Stotternde Menschen werden häufig nicht ernst genommen. Anschaulich beschreibt Daniela Dicks in ihrem Artikel, wie sie mit ihrer Redeflussstörung umgeht und was sie sich von anderen erhofft.
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Hier geht es um Menschen, die stottern. Das heißt: Sie wissen genau, was sie sagen wollen. Aber es ist für sie schwer, es auszusprechen. Beim Sprechen stocken die Menschen dann ab und zu. Sie sagen dann zum Beispiel Buchstaben mehrmals. Zum Beispiel: H-H-Hallo.
Warum stottern Menschen? Das weiß man nicht genau. Aber man weiß: Ihr Gehirn ist anders aufgebaut und funktioniert anders. Einige Verbindungen sind anders. Sie sind aber deshalb nicht weniger schlau. Sie haben nur ein Problem beim Sprechen.
Viele stottern mehr, wenn sie im Stress sind. Es hilft also, entspannt zu sein. Das ist aber schwierig. Denn: Oft sind andere Menschen ungeduldig oder unhöflich, wenn jemand stottert. Daniela hat diesen Artikel geschrieben. Sie stottert. Sie wünscht sich: Man sollte sich daran gewöhnen, dass Sprache sich manchmal ein wenig anders anhört. Das sollte nicht schlimm sein.
Dazu braucht man Gespräche. Gespräche mit Menschen, die stottern. Und Gespräche über das Stottern.
Ich stehe auf dem Bürgersteig vor dem Café und habe Herzrasen. Ich möchte einen Kaffee trinken und dazu vielleicht noch ein Stück Kuchen oder Gebäck essen. Alles, was ich dafür tun muss, ist, über die Schwelle zu treten und meinen Wunsch zu artikulieren. Unschlüssig blicke ich abwechselnd auf meine Schuhspitzen und auf die große Glastür, die mich von meinem Ziel trennt. Neue Kundschaft schiebt sich ausgelassen und gedankenlos zwischen mich und meine Herausforderung. Mir entweicht ein Seufzer, nervös trete ich von einem Bein aufs andere. Die Synapsen in meinem Gehirn feuern und meine Lippen formen lautlose Buchstaben: Ich bereite mich minutiös auf den Moment vor, in dem ich vor dem freundlich aussehenden Barista stehen und meine Bestellung aufgeben werde. Mittlerweile verlässt das Paar das Café wieder. Sie lächeln mich an und halten mir die Tür auf. Da muss ich jetzt also rein, es führt kein Weg daran vorbei — nachdem ich bereits etliche Minuten auf dem Gehweg gestanden hatte und man mich für eine debütierende Ladendiebin hätte halten können. Angestrengt versuche ich, das mir entgegengebrachte Lächeln zu erwidern, bin aber völlig geistesabwesend. Das Pulsieren in der Brust hat an solch Intensität gewonnen, dass ich davon überzeugt bin, es sei mir anzusehen. Ich setze einen Fuß vor den anderen und nähere mich der Theke in Schneckentempo. Der Barista ist tatsächlich ein freundlicher Mensch, er begrüßt mich bereits von Weitem und schaut mich erwartungsvoll an. Jetzt bin ich nahe genug dran, um einen Blick auf die Speisenkarte zu erhaschen, die in großen Lettern auf einer Holztafel hinter der Bartheke geschrieben steht. Aber mein Studium der angebotenen Speisen und Getränke des Cafés ist bloß Tarnung. Ich kenne die Spezialitäten des Hauses in- und auswendig. Trotzdem richte ich meinen Blick starr auf die Tafel, um Zeit zu gewinnen. Vor meinem Auge verschwimmt alles.
Einen Milchkaffee mit Hafermilch und ein Stück Streuselkuchen, bitte. Das möchte ich sagen. Aber die Worte bleiben stecken, ich kriege sie nicht raus. Ich starte einen neuen vergeblichen Anlauf, will sie herauspressen. Panik steigt in mir auf, meine Kehle schnürt sich zu. Ich höre, wie sich die Tür hinter mir erneut öffnet und sich eine Gruppe lachender Menschen hinter mich stellt. Bestimmt gilt ihr Lachen mir. Ich spüre, wie die Blicke auf mich gerichtet sind. Längst sind alle auf mich aufmerksam geworden und die Gespräche verstummt. Oder bilde ich mir das nur ein? Alle warten jetzt auf mich. Meine Hände sind zu Fäusten geballt, alles Blut aus meinen Fingern gewichen. Vergiss Milchkaffee, Cappuccino oder Chai Latte. Du kriegst das eh nicht hin. Vom Streuselkuchen ganz zu schweigen. »Einen Minztee, bitte«, höre ich mich sagen. Die Stimme klingt fremd, so als gehöre sie nicht zu mir. Ich beiße mir schambehaftet auf die Unterlippe, den Blick auf den Boden geheftet. In Luft auflösen möchte ich mich, hier und jetzt. Ich lege ein paar Münzen auf den Tresen und nehme den großen Becher mit heißem Wasser und Teebeutel entgegen. Erschöpft und resigniert lasse ich mich an einem kleinen Tisch in der hinteren Ecke des Cafés nieder. Minztee? Mochte ich eigentlich noch nie besonders. Aber heute war nichts zu machen, so sehr ich’s auch wollte und mich bemüht habe. So ist das eben manchmal, im Leben von stotternden Menschen.
