Bundestag stimmt über Barrierefreiheits- stärkungsgesetz ab

An einer Glasfassade steht mit Filsstif der Text: Teilhabegesetz ist nicht barrierefrei
Nach dem Bundesteilhabegesetz und dem Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz: Auch das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz sorgt für Empörung. Foto: Andi Weiland | Gesellschaftsbilder.de
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Kurz vor der finalen Abstimmung im Plenum des Deutschen Bundestages am heutigen Donnerstag gegen 22 Uhr, haben die Koalitionsfraktionen CDU/CSU und SPD einen Änderungs- und einen Entschließungsantrag zum Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) eingebracht. Die meisten Änderungen beziehen sich überhaupt nicht auf das BFSG oder gar Barrierefreiheit im Allgemeinen, sondern behandeln zusammenhanglos andere Themen. Constantin Grosch fasst die Ereignisse zusammen.

Informationen in Einfacher Sprache

Deutschland muss ein neues Gesetz machen.

Der Name für dieses Gesetz ist: Barriere·Freiheits·Stärkung·Gesetz.

Das Gesetz gilt für Produkte und Dienst·Leistungen. 

Es macht viele Ausnahmen wann die Regeln nicht gelten.

Heute wird das Gesetz im Parlament beschlossen. Dafür gibt es nur wenig Zeit. 

Behinderte Menschen kritisieren, dass das Gesetz nicht weit genug geht. 

Außerdem denken behinderte Menschen, dass das Gesetz den Politikern nicht wichtig ist.

Der Autor ist sehr enttäuscht von den Politikern.

Zwar ist es nicht ungewöhnlich, dass bereits laufende Gesetzesverfahren kleinere Änderungen an bestehenden Gesetzen „huckepack” nehmen um nicht für jede minimale Änderung ein eigenes Verfahren zu eröffnen, doch hier wird gezielt eine wichtige Debatte für Menschen mit Behinderungen verwässert. Denn jetzt müssen die Abgeordneten nicht nur über das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz, sondern auch über Änderungen an anderen Gesetzen sprechen und abstimmen, die überhaupt nichts mit Barrierefreiheit oder Menschen mit Behinderungen zu tun haben. Mehr Zeit steht ihnen dafür aber nicht zur Verfügung. Im Gegenteil: So wurde nicht nur die Anhörung von Sachverständigen auf nur eine Stunde gekürzt, sondern die Fragezeit der CDU/CSU-Fraktion bezog sich zur Hälfte auf diese sachfremden Themen.

Welche sachfremden Themen werden behandelt?

Es geht um kleine Änderungen am Jugendarbeitsschutzgesetz, dem Künstlersozialversicherungsgesetz, zur Ausbildungs- und Arbeitsvermittlung im SGB III und zur Statusfeststellung von Selbstständigen bei der deutschen Rentenversicherung

Im 27-seitigen Änderungsantrag geht es daher auch nur auf 3 Seiten um Barrierefreiheit und dem BSFG.

An der Tragweite des Gesetzes wurde nichts geändert. Weiterhin wird die bauliche Barrierefreiheit nicht geregelt. Für kleine Unternehmen mit weniger als 10 Mitarbeiter*innen oder weniger als 2 Millionen Euro Jahresumsatz gilt eine Ausnahme. Sie müssen gar nicht barrierefreie Produkte und Dienstleistungen anbieten und dürfen so auch in Zukunft durch fehlende Barrierefreiheit diskriminieren. Desweiteren gelten die meisten Regelungen nur für Verbraucher*innen und nicht z.B. auch für den geschäftlichen Verkehr, was behinderte Arbeitnehmer*innen weiter vom Arbeits- und Wirtschaftsleben ausgrenzt. Dazu muss man ebenfalls wissen, dass das Gesetz haargenau regelt, für welche Produkte und Dienstleistungen Barrierefreiheit vorgeschrieben wird. Wird ein Produkt oder Dienstleistung nicht explizit erwähnt, ist auch keine Barrierefreiheit vorgeschrieben. Gerade einmal anderthalb von 28 Seiten beschreiben, welche Produkte und Dienstleistungen barrierefrei sein müssen. Mit anderen Worten: Die meisten Dinge im alltäglichen Leben dürfen weiterhin mit Barrieren erstellt und angeboten werden.

Minimale Veränderungen zum Regierungsentwurf

Die Marktüberwachungsbehörden, also Behörden in den einzelnen Bundesländern, welche kontrollieren und überwachen sollen, dass sich Unternehmen an die Regeln zur Barrierefreiheit halten, haben jetzt weniger Spielraum, wenn Unternehmen trotz Fristsetzung nichts an ihren Produkten oder Dienstleistungen ändern. Gleichzeitig wird den Unternehmen nun explizit eine Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt.

