Hilfebedarf ist nicht schwarz-weiß

Das Logo von die neue Norm auf gelbem Grund. Rechts davon steht: Die Neue Kolumne. Unten steht: Von Lotte Zach.
Lesezeit ca. 4 Minuten

Neulich bin ich das erste Mal in meinem Leben eine lange Strecke mit mehrfachem Umsteigen ohne Begleitung mit dem Zug gefahren. Das war ein Abenteuer mit verschiedenen Risiken, doch ich hatte die Kraft dazu, die Energie alleine zur Toilette zu gehen und die mentale Kapazität, mit der Ungewissheit und dem Stress umzugehen, falls etwas nicht funktioniert. Deshalb habe ich es gemacht und es hat geklappt. Bedeutet das, dass ich mir das jetzt immer zutraue? -Nein!

Denn Assistenzbedarf ist etwas Dynamisches, und nicht statisch. Nicht beeinträchtigte Menschen, Dokumente der Bedarfsermittlung und Gutachter*innen gehen häufig davon aus, dass die Frage nach dem Hilfebedarf eine Ja- Nein-Frage ist. Das ist ein großer Irrtum, der viele weitreichende Probleme mit sich bringt: Als außenstehende Person beurteilen zu wollen, wann eine behinderte Person Assistenzbedarf hat und wann nicht, ist ziemlich anmaßend. Welche Diskriminierungen und zusätzliche Barrieren dadurch entstehen, möchte ich kurz erläutern:

1. Unterschiedliche Ressourcen:

Jede*r von uns hat gute und schlechte Tage. So auch Menschen mit Behinderung, und diese je nach Krankheitsbild noch viel mehr, als andere Menschen. Bei einer sogenannten dynamischen Behinderung oder Erkrankung variieren die zur Verfügung stehenden Ressourcen erheblich. An manchen Tagen ist man sehr müde oder schwach, an manchen hat man Schmerzen, an anderen Tagen kann man sich gut bewegen. Bei Ressourcen geht es aber nicht nur um Kraft oder Energie. Es geht auch um Zeit, um mentale Kapazität mit Schwierigkeiten umzugehen, um Risikobereitschaft. Bei Menschen mit körperlichen Behinderungen geht es um Beweglichkeit, um Konzentrationsfähigkeit u.v.m. Die Liste ist lang und sehr individuell. Das zeigt deutlich: Nur, weil wir etwas an einem Tag alleine gemacht haben, können wir es am nächsten Tag nicht automatisch wieder alleine machen!

Zora Schemm, eine Frau mit Down-Syndrom steht vor einem gelb-blauen Graffiti. Sie hat keine Haare und ist schulterfrei bekleideti. Sie ist mit schwarzen Mustern am Körper und Kopf bemalt.

#5 Behinderung – Superkraft oder Kryptonit?

Was macht uns als Menschen mit Behinderung aus? Würden wir zum Beispiel ohne Behinderung überhaupt diesen Podcast machen? Ob Behinderung eine Last ist oder auch Chance sein kann, besprechen wir in der aktuellen Folge unseres Bayern 2 Podcasts.

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2. Unterschiedliche Bedingungen

Als außenstehende Person scheinen zwei Situationen, zwei Bedingungen, zwei Umgebungen vielleicht identisch oder zumindest absolut vergleichbar zu sein, aber für viele Menschen mit Behinderungen sind schon kleine Nuancen von Veränderungen die Grenze zwischen Selbstständigkeit und Hilfebedarf. Das können wenige Millimeter Höhe der Toilette, ein bisschen weniger Licht, eine genuschelte Ansage in der Bahn, eine kleine Steigung oder etwas noch ganz anderes sein. Auch diese Liste ist unendlich, hoch individuell und vieles davon kann man im Vorhinein nicht wissen oder nicht beeinflussen. Für mich persönlich sind häufig die Rollstuhltoiletten zu hoch, das erfahre ich aber oft eben erst vor Ort. Auch hier sind es manchmal nur Millimeter. In glücklichen, seltenen Fällen reicht es, wenn ich die Toilettenbrille hochklappe, damit der Sitz niedriger ist. Das will man aber auch nicht immer! Niemals könnte dies jemand von außen beurteilen. Somit wäre es ein Trugschluss, zu denken, ich bräuchte dabei keine Hilfe.

