Inklusion ist ein Menschenrecht, doch die Realität sieht ganz anders aus. Wie können wir Ableismus abbauen und Kinder in ihrer Vielfalt, ob mit oder ohne Behinderung, begleiten und stärken? Das neue Buch von Rebecca Maskos und Mareice Kaiser ist ein bunter Mix aus Interviews, Erfahrungsberichten, Texten von Expert*innen und praktischen Tipps für den Alltag. Carolin Schmidt hat das Buch für uns gelesen.
Buch zu Ableismus als Teil der Empowerment-Reihe
„Bist du behindert, oder was?“ Diese Beleidigung haben wir wohl alle im Ohr – anstelle eines „Geht’s noch?“ oder „Was soll das?“ ist sie immer noch präsent, besonders bei jungen Menschen. Dass die Frage im Kern wichtig ist und wie das alles mit unserer ableistischen Gesellschaft zusammenhängt, zeigt ein Buch, das kürzlich im Berliner Verlag familiar faces erschienen ist: „Bist du behindert, oder was? Kinder inklusiv stärken und ableismussensibel begleiten“.
Unlängst erschienen hier auch die beiden Titel „Wie erkläre ich Kindern Rassismus? Rassismussensible Begleitung und Empowerment von klein auf“, herausgegeben von Josephine Apraku und „Mädchen, Junge, Kind. Geschlechtersensible Begleitung und Empowerment von klein auf“, herausgegeben von Daniela Thörner, die neue Standards setzen in Bezug auf eine antidiskriminierende und gendersensible Erziehung. Auch das Lesen dieses Bandes macht Spaß, gibt Einblicke in vielfältige Lebensrealitäten und praktische Tipps für eine persönliche Sensibilisierung – ob mit oder ohne Kind. Als „neue Lektüre für gemeinsames Lernen“ werden die Bücher auf der Webseite des Verlages beworben und diese Idee ist Programm. Die Wissenschaftlerin und Journalistin Rebecca Maskos und die Journalistin und Autorin Mareice Kaiser haben eine persönliche Handreichung inklusive praktischem Nachschlagewerk für alle zusammengestellt.
Es reiht sich ein in eine Bandbreite anderer Sachbücher und aktivistischer Literatur aus der Behinderten-Community, die in letzter Zeit zu diesem Thema erschienen sind – etwa das neue Standardwerk Stoppt Ableismus von Anne Gersdorff und Karina Sturm, Angry Cripples. Stimmen behinderter Menschen gegen Ableismus, herausgegeben von Luisa L’Audace und Alice Buschmann, Andrea Schöne’s Buch Behinderung & Ableismus oder das Buch Radikale Inklusion von Hannah Wahl.
Wo stehen wir und was wollen wir erreichen?
„Die Szene hat sich in den letzten Jahren sehr ausdifferenziert“, berichtet mir Rebecca Maskos in einem Interview über die behindertenaktivistische Szene derzeit. „Neben den ‚Alteingesessenen‘, die zum Beispiel rund um Selbstbestimmt-Leben-Zentren wichtige Beratungs- und Lobbyarbeit machen, und dabei im Netz kaum wahrgenommen werden, gibt es immer mehr Online-Aktivismus. Der Begriff Ableismus scheint mir in Sozialen Medien wie ein Motor zu sein, der Behinderung als Diskriminierungskategorie sichtbarer macht, und damit auch seine Verbindung zu anderen Formen von Diskriminierung und Intersektionalität. Die Bücher, die neu herausgekommen sind, drücken das aus und sind ein wichtiges Zeichen – wir sind hier, unsere Stimmen sind laut, wir haben ein Recht darauf, gehört zu werden.“
In ihrem Buch klären Rebecca Maskos und Mareice Kaiser grundsätzliche Fragen – was Behinderung eigentlich ist, was Ableismus bedeutet und was der Begriff Inklusion umfasst. Laut Kaiser geht es bei Inklusion nämlich nicht nur um die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung, sondern auch um die Partizipation von Menschen, die aufgrund anderer Merkmale oder Eigenschaften ausgeschlossen und diskriminiert werden, etwa durch ein geringes Einkommen, ihrer Religionszugehörigkeit oder der Rassifizierung ihrer Person. Aber wie sieht eine inklusive Gesellschaft aus? Kaiser zitiert hier ihre Mitherausgeberin: „Die inklusive Gesellschaft würde nicht mehr danach fragen, ob jemand behindert ist oder nicht. Nicht mehr einteilen in ,behindert’ oder ,nicht behindert’. Sondern Inklusion würde danach fragen: Welche Bedürfnisse hat eine Person?“ In Hinblick auf andere Diskriminierungsformen könnte man hinzufügen: Eine inklusive Gesellschaft unterscheidet nicht aufgrund unterschiedlicher Merkmale einer Person, sondern fragt: Welche Interessen, welche Fähigkeiten bringt eine Person mit und wie kann ich diese Vielfalt, aber auch die Unterschiede wertschätzen? Im letzten Jahr erschien zu ebendiesen Fragen das Buch „Die Schönheit der Differenz“ der Journalistin Hadija Haruna-Oelker, die einen offenen Umgang mit Heterogenität ins Zentrum stellt und schreibt: „Differenz bedeutet für mich nicht, anders zu sein, sondern ist eine alltägliche und schöne Erfahrung im Miteinander. Differenz ist meine Normalität (…).“
Diese offene Grundhaltung ist auch in diesem Buch zu spüren. Es gibt Raum, dazuzulernen und es wird klar, dass es unterschiedliche Aspekte, Perspektiven, Bedürfnisse nebeneinander gibt: „Wichtig finde ich auch, dass klar wird, dass es nicht nur eine Antwort gibt auf Fragen rund um Ableismus und Inklusion. Es gibt auch nicht nur einen Weg“, sagt Rebecca Maskos in einem Interview zum Beginn des Buches.