Wir sind viele — und doch so unsichtbar: eine Bestandsaufnahme
Die geschilderte Episode steht exemplarisch für meist ganz gewöhnliche Situationen, die mich und etwa 800.000 weitere Menschen in Deutschland jedoch tagtäglich vor Herausforderungen stellen. Angesichts des heutigen Stands der Wissenschaft überrascht es, wie wenig wir noch immer über das Stottern wissen, wie weit wir davon entfernt sind, Ursachen und Auslöser zu verstehen. Wie viel ist Genetik — also vererbte Veranlagung — und welchen Anteil haben einzelne, unter Umständen traumatische Ereignisse? Hat der Sturz vom Klettergerüst was damit zu tun? Die Scheidung der Eltern? Wieso stottert ein Geschwisterkind, während das andere keinerlei Symptome zeigt?
Fast eine Millionen Menschen in Deutschland und 1% der Weltbevölkerung — also rund 80 Millionen Menschen — stottern. Aber in der öffentlichen Wahrnehmung sind wir noch stark unterrepräsentiert. Es gibt Verbände und Vereinigungen, Selbsthilfegruppen und hervorragende logopädische Angebote. Aber Hand aufs Herz: Wie viele stotternden Menschen mit Führungsverantwortung oder in öffentlichkeitswirksamer Position sind euch schon begegnet? Wie viele CEOs geben offen zu, dass sie stottern; wie groß ist der Anteil von Stotternden in jenen Bereichen, bei denen die Besetzung von Stellen eine wahrheitsgetreue Abbildung der Gesellschaft sicherstellen sollte, z.B. in der Lehre oder im staatlichen Rundfunk? Hier ließe sich argumentieren, dass stotternde Menschen sich eben tendenziell nicht für den Lehrerberuf oder den der Radiomoderatorin interessieren. Die Frage, die wir uns stellen müssen, ist jedoch: Wieso ist das so, und wie viel davon ist das Ergebnis von Sozialisation, d.h. zurückzuführen auf das Heranwachsen in einer Gesellschaft, die bestimmte Verhaltensnormen definiert und damit Erwartungen konstruiert?
Ich bin gewissermaßen ein seltenes Exemplar
Ich gehöre zu den restlichen 20% und bin noch dazu weiblich, gewissermaßen also ein seltenes Exemplar. Mein Großvater war Stotterer, das spricht also wieder für die Vererbungsthese. Ich weiß nicht, wie es meinem Großvater außerhalb seiner vier Wände und seiner gewohnten Umgebung ergangen ist. Als Bergkumpel war er es sicherlich nicht gewohnt, mit Samthandschuhen angefasst zu werden. Andererseits hatten die Menschen damals — Opa Josef war Jahrgang 1923 — weiß Gott andere Probleme, als sich über einen Stotterer zu sehr das Hirn zu zerbrechen.
Das Gehirn von Stotternden ist anders aufgebaut und funktioniert anders
Immerhin besteht unter Forschenden mittlerweile Einigkeit darüber. Weil die Verbindung zwischen den einzelnen Spracharealen gestört ist, fehlen für die Sprechbewegung nötige Signale. Die Zunge stolpert, es kommt zum stockenden Redefluss. Beim Stottern handelt es sich, anders als lange angenommen, nicht um eine Sprachstörung: stotternde Personen wissen, was sie sagen möchten; erst in der Umsetzung stoßen sie an ihre Grenzen. Das Stottern tritt in unterschiedlichen Formen auf, den so genannten Primärsymptomen: Dehnungen, Wiederholungen und Blockaden. Von Sekundärsymptomen spricht man, um all die — bewussten, d.h. gezielt eingesetzten, wie unbewussten, d.h. unfreiwilligen — Mechanismen zu beschreiben, mit dem die Stotternde ihre Primärsymptome zu überwinden versucht. Dazu zählen beispielsweise bestimmte Körperbewegungen wie das Neigen des Kopfes oder das Zusammenkneifen der Augen, aber auch schnelles Reden und Wortvermeidungen. Jeder stotternde Mensch hat ganz eigene Strategien und Techniken entwickelt, um die Komplexitäten des Alltags zu meistern und möglichst risikoarm durchs verbalkommunikative Leben zu kommen.