Positiv ist hervorzuheben, dass künftig anerkannte Verbände oder sogenannte „qualifizierte Einrichtungen” (dies können Vereine sein) auch vor dem Oberverwaltungsgericht und dem Bundesverwaltungsgericht anstelle betroffener Verbraucher*innen gegen vermeintlich fehlende Maßnahmen oder falsche Bescheide der Marktüberwachungsbehörden handeln dürfen.

Nicht ein einziger Änderungsvorschlag der Verbände und Organisationen von Menschen mit Behinderungen wurde aufgegriffen. Selbst die vom Sachverständigen der CDU als „relativ lang” bezeichneten Übergangsfristen bis 2040 bleiben erhalten. In den vergangenen Wochen weigerte sich das Wirtschaftsministerium, geführt von Peter Altmaier (CDU), vor dem Hintergrund der schwierigen Wirtschaftslage durch die Corona-Pandemie, weitreichende Änderungen am Gesetzesentwurf zuzulassen. Dabei tritt das Gesetz selbst erst 2025 in Kraft. Zu einer Zeit also, zu der von der Corona-Pandemie hoffentlich nicht mehr viel zu spüren sein wird.

Auswirkungen von Barrierefreiheit auf die Wirtschaft?

Aber dann gibt es noch den Entschließungsantrag. „In Entschließungen bringt der Bundestag seine Auffassung zu politischen Fragen zum Ausdruck und/oder fordert die Bundesregierung zu einem bestimmten Verhalten auf. Rechtsverbindlich sind sie nicht”, schreibt der Bundestag selbst auf seiner Webseite.

Im Entschließungsantrag fordern die Fraktionen von CDU/CSU und SPD die Bundesregierung auf, nach Inkrafttreten alle fünf Jahre über den Umsetzungsstand von Barrierefreiheit, dessen Auswirkung auf Wirtschaft und Menschen mit Behinderungen, sowie über die Häufigkeit von Kontrollen und festgestellten Mängeln zu berichten. Eine Beteiligung von Menschen mit Behinderungen oder deren Organisationen fordert die Koalition nicht. Nur bei der Aufgabe der Marktüberwachung sollen behinderte Menschen helfen bzw. beteiligt werden. Die Länder hatten zuvor gewarnt, die Kosten für eine effektive Marktüberwachung bezüglich Barrierefreiheit wären zu hoch.

Des Weiteren bittet die Bundestagsmehrheit im Entschließungsantrag die Regierung, für das Beratungsangebot der „Bundesfachstelle für Barrierefreiheit” Werbung zu machen und die „Barrierefreiheit […] in den Köpfen der Menschen und Wirtschaftsakteure” durch Bewusstseinsbildung zu stärken. Abgesehen davon, dass es kein Wissensdefizit bezüglich der Herstellung von Barrierefreiheit gibt – es besteht ja sogar eine eigene Bundesfachstelle dafür – mangelt es ausschließlich an der Verpflichtung diese auch umzusetzen. Etwas, was dieses Gesetz tun sollte, es aber aufgrund des Unwillens der Bundesregierung nicht macht.

Bauliche Barrierefreiheit ist Sache des Bundes

Zum Schluss soll der Bundestag durch den Entschließungsantrag feststellen, dass er für bauliche Barrierefreiheit nicht zuständig sei und man höflich die Bundesländer bittet, mehr in bauliche Barrierefreiheit zu investieren. Dabei haben bereits unterschiedliche Ministerien festgestellt, dass die Herstellung von Barrierefreiheit im Aufgabenbereich des Bundes liegt, da es eine grundgesetzliche Aufgabe ist, gegen Diskriminierung und Benachteiligung vorzugehen und insbesondere gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen. So hat das Kabinett bereits im Juli 2019 zwölf Maßnahmen zur Förderung der gleichwertigen Lebensverhältnissen beschlossen. Darunter: „Barrierefreiheit in der Fläche verwirklichen”. Sogar die eigene Regierungsbegründung zum Barrierefreiheitsstärkungsgesetz sagt: „Für das Recht der Wirtschaft […] hat der Bund nach Artikel 72 Absatz 2 GG das Gesetzgebungsrecht, wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung erfordert.”

Wie ist also das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz zu bewerten? Es bringt Fortschritte zur Barrierefreiheit in der Wirtschaft, aber ist das ausreichend? 

Menschen mit Behinderung nicht involviert

Die Anhörung der Sachverständigen zu dem Gesetz war ein Trauerspiel. Die Koalition befragte nicht einen Menschen mit Behinderung und verwandte sogar die Hälfte der Zeit, um sich über so brennende Fragen wie Arbeitsvermittlung über die Grenzen Deutschlands hinaus auszutauschen.

