Vom Mobbingopfer zur Rechtsanwältin

Mareike steht mit verschränkten Armen in ihrem Büro und lächelt in die Kamera. Sie hat dunkelblonde schulterlange Haare, trägt eine schwarz-weiß bemusterte Bluse und einen dunkelgrünen Blazer.
Mareike Drygala setzt sich in ihrer Arbeit auch für die Rechte von Menschen mit Behinderungen ein. Foto: Lars Timpelan (timpelan-photography)
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Mareike Drygala ist erst die zweite gehörlose Rechtsanwältin in Deutschland. Melissa Wessel von der Deutschen Gehörlosenzeitung sprach mit ihr über ihre schwierigen Erfahrungen in ihrer Jugend, ihren Werdegang und warum sie sich dazu entschied, Jura zu studieren.

In Deutschland gab es bis letztes Jahr nur eine gehörlose Rechtsanwältin: Judith Hartmann. Im Juli 2019 ist mit Mareike Drygala nun eine zweite hinzugekommen. Die 33-Jährige ist seit Januar dieses Jahres als Rechtsanwältin in der Leipziger Kanzlei gross::rechtsanwaelte tätig. Ihre Schwerpunkte sind unter anderem Behinderten- und Sozialrecht, wobei sie sich auch mit anderen Bereichen beschäftigt. Derzeit strebt sie „den Fachanwaltstitel im Sozialrecht an, um somit unsere fachliche Kompetenz noch mehr zu intensivieren“, heißt es auf der Homepage der Kanzlei.

Seit dem fünften Lebensjahr schwerhörig, musste ihre Mutter sich schon früh für ihre Rechte einsetzen: Sie sollte aufgrund ihrer schlechten Hörverfassung auf die Schule an der Marcusallee gehen, der Gehörlosenschule in Bremen. Doch ihre Mutter setzte sich durch und so kam sie auf eine Regelschule um die Ecke. Dort wurde sie aufgrund ihrer Schwerhörigkeit viel ausgegrenzt: „Ich kann mich noch an Situationen in der Grundschule erinnern, wo man mir gesagt hat: ‚Mit dir spiele ich nicht, du hörst ja nichts.‘“ Auch auf der Realschule war dies ein stetiges Thema, worunter sie litt und mit großen Unsicherheiten und verletztem Selbstvertrauen kämpfte.

Regel- statt Gehörlosenschule

Das änderte sich erst in der gymnasialen Oberstufe. Die gebürtige Bremerin wollte die erste in der Familie sein, die das Abitur machte. Am ersten Tag in der neuen Schule wurde sie jedoch abgewiesen. Die Schulleiterin meinte, sie solle doch bitte auf die Gehörlosenschule gehen. Daraufhin setzte ihre Mutter alles Erdenkliche in die Wege, damit Mareike auf der Schule bleiben konnte: „Zusammen mit einem Lehrer von der Gehörlosenschule wurde eine Konferenz einberufen, um die Lehrer über meine Rechte zu informieren. Am Ende durfte ich doch auf der Schule bleiben“, schreibt sie in einem Online-Erfahrungsbericht.

Die erste Zeit war jedoch sehr schwer, da sie mit ihren Hörgeräten schon fast nichts mehr hörte. Mit 17 Jahren bekam sie die Diagnose, dass sie medizinisch ertaubt sei. Da entschied sie sich gleich für ein Cochlea Implantat (CI), ein paar Jahre später folgte das zweite. Das CI verhalf ihr zu mehr Selbstbewusstsein und sie dachte sich: „Entweder sie akzeptieren mich so, wie ich bin, oder sie haben halt Pech gehabt.“

Der Wunsch, Menschen zu helfen

Dieser Gedanke führte auch dazu, dass sie sich in schwierigen Situationen nicht entmutigen lässt, besonders während Studienzeiten. „Selbstbewusstsein und Resilienz (= psychische Widerstandskraft) sind auf jeden Fall Eigenschaften, die einem als Rechtsanwalt sehr nützen.“ Sie vermutet, dass die Kombination von bunter Kleidung, schlechter Aussprache und Hörgeräten sie zum „perfekten Mobbingopfer“ während der Grund- und Realschulzeit machte.