Die inklusive Gesellschaft würde nicht mehr danach fragen, ob jemand behindert ist oder nicht. Nicht mehr einteilen in ,behindert’ oder ,nicht behindert’. Sondern Inklusion würde danach fragen: Welche Bedürfnisse hat eine Person?
Rebecca Maskos
Rebecca Maskos & Mareice Kaiser
Rebecca Maskos
bewegt sich im Rollstuhl durch Berlin und ist sehr klein. Sie ist Teil der Behindertenbewegung, Psychologin, Journalistin und promovierte Wissenschaftlerin in den Disability Studies. Sie setzt sich ein für eine inklusive Gesellschaft und gegen Ableismus, für feministische Perspektiven auf Behinderung, kritisiert Medien und Bioethik.
Mareice Kaiser fährt gern Fahrrad und hört oft: Du bist aber groß! Sie scrollt, schreibt und spricht zu Gerechtigkeitsthemen in Berlin und im Internet. Als Journalistin setzt sie sich für einen Journalismus ein, der für alle, von allen und mit allen gemacht wird. Als Buchautorin beschäftigt sie sich mit der Frage, wie unsere Gesellschaft gerechter werden kann. Unterwegs ist sie meistens mit ihrem Kind und immer wieder mit ihrem neurodiversen Gehirn.
Kurzportraits zu Thema wie Elternschaft, Bildung und Repräsentation
Wie vielfältig die Perspektiven auf Behinderung sind, wird besonders durch Porträts von Menschen mit Behinderung deutlich, die kurze, konzentrierte Blicklichter bilden. Die Moderatorin und Autorin Ninia LaGrande etwa berichtet von dem Wunsch, Kinder einfach mal machen zu lassen, ihnen Erfolg und Scheitern zuzutrauen und sie in ihrer Selbständigkeit zu fördern, was sich vor allem an Eltern, Bezugspersonen und Pädagog*innen von Kindern mit Behinderung richtet. Von diesem Wunsch berichtet auch Barbara Zimmermann, die aus der Elternperspektive über Ableismus in der Familie schreibt. Gemeinsam mit Simone Rouchi und Anna Mendel betreibt sie den Blog Kaiserinnenreich, der sich als Plattform für pflegende Eltern im deutschsprachigen Raum versteht. Sie kritisiert in ihrem Portrait einen Satz, den wohl alle Eltern schon einmal so oder so ähnlich gesagt haben, unabhängig davon, ob das Kind eine Behinderung hat oder nicht: „Ich mache das schnell für dich.“ Denn wer kennt sie nicht – die Tage, an denen Termine anstehen und keine Zeit ist für Extra-Schleifen. Aber wie soll ein Kind etwas lernen, wenn es nicht üben darf? Wie soll es wachsen, wenn es nicht scheitern darf?
Ed Greve, politischer Referent im Migrationsrat Berlin e.V., plädiert in seinem Portrait für „einen verbindlichen Veränderungsprozess in der Bildungspolitik“ durch „ein Format mit Selbstvertreter*innen aller marginalisierter Gruppen“. Das klingt so utopisch und doch wieder so einfach und sinnvoll. Gleich dem Grundsatz aus der Behinderten-Community, der schon seit den 1960ern im Zentrum der politischen Forderungen steht: „Nichts über uns ohne uns!“. Wie sieht es also damit aus, liebe Bundesregierung, liebe Bettina Stark-Watzinger? Das Motto auf der Webseite der Bundesministerin für Bildung und Forschung lautet: „Die Zukunft gehört denen, die etwas tun.“ Wie ernst ist das gemeint und inwiefern können wir alle dazu beitragen? Es wäre an der Zeit für ein gemeinsames Arbeitstreffen.