Stotterereignisse sind immer verbunden mit äußeren Einflüssen
Die genetische Prädisposition ist da, irgendwann — meist im Kindesalter; später tritt es meist nur nach Schlaganfällen oder ähnlichen medizinischen Vorfällen auf — ist der Redefluss gestört, aber wann und wie stark die Person stottert, hängt auch von einer Reihe von Faktoren ab: Wie ist meine aktuelle Grundverfassung, in welchem Setting findet ein Sprechanlass statt (im Kreise enger Vertrauter, vor Kolleg:innen oder im Rahmen einer Prüfung?), fühle ich mich adäquat vorbereitet auf meinen Redebeitrag und welche Bedeutung messe ich der Situation bei? Wer müde und gestresst ist, stottert tendenziell mehr. Unterstützend wirken regelmäßige Entspannungsübungen, frische Luft und sich bei wichtigen Redeanlässen vorzustellen, nur im engsten Familienkreis aufzutreten. Aber darauf gibt es keine Gewähr. Schon die jeweilige Tagesform kann verheerende Folgen haben. Singen und Fluchen hingegen klappt ausnahmslos stotterfrei, weil dafür andere Hirnareale genutzt werden.
Stottern ist keine geistige Behinderung
Früher galt die Redeflussstörung als geistige Behinderung oder wurde auf Ängstlichkeit und Labilität zurückgeführt. Diese Assoziationen wirken bis heute nach. Noch immer ist es eine weit verbreitete Annahme, Stotternde seien weniger intelligent oder beeinträchtigt in ihrer kognitiven Entwicklung. Stottern ist gesellschaftlich noch immer stark stigmatisiert, während das Leid der Betroffenen gleichzeitig allzu häufig bagatellisiert wird. Stotternde werden in ihren Herausforderungen oft nicht ernst genommen und dadurch ihrer Würde als vollwertige Kommunikator:innen beraubt. In seiner Rede vor dem American Institute for Stuttering im Juni 2016 hat Joe Biden, selbst ein Stotterer, verdeutlicht, wie salonfähig und gesellschaftlich akzeptiert es nach wie vor ist, sich über Stotternde lustig zu machen oder auf ein Stotterereignis mit Lachen zu reagieren — während es wohl die wenigsten wagen würden, offen über einen Menschen im Rollstuhl zu witzeln. Statt unverhohlenes Nachäffen zu ächten, wird von einem Stotternden allzu oft Verständnis erwartet. »Stell dich doch nicht so an, es ist doch gar nicht so gemeint. Es klingt halt einfach nur lustig«. Dabei entlastet es die oder den Aggressor:in — den Begriff wähle ich ganz bewusst, denn bei einem solchen Verhalten handelt es sich zweifelsohne um eine Aggression, einen herabwürdigen, entmenschlichenden Angriff — im Übrigen nicht, wenn sie oder er nicht von einer vorliegenden Behinderung ausgegangen ist. Ob jemand mit Beinbruch oder Querschnittslähmung im Rollstuhl sitzt, spielt doch für das moralische Gebot, den Menschen mit Würde zu begegnen und eben keine erniedrigenden Kommentare von sich zu geben, auch keine Rolle.