Foto von Mareike. Sie sitzt an ihrem Schreibtisch und ließt in einem dicken Buch.
Foto: Privat

Den Wunsch, Rechtsanwältin zu werden, hatte sie erst sehr spät. In ihrer Schulzeit wollte sie immer was mit Kindern machen, hat viele Praktika in Kindergärten und in der Kirchengemeinde absolviert. Aber auf der gymnasialen Oberstufe merkte sie, sie möchte doch lieber Menschen helfen. „Ich begann mich als Krankenschwester und Arzthelferin zu bewerben und bin auch zu zahlreichen Vorstellungsgesprächen eingeladen worden“, so die Anwältin. Wurde sie gefragt, warum sie Krankenschwester werden möchte, bekam sie immer als Antwort, dass sie auch in vielen anderen Berufen helfen könne. Dies frustrierte sie. So bewarb sie sich dann „um die Ecke bei der Rechtsanwaltskanzlei für eine Ausbildung zur Rechtsanwalts- und Notarfachangestellten“ und fand es ganz interessant.

„Da dachte ich mir: Ach, das krieg ich auch hin. Ich hab‘ Abitur, warum nicht Jura studieren“, erzählt Drygala im Interview. Jedoch habe sie die Anforderungen damals wahrscheinlich ein bisschen unterschätzt. Von 2010 bis 2017 studierte sie in Leipzig, ohne Unterstützung von Schriftdolmetschern oder anderen Assistenzen. „Für mich war das kein Thema, weil ich mich immer so durchgekämpft habe.“ Außerdem habe sie gehört, dass es in Sachsen immer sehr lange dauert, bis über einen Antrag entschieden wird.

Kaum Kontakt zu anderen gehörlosen Menschen

Für Gebärdensprachdolmetscher waren ihre DGS-Kenntnisse einfach zu schlecht, da sie erst im Studium den Kontakt zu anderen Gehörlosen gefunden hatte. Dies geschah über eine Kommilitonin, die selbst gehörlose Eltern hat. Erst dann habe sie sich so richtig mit ihrer Situation beschäftigt und gemerkt, dass es auch viele andere Menschen gibt, denen es genauso wie ihr geht: „Das war ein schönes Gefühl und ich habe vermehrt den Kontakt gesucht. Daraus sind schöne Freundschaften entstanden.“ Die Deutsche Gebärdensprache habe sie gerne gelernt. Sie mag vor allem, dass man sich mit Gestik und Mimik ausdrücken kann. „Leider habe ich schon wieder einige Gebärden vergessen. Viele gehörlose Freunde sind weggezogen.“

Im Studium verließ Drygala sich hauptsächlich aufs Absehen von den Lippen, von einigen Kommilitonen erfuhr sie immer Unterstützung, wenn nötig. Bei Verständnisschwierigkeiten erfragte sie schriftliche Lösungen oder Notizen bei ihren Professoren. Manche gaben ihr auch Zusatzmaterialien. Ihren Mann lernte sie indirekt über ihre Gehörlosigkeit kennen: „Er war mein Professor. Ich habe im Hörsaal immer sein Mundbild abgelesen, um den juristischen Inhalt besser aufnehmen zu können. Er dachte, dass ich ihn anhimmele.“ So kamen sie ins Gespräch und von da an ist der Rest Geschichte.

Eine eigene Kanzlei? Warum nicht!

Auch im Gerichtssaal verzichtet sie, wie auch schon im Studium, auf etwaige Assistenten und informiert lieber die Richter darüber, dass sie gehörlos ist – das funktioniere immer gut. Auch in der Kanzlei klappe die Kommunikation zwischen der 33-Jährigen und ihren Kollegen und Mandanten (= Klienten) meistens. Sie scheut nicht davor, darauf hinzuweisen, wenn sie etwas nicht verstanden hat oder ihr Gegenüber zu leise spricht. Sie hat bereits ein paar gehörlose Mandanten und berät auch Gehörlosenverbände. Drygala empfindet diese Arbeit als sehr bereichernd: „Ich habe hier natürlich auch durch meine eigenen Erfahrungen eine sehr große Expertise (= Fachkenntnisse) und weiß, worauf es ankommt. Ich hoffe, dass noch viele weitere gehörlose und hörgeschädigte Mandanten dazu kommen.“

Abgesehen davon wünscht sie sich, dass Gehörlose und Hörbehinderte mehr Aufmerksamkeit bekommen. Insgesamt sei da – sowohl rechtlich als auch politisch – noch viel zu tun. Der Wunsch nach einer eigenen Kanzlei sei auch vorhanden, wenngleich sie sich in ihrer jetzigen Situation wohlfühlt. „Und privat wünsche ich mir, dass ich noch lange gesund bleibe, noch viele tolle Momente mit meinem Mann genießen kann und wir den Plan nach einem Kind umsetzen können.“

Dieser Artikel ist zuerst in der Deutschen Gehörlosenzeitung (Ausgabe 10/2020) erschienen.

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