehlbildung verstehen, um Entscheidung für das Wohl meines Kindes zu treffen. Heute muss ich für Inklusion und mehr Respekt kämpfen. Und ein neues wöchentliches Ritual entsteht: der Anruf bei der Hotline der Krankenkasse als gefühlter Bittsteller für die so notwendige Versorgung mit Hilfsmitteln die den Alltag so viel erleichtern können.

Niemand von uns wurde auf diese Aufgabe vorbereitet. Wir leben mit der kollektiven Vorstellung von einer Elternschaft mit Kindern, die als „normal“ gelten und damit funktionieren in Sinne einer Leistungsorientierten Gesellschaft. Aber selbst in der sogenannten „Normalität“ liegen unendliche Herausforderungen. Und es gibt keine Sicherheit für ein Leben nach Plan und was im Verlauf eines Lebens passiert das Einschränkungen oder eine Behinderung mit sich bringen könnte. Wenn die Kinder aber weit vom Stamm fallen, wie Andrew Solomon so treffend beschreibt, stoßen Eltern an viele tiefgehenden Fragen: Wie sollen wir plötzlich wissen, wie wir mit einer Andersartigkeit umgehen? Wie sollen wir plötzlich wissen, wie wir mit unseren eignen Vorurteilen und möglichen unbewussten ableistischen Einstellungen umgehen?

Ich vertrete hier nicht eine perfekte Elternschaft. Das soll kein weiteres To-Do auf unserem mit Therapien und ärztlichen Terminen ohnehin ausgebuchten Kalender sein. Das hier sind keine Richtig-oder-falsch-Regeln. Wir sind bloß Menschen, die zusammen mit unseren Kindern am Leben wachsen. Aber wenn wir ableistische Muster im Umgang mit unseren Kindern unterbrechen und mit ihnen eine respektvolle und würdige Beziehung führen wollen, braucht es den Mut, dorthin zu schauen. Und Großzügigkeit mit uns selbst.

Keine einfachen Rezepte, aber immer mit afeto

Ich glaube nicht an einfache Rezepte. Mache X, dann erreichst du Y. Das gilt nicht für Beziehungen. Gleichzeitig stelle ich fest, wie bestimmte Anhaltpunkte mich bei meinem Prozess unterstützt haben:

Welche Bilder von Familien mit Kindern mit Behinderungen werden in den Medien verbreitet? Warum, wenn über uns berichtet wird, werden so selten Familien mit behindertem Kind dargestellt, die „normal“ leben und auch ihre Herausforderungen haben wie alle anderen? Entweder ist die Behinderung DIE Ursache für das Leid der Familie oder zum Symbol von Lebensfreude, Tapferkeit und Heldentum. 

Wir Eltern sollten uns vernetzen, online und offline. Wie meistert jede*r von uns den Alltag? Welche Haltung haben die Eltern, bei denen die Kinder mit mehr Autonomie aufwachsen? Ein Beispiel: Mein Kind kann sich vielleicht die Schuhe nicht alleine anziehen. Aber ich kann es fragen, ob es heute lieber den blauen oder den roten Schuh tragen möchte.

Was sagen erwachsene Menschen mit Behinderung? Auf ihre Stimme zu hören ist für mich einer der wichtigsten und hilfreichsten Schritte in dieser Bewegung. Selbst wenn diese Menschen nicht die gleiche Form von Behinderung haben wie mein Kind, stehen sie bestimmten Aspekten des Lebens meiner Tochter viel näher als ich. Dafür ist das Internet eine große Möglichkeit „nah“ an eigene Erzählungen diesen Menschen zu kommen.

Ich plädiere für einen Weg mit Mut, Verantwortung und afeto. Afeto, ein portugiesischer Begriff meiner Muttersprache für den es keine direkte, treffende Übersetzung gibt ins Deutsche. Afeto beschreibt die Bereitschaft und Offenheit für eine warmherzige, authentische und berührende Begegnung miteinander. Es braucht aber auch Mut, meine ableistischen Vorurteile zu erkennen und mich davon zu trennen. Und Verantwortung, um aktiv die Welt mit zu gestalten, von der ich träume. Eine Welt, in der Diversität die neue Norm wird.