Ich bin permanent damit beschäftigt, meine Sätze zu planen
Ich bin 33 und habe immer noch oft das Gefühl, ich sei das kleine Mädchen, das sich hinter seinen Eltern verstecken möchte. Als ich letztens zu Besuch in der Heimat war und zum Arzt musste, hat meine Mutter angerufen und einen Termin vereinbart. Sie hat sich gar nicht gewundert, dass ich sie gefragt habe. Vielleicht konnte sie sich ihren Teil denken. Wirklich nachvollziehen kann sie meine Situation aber glaube ich nicht, wie vermutlich niemand, der nicht selbst stottert oder beruflich mit Stotternden zu tun hat. Vor ein paar Jahren habe ich meiner Mutter einmal erklärt, wie sich so ein Tag für mich anfühlt, wie erschöpft ich abends bin: vom Kommunizieren, von der Anspannung und Erwartung, dass es gleich wieder passieren wird, vom ständigen Wörter-Austauschen. Das ist nämlich mein größtes Sekundärsymptom, Fluch und Segen zugleich: In Unterhaltungen antizipiere ich permanent, was mein:e Gesprächspartner:in sagen und was ich antworten werde. Im Prinzip tätige ich meine Aussagen nicht spontan, sondern habe sie mir im Kopf bereits vorgesprochen. In Bewerbungsverfahren müsste ich eigentlich betonen, wie kreativ und kognitiv brillant ich bin — weil ich ja permanent Wörter austausche und stets bereit bin, in Windeseile ganze Wortketten umzustellen. Meine Redebeiträge dürfen dann natürlich nur aus solchen Wörtern bestehen, die nicht auf meiner mental blacklist stehen. Die sind nämlich Gift, Tod und purer Horror. Unter keinen Umständen kriege ich die über die Lippen und tue alles, um sie zu vermeiden. Waschmaschine ist so ein Wort, gesellschaftswissenschaftlich ist auch schwierig, und natürlich mein eigener Name — der Klassiker unter Stotternden. Wenn dann doch mal die Waschmaschine defekt ist, helfe ich mir mit allerlei Tricks. Zum Beispiel nenne ich dann das Modell: mein Siemens Frontlader XYZ, oder ich formuliere den Satz so um, dass ich von der wissenschaftlichen Perspektive sprechen kann, die die Gesellschaft einnimmt.
Manchmal ergibt es leider gar keinen Sinn oder wirft ein schlechtes, stupides Licht auf mich. Ich lasse zu, dass andere von mir denken, ich wüsste Sachen nicht oder sei dumm, nur um nicht in die Gefahr zu kommen, zu stottern. Aber das ist bislang immer das kleinere Übel gewesen. Viel wichtiger war für mich stets, mich der jeweiligen Situation entziehen zu können, die Panik in mir hat aufsteigen lassen. Ich schäme mich, wenn ich stottere und gewähre Gesprächspartner:innen, die ungeduldig oder ruppig reagieren, manchmal das Recht, sich unhöflich und diskriminierend zu verhalten – alles nur, um mich der Situation und Peinlichkeit zu entziehen (»Sie haben ja recht, ich kann ja auch nicht vernünftig sprechen und halte sie bloß auf«). Immer dann, wenn ich von meiner eigenen Scham übermannt werden, könnte ich platzen vor Wut und finde kein Ventil dafür.
Das alles nimmt unendlich viel Kapazität in meinem Gehirn und Leben ein, und lähmt mich in so vielen anderen Hinsichten. Nach einem ganz gewöhnlichen Tag, der meinem vegetativen und kognitiven (Nerven-)System Höchstleistungen abverlangt, liege ich manchmal also kraftlos im Bett und fühle mich leer, ausgepowert. Mein Verstand ist neblig, wieder einmal habe ich dringend an anderer Stelle benötigte Hirnkapazitäten darauf verwendet, zu performen.
Das Vervollständigen meiner Sätze ist alles andere als Unterstützung
Es scheint nach wie vor ein Kavaliersdelikt zu sein, die Beeinträchtigung des Stottern nicht in ihrer Gesamtheit anzuerkennen. Eine weitere Unart menschlichen Verhaltens, die uns Stotternden tagtäglich begegnet, ist die der ungefragten Vervollständigung unserer Sätze. Verankert in dem tiefen Glauben, dass unser:e Gesprächspartner:innen genau wissen, was wir sagen möchten und uns damit ja die Last nehmen, das vermaledeite Wort qualvoll ausspucken zu müssen, tönen sie munter und bevormundend drauflos, unterbrechen uns, berauben uns jeder Form von Handlungsfähigkeit. Dabei lächeln sie uns zunächst mitleidig an, bevor sich ein Ausdruck von Großmütigkeit auf ihren Gesichtern zeigt, die vermutlich als Aufmunterung verstanden werden will: »Ist doch nicht so schlimm, ich helfe dir doch gern. Nur Mut, das nächste Mal kriegst du’s hin«. Und dann gibt es noch die Kategorie derjenigen Konversationstreibenden, die sich wahlweise dem dilettantisch-didaktischen oder dem pseudopsychologischen Ansatz im Umgang mit hilfsbedürftigen, mangelhaft sprechenden Subjekten verschrieben haben. Beliebte Appelle dieser Gruppen beziehen sich auf die vermeintlich fehlende Ruhe (»Gaaaanz ruhig, chill doch mal«) oder wollen zum gelassenen Atmen animieren.