Seit Jahrzehnten warten wir auf ein Gesetz, was Barrierefreiheit allgemein und flächendeckend vorschreibt, wie es zum Beispiel in den USA der Fall ist.

Im Garten des weißen Hauses in Washington sitzt George H.W. Bush an einem Tisch und unterschreibt den Americans with Disabilities Act (ADA). Neben ihm sitzen zwei Personen im Rollstuhl. dahinter stehen zwei weitere Personen.

Schluss mit Gnadenrecht! Die Kraft eines einzigen Gesetzes

Vor genau 30 Jahren wurde in den USA der Americans with Disabilities Act (ADA) beschlossen – dieses Gesetz garantierte Menschen mit Behinderung eine gesellschaftliche Stellung und verbindliche Rechte, von denen wir in Deutschland nur träumen können, meint Raúl Krauthausen.

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Aber in einem Land, in dem einer der größten Braunkohle-Lobbyisten gleichzeitig behindertenpolitischer Sprecher der CDU ist (Wilfried Oellers) und die SPD glaubt, man müsse in kleinkindlicher Pädagogik erst einmal Bewusstseinsbildung bei Unternehmen betreiben, da wundert man sich nicht mehr. Da wird man nur zynisch. 

Und so sollten wir feiern! Feiern darüber, dass jetzt endlich „interaktive Informationsbildschirme” beim Zugfahren barrierefrei werden. Also nur die im Fernverkehr. Die im Nahverkehr nur dann, wenn sie nicht fest im Zug eingebaut sind. Ähh ja. Und wer dann nach drei Sektgläsern ins Gesetz schaut und mal wissen will was denn genau „Verbraucherendgeräte” sind, die man als Mensch mit Behinderung dann endlich ab 2025 nutzen darf, der findet solche Schönheit. Und nein, das hat nichts mit der Anzahl der Sektgläser zu tun. Das ist die Kompetenz des deutschen Gesetzgebers hinsichtlich Behindertenpolitik: „Im Sinne dieses Gesetzes sind ‚Verbraucherendgeräte mit interaktivem Leistungsumfang, die für den Zugang zu audiovisuellen Mediendiensten verwendet werden‘ Geräte für Verbraucher mit interaktivem Leistungsumfang, deren Hauptzweck es ist, Zugang zu audiovisuellen Mediendiensten zu bieten”.

Die USA macht es vor

Genau. Während in den USA letztes Jahr das 30-jährige Bestehen des ADA und damit der vollumfänglichen Barrierefreiheit aller öffentlich angebotener Dienstleistungen, Produkte und offenstehender Orte gefeiert wurde, dürfen wir jetzt in der sozialen Marktwirtschaft zelebrieren, dass Geldautomaten schon 2040 technisch barrierefrei sein werden, aber jede Sparkasse weiter baulich durch Stufen und andere Hindernisse behinderte Menschen ausschließen darf.

Lasst uns also feiern! Feiern, dass die Mehrheitsgesellschaft in Deutschland immer noch diktieren darf, wann sie meint, genug Barrieren in ihren eigenen Köpfen abgebaut zu haben um endlich echte Barrieren zu brechen. Feiern, dass deutsche Unternehmen im Ausland auf wundersame Weise alle Anforderungen zur Barrierefreiheit erfüllen können, nur im eigenen Land dadurch Wettbewerbsnachteile entstünden. Feiern, dass behinderte Menschen nur einkaufen gehen und nicht selber verkaufen, weil Barrieren im Geschäftsbereiche und in dienstlicher Software uns glücklicherweise vor der Knechtschaft der Lohnabhängigkeit befreit. Feiern, dass wir damit leben können, wenn wir nicht nur zu Corona-Zeiten nicht in Bars und Restaurants kommen und deshalb nicht gleich zu Querdenken werden. 

Katerstimmung statt Partylaune

Nein, natürlich ist uns nicht zum Feiern zumute. Heute ist ein dunkler Tag für Menschen mit Behinderungen in Deutschland. Man wird sich an diesen leider auch in vielen Jahren noch erinnern. Nur die kraftvollen Worte von Sigrid Arnade, der Vorsitzenden der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben bei einer Anhörung zum Gesetz geben mir Hoffnung. Sätze wie „Stoppt den Barriere-Lockdown”, der zeigt, dass wir weiter kampfeswillig sind. Denn das müssen wir weiterhin sein. Leider.

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2 Antworten

  1. Schade das deutsche Politiker anscheinend nichts verstanden haben. Ich hoffe sehr dass die Privatwirtschaft an barrierefreies bauen denken und auch umsetzen.

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