Kassandra Wedel: „Deaf Coachs braucht es vor allem für die anderen“

Kassandra Wedel steht neben einem Schauspielkollegen, im Krankenhaus. Beide schauen sich an. Sie tragen beide blaue OP Klamotten.
Kassandra Wedel bringt als Dr. Alicia Lipp ihren Kollegen Gebärdensprache bei. Foto: ARD / Jens-Ulrich Koch.
Lesezeit ca. 5 Minuten

Ihre ARD-Serienrolle einer tauben Neurologin ist eine feste Rolle – ein Novum in der deutschen Fernsehlandschaft. Thomas Mitterhuber von der Deutschen Gehörlosenzeitung sprach mit der Schauspielerin Kassandra Wedel über diesen „überfälligen Schritt“ und was sich bei Dreharbeiten mit tauben Schauspieler*innen ändern muss.

In der Vorabendserie „In aller Freundschaft – Die jungen Ärzte“ tauchte die Schauspielerin Kassandra Wedel im vergangenen März auf –  als ertaubte Neurochirurgin namens Dr. Alica Lipp. Nun wurde bekannt: Dr. Lipp soll ab 9. Juni in weiteren Folgen zu sehen sein. Damit wird erstmals eine Taube Darstellerin fester Bestandteil einer deutschen Fernsehserie. Man wolle mit ihr die Vielfalt der Gesellschaft abbilden, insbesondere mit Menschen mit Beeinträchtigungen, so ARD-Vorabendkoordinator Frank Beckmann in einer Pressemitteilung. Kassandra Wedel über die Ironie ihrer Rolle, welches Bild sie dem Publikum vermittelt und warum es dringend Deaf Supervisors am Filmset braucht.

In der Folge „Überwindung“ spielst du die taube Neurochirurgin Dr. Alica Lipp. Wie entstand denn diese Rolle?

Kassandra Wedel: Die Autoren haben die Rolle geschrieben, ich darf sie abändern und vor der Kamera wird sie dann zum Leben erweckt.

Welche Reaktionen hast du bislang darauf bekommen?

In der ersten Folge hat man Dr. Lipp ja nur ein bisschen kennengelernt und da war noch nicht offiziell, dass sie bleiben wird. Viele freuen sich, dass endlich eine Taube Schauspielerin längerfristig in einer deutschen TV-Serie zu sehen ist. Viele fanden es sympathisch und gut, dass auch mein Filmkollege Dr. Moreau, der eher als arrogant gilt, mit ihr gebärdet. Ich vermute, dass er vor Dr. Lipp Respekt hat und er ihre Kompetenz zu schätzen weiß. Auch ein Grund, warum er sie ins Team geholt hat.
Jedoch kam auch die Frage auf, ob diese Rolle ein gutes Vorbild sei. Das werden wir sehen und ich denke, sie wird sich im Rahmen des Möglichen entwickeln. Aber sie ist auf jeden Fall ein Vorbild, dass sie als taube Person Ärztin und Neurochirurgin geworden ist. Selbst da lese ich aus den eigenen Reihen, dass es wohl besser gewesen wäre, wenn sie nur Assistenzärztin sei. Das ist interessant, denn eine echte gehörlose Ärztin sagte mir: Die Konkurrenz unter Chirurgen ist groß und als Assistenz läuft man der Kommunikation nur hinterher. Besser sei eine Führungsposition, wodurch alle auf einen hören müssen. (augenzwinkern) 

Eine ertaubte, lippenlesende Ärztin mit dem Nachnamen Lipp, die einem Patienten hilft, sein Restgehör nicht zu verlieren. Ist das nicht augenzwinkernde Ironie?

Ja, oder? (lacht) Was für eine Ironie, aber sie macht ihren Job einfach gut!

Du spielst also eine Taube Ärztin, die mühelos von den Lippen ablesen kann: Wie realistisch ist das Bild von gehörlosen Menschen, das deine Rolle den hörenden Zuschauern vermittelt?

(überlegt) Das ist eine gute Frage! Ich habe die anderen Folgen noch nicht gesehen, um das beurteilen zu können. Das werden wir dann alle gemeinsam sehen. Ich bin selbst gespannt.
Aber wir haben eingebaut, dass sie das Lippenlesen nicht immer so mühelos kann. Es soll nicht das Bild vermittelt werden, dass wir Tauben das alle könnten wie Magie. Es gibt Szenen, da versteht sie nichts und das Schreiben auf Papier kommt zum Einsatz oder ein Tabletcomputer, mit dem sie die Gespräche mitlesen kann. Wir Tauben nutzen solche Programme im Arbeitsalltag eher nicht, aber es war günstiger. Zudem lernen einige Arztkollegen gebärden und können es dann unterschiedlich gut.

Ab Juni wirst du in weiteren Folgen zu sehen sein. War das von Anfang an geplant? Wie regelmäßig tauchst du da auf?