Es ist eben nur so: Es ist nicht hilfreich. Ebenso wenig wie ungeduldiges Augenbrauenhochziehen, Stirnrunzeln oder Räuspern. Stottersequenzen bringen sowohl den Stotternden als auch die Zuhörenden in eine unangenehme Situation. Das müssen wir aushalten, jede:r für sich.
"Wir müssen lernen, mit anders sprechenden Mitmenschen umzugehen."
Das ist nicht leicht und für Ungeübte gibt es potenziell Fallstricke; so wie im Umgang mit allen Menschen, die nicht so sind wie wir. Deshalb ist es so wichtig, dass wir miteinander im Gespräch bleiben (im tatsächlichen Wortsinne und im übertragenen Sinne).
Über das Abweichen von der Norm
Mittlerweile habe ich mich weitestgehend arrangiert mit dem, wer ich bin und was ich habe, was ich nicht bin und nicht habe — auch wenn mich manchmal noch immer die Sinnfrage quält: wieso ausgerechnet ich? Mein Bruder, der potenziell dieselbe genetische Disposition in sich trägt und noch dazu männlich, also laut Statistik anfälliger sein müsste, spricht nämlich flüssig. Wäre ich beruflich viel erfolgreicher oder dort, wo ich immer sein wollte, weil ich mich weniger vor Redeauftritten gedrückt und öfter mal selbstbewusst in die erste Reihe gestellt hätte? Als Agglomerat bestehend aus kleinen und größeren Teufeln saß das makel- und stigmabehaftete Stottern stets auf meiner Schulter, wenn wichtige Entscheidungen anstanden. Für so manche Tätigkeiten habe ich mich nicht beworben, weil ich den Namen des Arbeitgebers niemals hätte aussprechen können. Auch über weltpolitische Zusammenhänge lässt sich schlecht flunkern und Umschreibungen können ganz schön peinlich werden.
Auch wenn ich meinen Opa nicht mehr fragen kann, ob er vor fremden Menschen oder in für ihn nervenaufreibenden Momenten mehr gestottert hat, gehe ich stark davon aus. Mir geht es jedenfalls immer so, und ich denke, den meisten anderen Stotternden auch. Jede gute Vorbereitung (wie ich in der Café-Episode: ich habe mir die Beine in den Bauch gestanden und wusste eigentlich genau, was ich bestellen wollte), jede gelernte Atemtechnik, Meditation oder einstudierte Strategie, jeder guter Wille (»dieses Mal klappt’s«): wir alle stoßen trotzdem immer und immer wieder an unsere Grenzen.
Aber auch als Gesamtgesellschaft müssen wir unsere Narrative ändern. Wir müssen uns endlich von tradierten, verstaubten Ordnungs- und Klassifikationssystemen verabschieden, die vom »Normalen« ausgehen und erst das »Andere« produzieren und damit Ausgrenzung schaffen. Uns Stotternden geht es genauso wie anderen »Nicht-Konformen« der Gesellschaft: wir sind nichts Besonderes und wollen auch nicht als solche behandelt werden. Gerade in dieser Nicht-Besonderheit, im Ausgehen vom Wir = Ihr erfahren wir Empowerment.
Dies ist ein Auszug aus der Originalversion des Essays,
die hier aufzurufen ist.
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2 Antworten
Liebe Daniela, vielen Dank für diesen schönen Beitrag! Mein Tochter stottert auch – und ist mit Down-Syndrom geboren worden. Seit sie stottert, wird sie noch weniger ernst genommen und ich habe den Eindruck, die Schublade, dass sie geistig behindert ist, ist sehr viel größer geworden. Man hört ihr weniger zu, die Geduld fehlt einfach – das fängt sogar schon bei ihren Geschwistern an. Deinen Schlusssatz: “Gerade in dieser Nicht-Besonderheit, im Ausgehen vom Wir = Ihr erfahren wir Empowerment.” finde ich sehr gelungen – er trifft auch auf Menschen mit Down-Syndrom voll und ganz zu und er beschreibt sehr schön, was gelebte Inklusion bedeuten könnte. Alles Gute für dich! LG Ute
Liebe Daniela,
Ich hätte eine Anfrage an dich. Gibt es irgendwo die Möglichkeit dich (nicht öffentlich) zu kontaktieren?
Ansonsten kannst du dich evtl. bei mir unter [email protected] melden. Ich würde mich sehr freuen!