Corona als Chance für cinematografische Vielfalt

Ein Mann im weißen Unterhem wird von einer Person mit einer Kamera gefilmt. Es ist ein schwarz-weiß-Bild.
Gehörlose Menschen als Filmemacher*innen: Kameramann Tobias Lehmann bei den Dreharbeiten zu seinem Film "Scarlett". Foto: privat
Lesezeit ca. 6 Minuten

Zwei gehörlose Filmschaffende versuchen trotz Corona, im gesellschaftlichen Fokus zu bleiben. Ihre Statements im Bündnis „Vielfalt im Film“ ist eine Chance für taube Künstler*innen vor und hinter der Kamera. Norbert Richter von der Deutschen Gehörlosenzeitung hat mit ihnen gesprochen.

Informationen in Einfacher Sprache

Gehörlose Menschen hören nicht oder nur schlecht.

Für sie gibt es nur wenige Filme. 
Und: Nur wenige gehörlose Menschen machen Filme.

Anne Zander und Tobias Lehmann sind solche Menschen. Anne ist Schauspielerin. Tobias ein Filmemacher.

Für gehörlose Menschen gibt es beim Filme machen viele Barrieren. Ein Beispiel: Viele gehörlose Menschen brauchen einen Übersetzer für Gebärdensprache.

Bei dieser Sprache formt man mit den Händen Worte.

Diese Übersetzer sind aber leider teuer. Viele können sie sich nicht leisten.

Für Anne Zander und Tobias Lehmann war Corona schlecht. Alles wurde abgesagt oder auf später verschoben. Sie konnten nicht mehr arbeiten wie vorher.

Die Zeit haben die beiden trotzdem gut genutzt. Sie machen gemeinsam darauf aufmerksam: Es ist schwierig als gehörloser Mensch bei Filmen mitzumachen.

Sie sind deshalb bei Vielfalt im Film. Vielfalt im Film möchte herausfinden: Kann jeder, der will, Filma machen? Wo sind Barrieren?

Als rollerskatende Schauspielerin zeigte Anne Zander beim Stück Der Diener zweier Herren vom Deutschen Gehörlosentheater (DGT) eine ungewöhnliche Kombination. Auch im jüngsten DGT-Stück Die Hauptsache war sie zu sehen. Ihr Einstieg in die Kunstszene der Gehörlosen erfolgte bereits 2017, mit der Bühnenproduktion Ein Sommernachtstraum von Possible World. Das künstlerische Talent liegt ihr wohl in den Genen: Ihr Vater ist Thomas Zander, in den Neunziger Jahren eine feste Schauspielgröße beim DGT und heute Vorstandsmitglied.

Doch die Corona-Pandemie stellt die komplette Kunstbranche vor eine große Herausforderung. Die gebürtige Berlinerin erzählt: „Für mich war das eine Katastrophe, denn das Jahr war durchgeplant.“ Im April des vorigen Jahres war ein Theaterprojekt geplant, bei dem sie als Roller-Derby-Expertin und Rollerskate-Coach tätig sein sollte. „Dann wurde entschieden wurde, das Großprojekt zu streichen. Hier wurde mir bewusst, welche Auswirkung eine Pandemie mit sich bringt.“ Das sei echt schwer gewesen, sagt Zander. Doch nicht alle Projekte wurden komplett gestrichen. „Einige wenige werden noch immer verschoben.“ Um die Zeit sinnvoll zu überbrücken, machte sie umfassende Recherchen im Internet. Dabei entdeckte sie per Zufall die Homepage vom Bündnis Vielfalt im Film.

Anne Zander erinnert sich: „Dort wurde auch von Barrierefreiheit geschrieben.“ Trotzdem waren die Informationsfilme nicht untertitelt. Also schrieb sie an einem Sonntag einen Hinweis zu den fehlenden Untertiteln. Nur kurze Zeit später erhielt sie eine Rückmeldung, wenige Tage später waren die Infofilme untertitelt. „Da wurde mir schlagartig klar, dass ich diese Chance nicht verstreichen lassen sollte.“ Die Berlinerin entschied sich für ein Statement. Als Randgruppe werde die Gebärdensprachgemeinschaft selten in Filmen gezeigt. „Dabei bietet die Deaf-Community vielfältige Geschichten, ohne ausschließlich auf den fehlenden Zugang zur Musik reduziert zu werden.“