Beim Thema Bildung schwingt auch der Aspekt der Gerechtigkeit mit, über das ebenfalls einige Autor*innen schreiben. Etwa Dimitris Koch, der über die ungleichen Chancen in der Schulbildung und das ausbeuterische System der Werkstätten für Menschen mit Behinderung spricht: „Ich hätte mir mehr Unterstützung von den Lehrern gewünscht, dass man mir mehr Zeit zum Lernen lässt.“ Sollte das nicht das absolute Minimum sein, was Kinder von ihrer Schulbildung erwarten können? Tina Sander, die gemeinsam mit anderen Eltern behinderter Kinder in Köln den Verein mittendrin e.V. gegründet hat, fordert, ähnlich wie auch Maskos es allgemein formuliert, Pädagog*innen in den Schulen auf, sich folgendes zu fragen: „Was braucht dieses Kind hier an unserer Schule, um die große individuelle Herausforderung zu meistern? Wo und wie können wir unterstützen?“
Ein weiterer, wichtiger Aspekt von Bildung ist Literatur. Welche Kinder kommen wie in Büchern vor? Wie wird über Behinderung gesprochen, wie wird Behinderung gezeigt? In einem Interview mit Adina Hermann und Raul Krauthausen, die gerade auch ihr eigenes Kinderbuch „Als Ela das All eroberte“ veröffentlicht haben, erklärt Hermann, wie wichtig es ist, dass die Diagnose oder die Behinderung nicht im Vordergrund stehen solle, sondern die aufregende Geschichte selbst. „Das Kind hat an ihr Teil, mit seiner Behinderung, und steht nicht nur am Rand.“ Zudem teilen die beiden Tipps zum Thema Empowerment behinderter Kinder. Ihr Ansatz ist bedürfnisorientiert – viele Anregungen sind generell für die Beziehung zwischen Bezugspersonen und ihren Kindern wichtig. Etwa, dass Kinder ein Recht darauf haben, altersgerecht in Entscheidungen bezüglich ihres Körpers mit eingebunden zu werden, dass man keinen Leistungsdruck ausüben soll oder etwa zeigt, dass es in Ordnung ist, Hilfe anzunehmen.
Wichtig finde ich, dass es eine Offenheit gibt, über Themen zu sprechen, die noch immer manchmal schambehaftet sind. Themen, die man vielleicht nicht auf den ersten Blick sieht. Wie geht es mir gerade, bin ich diese Woche belastbar oder nicht?
Mareice Kaiser
Barrierefreiheit in der Literatur
Neben den Artikeln, Portraits und Interviews ist in dem Buch auch ein Glossar zu finden, das wichtige Begriffe verständlich erklärt sowie eine thematisch sortierte Liste mit Literaturtipps. Die Autor*innen betonen, dass ihre Arbeit nicht im luftleeren Raum passiert, sondern „dass behinderte Aktivist*innen und Forschende aus den Disability Studies auch schon vor der Debatte um Ableismus viel zu Diskriminierung und Behinderung geschrieben haben – analytisch, gesellschaftskritisch, aber auch persönlich“, so Rebecca Maskos. Zudem sorgen die liebevollen und witzigen Zeichnungen von Slinga und Max Hillerzeder zusätzlich für Leichtigkeit und Humor.
Vor jedem Kapitel steht eine Zusammenfassung in Einfacher Sprache, die durch Bildungs- und Inklusionsreferent*innen mit Behinderung aus dem Projekt QuaBIS erstellt wurden. Die Texte sind nicht nur farblich gerahmt, sondern auch durch die größere Schriftgröße und kürzeren Zeilen einfach zu lesen. Eine Maßnahme für mehr Barrierefreiheit in der Literatur, die sich leicht auch als Standard für andere Sachbücher umsetzen ließe. Auch während der Entwicklung des Buches waren Barrierefreiheit und ein solidarisches Miteinander Thema, so Mareice Kaiser: „Wichtig finde ich, dass es eine Offenheit gibt, über Themen zu sprechen, die noch immer manchmal schambehaftet sind. Themen, die man vielleicht nicht auf den ersten Blick sieht. Wie geht es mir gerade, bin ich diese Woche belastbar oder nicht? Aus welchen Gründen auch immer. Rebecca und ich konnten das. Offen miteinander Kapazitäten besprechen und uns so aufteilen, dass es uns beiden gut geht. Dazu gehört viel Vertrauen.“ Dieser Prozess vor Veröffentlichung eines Buches wird selten besprochen und gehört doch zu den Themen, die mehr Aufmerksamkeit verdienen, um Barrieren abzubauen und allen Autor*innen unabhängig ihrer Einschränkungen die Möglichkeit zu geben, ihren Weg in die Literaturbranche zu finden.
Es wird Zeit, dass wir gemeinsam lernen. Dass nicht-behinderte Kinder und behinderte Kinder die Möglichkeit haben, zusammen aufzuwachsen, zusammen zu lernen, eine bedürfnisorientierte Bildung zu erfahren und wir Stück für Stück ableistische Strukturen und Denkweisen abbauen. Dieses Buch bringt uns einen Schritt näher dahin.