Ja, es war von Anfang geplant. Schritt für Schritt lernt der Zuschauer sie kennen und sie wird immer öfter auftauchen. Bislang sind bereits 14 Folgen mit mir abgedreht worden.

Foto von Kassandra Wedel. Sie ist eine weiße Frau mittleren Alters, hat dunkle, kinnlange Haare und trägt einen weißen Kittel. Sie schaut in die Kamera und macht eine Gebärde.
Hat den Sprung ins lineare Fernsehen geschafft: Wedel ist regelmäßig bei "In aller Freundschaft - die jungen Ärzte" zu sehen. Foto: ARD / Jens-Ulrich Koch

Was bedeutet das für dich als Taube Schauspielerin, fester Bestandteil einer beliebten ARD-Fernsehserie zu sein?

Also das war überfällig. In den USA laufen doch schon längst Serien mit Tauben Schauspielern. Bei uns gab es das nicht. Europa ist durch das geschichtliche Verbot der Gebärdensprache einfach hinterher. Deshalb ist es schon ein wichtiger Schritt. Ich war zwar neben dem Tatort noch in einigen kleineren Episodenrollen, aber die waren meistens sehr auf ihre Taubheit reduziert. Ich denke, in dieser Rolle habe ich die Möglichkeit auf einen Charakter, der sich entwickeln kann. Es regt bestimmt zur Diskussion an und das Publikum wird sensibilisiert.

Wie läuft das eigentlich bei den Dreharbeiten ab?

Alle bemühen sich. An meinem ersten Tag konnten die meisten Mitarbeiter vom Team „Herzlich willkommen!“ oder „Wie geht‘s?“ gebärden. Beim ersten Drehtag hat ein Schauspieler sehr schnell einige Gebärden am Set gelernt. Er wollte die dann auch vor der Kamera nutzen. Aber seine Rolle durfte das nicht einfach so plötzlich gut können, er musste sich zurückhalten. Ich habe wie immer Dolmetscher am Set, zudem für den Beginn eine Schauspiel-Coachin (Schauspielerin und Dolmetscherin) für die Charakterarbeit an dieser Rolle. Wir machen auch Änderungsvorschläge beim Skript und überlegen die Gebärden zusammen.
Trotzdem wünsche ich mir einen Deaf Supervisor. Denn ich arbeite nicht zum ersten Mal mit Hörenden, sondern schon mein ganzes Leben. Umgekehrt ist es für alle neu. Leider ist Inklusion teuer, das müsste anders gelöst sein. Sonst haben Taube Schauspieler immer das Dilemma, dass sie „teurer“ sind als Hörende.

Es war nicht deine erste TV-Rolle, du hattest bereits Gastauftritte in anderen Fernsehserien wie Hubert ohne Staller oder Dr. Klein. Was kannst du generell über deine Erfahrungen berichten?

Jeder Regisseur arbeitet anders. Dazu muss man wissen: Auch bei In aller Freundschaft ist es immer eine andere Regie.
Bei einem Werbedreh wollte ein Regisseur, dass ich ohne die gehörlosentypische Mimik gebärde. Es wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass ich das mit den Lippenschürzen oder dem kleinen Lächeln lassen soll. Es war so, als würde er der visuellen Sprache die mimische Betonung nehmen. Ich fühlte mich unwohl. In solchen Momenten ist es schwierig, die einzige Taube am Set zu sein.

Wie willst du dann das Beste aus dir herausholen, wenn die Regie deine Sprache nicht kann?

Ich kann es nicht oft genug wiederholen: Deaf Supervisors beziehungsweise Coachs braucht es am Set! Nicht nur für mich, sondern vor allem für alle anderen.
Ich kam einmal in den Genuss, Andreas Costrau bei Käthe und ich am Set zu haben und es war eine Wohltat für mich. Es gab Raum für Vertrauen und ich konnte mich auf meinen Job konzentrieren. Andreas hatte meinen Schauspielkollegen so gut gecoacht, ich war so erstaunt. Sonst musste ich immer für so viel anderes mitdenken und aufklären. Eigentlich nicht mein Job, da war ich so frei. Ich kann aus Erfahrung sagen: Das Theater ist da weiter und kreativer als der Film. Und ich brauche meinen Raum, um mich entfalten und entwickeln zu können!
Aber generell fällt mir in letzter Zeit auf: Es fehlt oft an Begegnung und Sichtbarkeit. Am häufigsten wird beim Film gesagt: Ich habe noch nie mit einer Tauben Schauspielerin gearbeitet und wusste nicht, dass es welche gibt. Ich bin jedes Mal sehr erstaunt darüber. Denn ich weiß es von klein auf. Also wir müssen raus in die Welt!

Dieser Artikel ist zuerst in der Deutschen Gehörlosenzeitung (Ausgabe 05/2022) erschienen.

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