Eine weiße Frau mit schwarzen Haaren steht auf weißen Rollschuhen in der Hocke.
Anne Zander, ausgebildete Schauspielerin, setzt sich für Barrierefreiheit und Vielfalt im Film ein. Foto: Tobias Lehmann

Aktuell erfahren Künstler durch Corona eine etwas andere Aufmerksamkeit. „Also holte ich für mein Statement-Video Tobias Lehmann als Kameramann ins Boot.“ Der gelernte Feinwerkmechaniker hat mit seinem Ausbildungsberuf aktuell nichts mehr am Hut. „Hier bin ich Anne sehr dankbar, dass sie mir diese Berufsperspektive aufzeigte. Sie machte mir Mut, als Filmemacher zu arbeiten.“ Lehmann las verschiedene Bücher zum Thema Film. „In der Industriebranche ist er total fehl am Platz“, lobt Zander sein künstlerisches und technisches Talent. Sie ließ sich 2012 bis 2014 an der Filmuniversität Babelsberg zur Schauspielerin ausbilden. Seine Fähigkeiten brachte Lehmann dagegen sich selbst bei. „Die Plattform YouTube eignet sich sehr gut fürs Autodiktat (= Selbststudium)“, erzählt der Kameramann.

Der Cinematograf ist in einer gehörlosen Familie aufgewachsen. Dann ertaubte er durch eine Hirnhautentzündung mit anderthalb Jahren. Von klein auf interessierte er sich für Filme und wollte schon immer selbst hinter der Kamera stehen. Der Filmemacher erzählt: „In der Gehörlosenschule wollte ich unbedingt einen Schüleraustausch in die USA machen.“ Aber die Lehrer rieten ihm davon ab: „Du hast doch sowieso keine Chancen!“

Eine weiße Frau performt auf einer Bühne. Sie trägt schwarz-weiß gemusterte Klamotten.
Zander wirkte unter anderem bei zwei DGT-Stücken mit: "Die Diener zweier Herren". Foto_ DGZ / Fabian Spillner
Eine weiße Frau trägt eine weiße Perrücke und ein gelbes Kleid. Sie schaut grimmig.
"Die Hauptsache". Foto: DGZ / Anton Schneid

Lehmann war unter anderem auch für die Filmbeiträge vor und während des ViFest 2018 verantwortlich. Als tauber Filmschaffender passte er zu Vielfalt im Film. „Trotzdem wollten wir nicht die Einzigen bleiben“, erzählt Zander. Um in unserer Community auf diese Umfrage aufmerksam zu machen, haben wir verschiedene Plattformen angeschrieben. „Der nächste Schritt wäre, eine gute Initiativgruppe zu finden.“ Dort könne man sich untereinander austauschen – so die Idee. Lehmann ergänzt: „Beispielsweise ist die Aktionsgruppe Kinoblindgänger (für sehbehinderte Filmfreunde, d. Red.) im Bündnis vertreten. Da ist es schon sehr schade, dass die Deaf-Community nicht dabei ist.“

Der Kurzfilm Scarlett – ein Psychothriller – ist eine gemeinsame Produktion von Lehmann und Mirko Scheit. Er lief im letzten August beim dotdotdot Open Air Kurzfilmfestival in Wien. Neben drei weiteren Filmen von und mit gebärdensprachigen Filmschaffenden fand der Film großen Gefallen im gemischten Publikum. Hier lobten die hörenden Zuschauer auch das Sounddesign. „Das übernahm Tim Greiner, der einzige Hörende in unserer Crew.“ Eigentlich hatten Lehmann und Scheit geplant, den Film ohne Ton zu zeigen. „Zum Glück entschieden wir uns anders.“

Lehmann erklärt: „Mirko und ich entschieden uns für diesen Namen, weil dieser sich aus Scary (= unheimlich) und Letter (= Brief) zusammensetzt.“ So bekomme man eine ungefähre Ahnung, was im 15-minütigen Kurzfilm passiert. Lachend fügt er an: „Mehr will ich nicht verraten.“ Beim Deaf Rochester Film Festival in den USA im Oktober 2020 konnte Scarlett den Preis für die beste Cinematography (= Kameraführung, Bildsprache) gewinnen.

