Wenn hörende Privilegierte Fragen stellen

Das Logo von Die Neue Norm auf türkiesem Grund. Rechts davon steht: Die Neue Kolumne. Unten steht: Von Lela Finkbeiner
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“Ist ja alles schön und gut: Dolmetschende für deutsche Gebärdensprache. Gebärdensprache ist faszinierend und schön, aber was das alles kostet! Viel zu teuer für einen Menschen alleine”, wirft einer der Studierenden in die Runde. Aus dem Augenwinkel beobachte ich meine Dolmetschenden, die angestrengt um Fassung ringen. Verständlich – denn wenn sie in ihrem Beisein von anderen zum Thema gemacht werden, haben sie sich zurück zu halten. Das schreibt ihnen ihr Rollenverständnis vor. Die Blicke der unbeteiligten Studierenden schweifen irritiert hin und her. Die Situation wäre eine gute Filmsequenz für einen Kinofilm.

Ich arbeite an unterschiedlichen Hochschulen als Lehrbeauftragte. Meine Schwerpunkte sind “Wissenschaft der Gebärdensprachen und Kultur (Deaf Studies)”. Daneben bin ich mit Herzblut Autorin und Aktivistin. In meinen Seminaren sitzen zum größten Teil Studierende aus den linguistischen, sozialen, medizinischen Bereichen und manchmal scheinen sich auch Studierende aus anderen Fächern in meine Seminare zu verirren. Wie hier in diesem Fall ein BWL-Studierender, der sich selbstbewusst und herausfordernd zu Wort meldet. In den meisten Fällen sind die Studierenden eher schüchtern. Wenn sich jemand traut, Fragen zu stellen, dann beziehen sie sich in der Regel auf Prüfungsmodalitäten und thematische Bereiche. Vielleicht sind die Berührungsängste gegenüber einer tauben Dozentin mit Dolmetschenden zu groß? Vielleicht spielen auch noch andere Faktoren eine Rolle, die zu einer gewissen Schüchternheit führen.

“Das Hören kostet den Staat viel mehr Geld als eine Taubheit… Ach, sie glauben mir nicht?”, entgegne ich. Plötzlich vergeht den Studierenden im Raum das Lächeln, sie scheinen eher verwirrt zu sein. “Wie kann es sein, dass Taubheit die Staatskassen weniger belastet? Das sind doch alles Behinderte und die kosten nun mal mehr Geld. Das wissen doch alle Menschen.

Stichwort Lärmschutz: Lärmschutz umfasst alle Maßnahmen der Lärmbekämpfung und ist Teil des Immissionsschutzes. Darüber hinaus ist er ein wichtiger Bestandteil des Arbeits- und Umweltschutzes. Er soll vor körperlichen, seelischen und materiellen Schäden schützen, wie z.B. körperlicher Stress, körperliche Schäden (Schädigung des Gehörs, des Immunsystems und des Herz-Kreislauf-Systems, seelischer Stress) sowie Vermögensschäden, z. B. durch Wertverluste von Immobilien, die starken Lärmeinwirkungen ausgesetzt sind. Das begründet, weshalb Staat und die Wirtschaft in Lärmschutzwalle an Autobahnen investieren, warum Ruhezeiten existieren und der Wirtschaft infolgedessen Einnahmen fehlen. 

Für Arbeitnehmer:innen in Betrieben gibt es Gehörschutz und noch viel mehr. Wenn ich das Ganze gegeneinander aufrechne, ist ein gut funktionierendes Gehör teurer als Taubsein. Rechnerisch betrachtet, würden Menschen, die hören können, den Staat weniger kosten, wenn sie alle taub wären und die Gebärdensprache beherrschten.” 

Es geht hier aber nicht um das feine Aufrechnen von Kosten oder das Gegenüberstellen von Menschengruppen. Wir alle haben unterschiedliche Bedürfnisse, die zu achten sind. Diesen Bedürfnissen Rechnung zu tragen, ist ein Menschenrecht. Menschenrechte lassen sich nicht mit Geld aufwiegen. Der Begriff “Menschenrecht” ist jedem Menschen irgendwie geläufig. Meist wird er mit Kriegsgebieten in Verbindung gebracht. Amnesty International oder Human Rights Watch sind vielen ein Begriff. In Deutschland aber herrscht Frieden. Menschenrechte – so glauben viele hier – seien darum kein Thema. Mitnichten; denn schauen wir uns den Begriff näher an, kommen wir nicht umhin, uns mit seiner Definition zu beschäftigen: Als Menschenrechte werden moralisch begründete, individuelle Freiheits- und Autonomierechte bezeichnet, die jedem Menschen allein aufgrund seines Menschseins gleichermaßen zustehen. Dabei geht es vor allem um Würde.

Leider ist die allgemeine Definition dieses Wortes kein juristisch verbindliches Dokument. Angeblich hat die allgemeine Definition der Menschenrechte ein politisches und moralisches sehr großes Gewicht, genauso verhält es sich mit der UN-BRK. “Großes moralisches Gewicht” hin oder her: Das Gewicht verblasst, wenn es um Kosten geht. Nichts Neues. Und genau deshalb wünsche ich mir mehr verirrte fragende Studierende in meinen Seminaren, denn diese sind später nicht selten wichtige Entscheidungsträger, nicht nur um finanzielle Mittel. Diese Entscheidungsträger sollten über den bürokratischen Tellerrand hinaus am besten einmal eine wirkliche Berührung mit den dahinter stehenden Menschen gehabt haben.

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3 Antworten

  1. interessantes Beispiel – wo eine “Gesundheit” dem Staat mehr kostet als die Behinderung :). stimmt erstmal und zeigt dann auch den Unsinn von rein ökonomischen Aspekten auf.
    was ich oft schade finde, dass zb Gebärdensprache oder Blindenschrift nicht in der Regelschule angeboten werden – zumindest als völlig “nornale” AG o.ä. Und das nicht mal als Hilfe für ‘Behinderte’, die die es werden könnten und Angehörige, Bekannte etc. Nein: als kulturelle und mentale Horizonterweiterung! Für jeden…

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