Film- und Literaturtipps unserer Autorin für Eltern und Interessierte:

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6 Antworten

  1. Liebe Bárbara, danke für diese tollen Worte. Ich kann mich darin sehr gut selbst finden. Vielleicht auch, weil ich ebenfalls drei Kinder habe, eines davon mit Spina bifida (allerdings ein Junge und das mittlere Kind). Wir versuchen, unseren Sohn genauso teilhaben zu lassen wie unsere anderen Kinder. Dazu gehört zum Beispiel, dass er mit einer Schulbegleiterin in die gleiche Grundschule geht wie seine große Schwester und auch jeden Tag mit dem normalen Schulbus fährt. Wir sind mit ihm in den Bergen gewandert und der Skatepark ist sein zweites Zuhause (auch wenn er bei uns im Ort, übrigens auch Niedersachsen, meist der einzige Rollifahrer ist). Es ist nicht immer ganz einfach, dennoch mag ich es überhaupt nicht, wenn andere Leute mich “bewundern” für unseren Lebensstil. Du schreibst, Eltern die so viel Normalität mit ihren behinderten Kindern leben, sollten sich connecten – sehr gern. Wenn du magst, melde dich mal bei mir 🙂

    1. Liebe Miriam, etwas spät lese ich erst jetzt deine nette Nachricht. Vielen lieben Dank dafür! Sehr schön von euch zu lesen. Wie kann ich mich bei dir melden? Magst du mir privat schreiben? [email protected] oder per Instagram @barbarazimmermann_
      Liebe Grüße
      Bárbara

  2. Ein wertvoller Artikel, hat mir ein paar mal die Augen geöffnet und motiviert mich, künftig ein paar Minuten mehr Zeit einzuplanen. Danke und liebe Grüße aus Österreich, M. mit 6 jährigen Mädchen mit Sb.

  3. Liebe Bárbara, den Worten von Miriam schließe ich mich gerne an. Die vielen Facetten des Mutterseins kann man wirklich schwer in Worte fassen und ich bewege mich ständig von einem Ufer zum anderen auf dem Fluß des Lebens. Im Gedankenaustausch mit Euch zu bleiben, würde mich freuen! ..morgen werde ich an dich denken, Barbara, wenn meine 7jährige Tochter mit einer Seelenruhe des Waschlappen im Pinzettengriff unter den Wasserhahn hält, innehält, den Wasserstrahl beobachtet, sich langsam das Gesicht abtupft, um danach geduldig ein paar Tropfen aus dem Lappen zu wringen.. und: ich werde nicht eingreifen – nur atmen und gucken.. 😉
    Danke dir für den Mut, liebe Grüße, Irina (Mama zweier Kinder, die beide ihre – wie wir alle – sehr persönlichen Bedürfnisse haben)

  4. Steckbrief eines „Behinderten“.

    Wie behindert muss man eigentlich sein?
    Meine Geburt war wohl normal – zumindest habe ich alle Finger.
    Meine Behinderung entstand, als ich mit 6 Monaten von meiner Mutter getrennt und adoptiert wurde.
    In der Schule bestand ich die Prüfung zum Gymnasium. Stolz berichtete ich das meiner „neuen Mutter”.
    Meine Halbschwester – selbst schon Mutter – sagte:
    „Du wirst es nicht mal schaffen, in einer Poststelle frankierte Briefumschläge abzustempeln!“

    Meine „neue Mutter“ starb – ich musste wieder adoptiert werden. Ein interessiertes Ehepaar lud mich ein.
    Es war Ende Dezember, sie holten mich mit dem Auto ab. Meine Füße waren eiskalt. – Ich sagte es.
    Ich sollte baden. Ich bestieg die Wanne, die Dame kam herein. Ich war doch schon 9! – Ich sagte es.
    Zum Fest bekam ich einen Laubsägekasten. Genau so einen Kasten hatte ich bereits. – Das sagte ich.
    Sie luden mich nie mehr ein! Wie sollte ich das verstehen? Daheim sagten sie dann: „Er war so lieb!“

    Der Schulwechsel nahte – ich musste adoptiert werden. Ein weiteres Ehepaar kam und nahm mich mit.
    Alle Nachbarn in ihrer Vorort-Siedlung hatten bereits eigene Kinder – somit war die Adoption wichtig!
    Es war nicht leicht – aber es gelang. Unlösbar war jedoch der Widerstand bei „Mutters“ Verwandtschaft.
    Obwohl ich dort stets ein „Bastard“ war und auch blieb, fuhren wir aus meiner Sicht viel zu oft dorthin.
    Und immer wieder wurde ich hinwärts gut erzogen, während rückwärts die Schande zu besprechen war.

    Zum Schulwechsel bestimmte das Jugendamt, dass statt des Gymnasiums die Realschule richtig sei.
    Schließlich meinte man es gut mit mir, bei der psychischen Belastung durch Adoption und Ortswechsel.
    Somit baute sich eine neue Behinderung vor mir auf, der ich zu begegnen hatte: Ich sagte dazu nichts!
    (Meine Erkenntnis: Das Kind bewertet nicht die Schwere der Behinderung – es steht es durch! Ich war erst 10.)

    1. Lieber Wolf-Peter,
      dein Steckbrief berüht mich sehr. Danke, dass du offen mit uns darüber sprichst, obwohl ich weiß, dass diese Erfahrungen nicht leicht für dich waren.

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