Ein weißer Mann wirft einen Fotoaparat in die Luft.
Foto: Tobias Lehmann
Eignete sich die Fähigkeiten auf YouTube an: Der Filmemacher Tobias Lehmanninteressierte sich schon von kleinauf für Filme. Foto: Johannes Kruse

Mit Scarlett haben die beiden Filmschaffenden sich bei zahlreichen Festivals für Kurzfilme beworben. „Von 5.000 eingereichten Filmen werden nur ungefähr 30 Filme bei einem Festival gezeigt.“ Vielleicht bestehe noch Chance, den Kurzfilm bei dem einen oder anderen Festival zu zeigen. „Wir planen unseren Kurzfilm auch in der Gebärdensprachcommunity zu zeigen“, sagt Lehmann. Hier feile man noch am passenden Konzept. Einige Ideen dafür haben die beiden auch schon.

Aktuell drehen Lehmann und Scheit den zweiten Kurzfilm auf eigene Kosten. Sie wollen nicht zu viel verraten. Allerdings leide der Dreh unter der aktuellen Situation. „Durch die ständigen Regel-Änderungen ist es nahezu unmöglich, gemeinsam konsequent im Team zu arbeiten“, so Lehmann. Zwar nutze man Zoom für den Austausch, für einen Dreh sei dies jedoch keine optimale Lösung. Der Filmemacher verrät noch ein weiteres Detail: „Ein dritter Kurzfilm ist bereits in Planung.“

Die Plattform Vielfalt im Film sei schon wichtig, meint der Berliner. „Nur so werden wir sichtbarer.“ Man könne sich besser vernetzen. „Gerade die Chance eines Austausches oder einer Zusammenarbeit mit hörenden Filmschaffenden ist hier sehr groß.“ Vom Bündnis Vielfalt im Film profitieren auch gehörlose Filmschaffende. So kann allen ein wenig die Angst vor der Kontaktaufnahme genommen werden, wenn eine aktive Initiativgruppe dabei sei.

Die Geschichte eines unheimlichen Briefes: Der 15-minütige Kurzfilm "Scarlett", den Lehmann mit Mirko Scheit produzierte. Foto: Tobias Lehmann

Mit etwas Sorge beobachte man aber die Entwicklung der Dolmetscherkosten. Gerade kleine Filmemacher arbeiten mit kleinem Budget. Da schrecke der hohe Kostenfaktor ab. „Eine weitere, vermeidbare Hürde für gehörlose Schauspieler.“ Zander und Lehman meinen unisono: „Wir würden uns wünschen, mit Gebärdensprachdolmetschern ins Gespräch zu kommen. Vielleicht finden wir hier eine ideale Lösung für alle.“ Gehörlose sollen genauso die Chance bekommen, in verschiedenen Bereichen der Filmproduktion mitzuwirken. Deshalb brauche man besseren Zugang zu Film- und Schauspiel-Studiengängen.

Wie vielfältig ist die deutsche Filmbranche?
Das Bündnis „Vielfalt im Film“: Wer dahinter steckt und was die Umfrage herausfinden will

Wie viel Diversität ist in deutschsprachigen Filmen? Stehen auch Menschen mit Behinderung vor oder hinter der Kamera? Spiegelt die Filmbranche das gesellschaftliche Leben in Deutschland wider? Ist es möglich, diese Branche gerechter zu gestalten?

Das Bündnis „Vielfalt im Film“ veranlasste dazu eine Onlineumfrage. In dieser Initiativgruppe sind unter anderem auch der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband und Leidmedien zu finden. Über 6.000 Filmschaffende aus 440 Berufen nahmen an der Umfrage teil. Die Umfrage wurde auch bei Taubenschlag und in den sozialen Medien beworben – in der Hoffnung, gehörlose Filmschaffende zu erreichen. Am 24. März 2021 wurden erste Ergebnisse bei einer Pressekonferenz vorgestellt.

Erstmals liegen umfassende Daten zu Vielfalt und Diskriminierung vor und hinter der Kamera vor. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass Menschen mit unterschiedlichen Vielfaltsbezügen eingeschränkt werden. Viele berichteten von sexistischen, rassistischen oder behindertenfeindlichen Diskriminierungserfahrungen. Die nun dokumentierten Erfahrungen zeigen, dass Diskriminierung in der gesamten deutschsprachigen Filmbranche noch immer Alltag ist. Die Umfrage begann Mitte Juli und endete im Oktober des letzten Jahres. Ein ausführlicher Bericht soll im Herbst veröffentlicht werden.

www.vielfaltimfilm.de

Dieser Artikel ist zuerst in der Deutschen Gehörlosenzeitung (Ausgabe 04/2021) erschienen.

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