3. Unterschiedliche Prioritäten

Ein weiterer, wichtiger Punkt ist die unterschiedliche Prioritätensetzung in verschiedenen Situationen. Dieser Punkt bezieht sich zum einen auf den ersten Punkt der begrenzten Ressourcen und greift den Gedanken der Spoon-Theorie auf. Mit der Spoon-Theorie versuchte Christine Miserandino, die unsichtbar chronisch erkrankt ist, einer nicht behinderten Person ihre täglichen Überlegungen und Entscheidungen näher zu bringen. Sie stellte ihre Energiereserven für einen Tag als eine begrenzte Anzahl Löffel dar. Jede Aufgabe am Tag, also das Aufstehen, das Anziehen usw. kostet einen Löffel. Durch die begrenzte Anzahl kann es dazu kommen, dass am Ende des Tages nicht mehr genug Energie bleibt, um Aufgaben zu bewältigen. Diese Theorie ist sehr wichtig, um den Hilfebedarf als dynamisch einzuschätzen: Wenn ich Aufgabe a, b, c und d alleine mache, brauche ich unglaublich lange dafür und bin danach so erschöpft, dass ich keine Zeit oder Kraft mehr für andere Dinge habe. Im meinem Alltag bedeutet das vielleicht, wenn ich ohne Hilfe aufstehe, dusche, mich anziehe und mir Frühstück mache, ist es schon 15:00 Uhr und ich bin so gerädert, dass ich nicht mehr zur Arbeit gehen kann. Diese Art von Prioritäten kann man setzen und sie ist vollkommen legitim. Für manche Menschen bedeutet es das Maximum an Lebensqualität, alles alleine zu machen. Es ist aber genauso legitim, diese Dinge mit Hilfe in kürzerer Zeit und weniger Energieaufwand tun zu wollen, um dann Zeit zu haben, andere Dinge zu tun, die für einen selbst Lebensqualität bedeuten und einen erfüllen, wie ein Beruf, ein Hobby oder soziale Beziehungen.
Prioritätensetzung kann aber auch bedeuten, dass ich an manchen Tagen auf eine Sache verzichten kann, bei der ich Hilfe bräuchte und an anderen nicht. Bei mir sind das zum Beispiel oft bestimmte Kleidungsstücke, die ich nicht alleine an- oder ausziehen kann. Ich sehe aber nicht ein, für weniger Hilfebedarf immer auf einen coolen Look, auf Schuhe oder einen BH zu verzichten. Auch das ist Lebensqualität und auch hier wäre es anmaßend von außen zu bestimmen, was „notwendig genug“ ist.

Aus den beschriebenen Punkten entstehen für Menschen mit Assistenzbedarf zwei maßgebliche Probleme: 

Zum einen werden sie von Außenstehenden immer wieder damit konfrontiert, dass sie Dinge doch angeblich selbst könnten. Sie müssen sich für ihren Hilfebedarf rechtfertigen , sowohl vor Privatpersonen, als auch vor Institutionen, die einen offiziellen Hilfebedarf ermitteln sollen und häufig wenig Verständnis für die oben genannten Punkte haben. Meist gehen diese Institutionen von idealen Bedingungen aus oder zumindest von durchschnittlichen, wenngleich sie eigentlich von suboptimalen Bedingungen ausgehen müssten.

Zum anderen führen diese Erfahrungen nicht selten dazu, dass Menschen mit Assistenzbedarf unter ihren Möglichkeiten bleiben, Dinge nicht ausprobieren oder sich nicht trauen, aus Angst davor, dass sie für zu fit oder zu selbständig angesehen werden. Abgesehen davon, dass dadurch enorm viel Lebensqualität verloren gehen kann, sorgt es darüber hinaus dafür, dass wir mit unseren Bedarfen und als Gruppe in der Öffentlichkeit und bei verschiedensten Aktivitäten unsichtbar bleiben und nicht mitgestalten. Diese Unsichtbarkeit bremst den Prozess der Inklusion zusätzlich aus. 

Indem der Hilfebedarf durch schwarz-weiß-Denken künstlich klein gehalten wird, verhindert man also aktiv eine partizipative und gestaltende Rolle von Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft. 

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8 Antworten

  1. Guten Morgen Die Neue Norm, Raul Krauthausen, besten Dank Charlotte Zach für den Beitrag.
    Mich sprach er sehr an, denn ich weiß jetzt seit mehreren Jahren, dass ich empfindlicher bin für Einflüsse auf meine Psyche, empfindlicher als wohl viele anderen Menschen, es gehört nicht viel dazu, mir meinen Tag zu retten, aber selbst kleinste Dissonanzen können mir den Tag auch verderben.
    So gesehen finde ich mich wieder in den Beschreibungen zu Tagen, an denen alles super klappt und Tagen an denen alles viel schwerer fällt. Auch am selben Tag kann die Leistung sehr schwanken, wenn ich Gras ungut wachsen höre oder das Licht nicht stimmt, oder irgendetwas an meinem Inneren rüttelt, und ich weiß nicht einmal was.

    Was aber gleich ist, was ich als gleich empfinde, unabhängig von Tagen oder dem Tag, ist, dass ich an ein Level der Überwindung dieser Empfindlichkeit, das ich als jüngerer Mensch noch erreichen konnte, einfach nicht mehr heran komme.

    Zur Zeit bin ich stark, ich bin zufrieden mit meiner Geschichtsarbeit, ich bin glücklich – aber: Es ist auch keine Dissonanz da zur Zeit – da ist das kein Wunder, aber auch keine Bestätigung dafür, dass es diese Empfindlichkeit gar nicht gäbe.

    Kommt der “Trigger”, stände ich ihm so schwach gegenüber, wie zuvor, das weiß ich.

    Deswegen gibt es doch auch eine Bandbreite an Beeinträchtigung, von der ich meine, dass man sie als generelle Behinderung für einen einzelnen Menschen auch fassen, beschreiben und mit Behinderungsgrad versehen kann.
    Es ist vielleicht kein idealer Weg, Behinderungen etwas zu relativieren, aber ich wüsste auch keinen anderen.

    Welche anderen Wege könnte es geben? Darüber wüsste ich gerne mehr.

    Einen schönen Mittwoch.

  2. Liebe Charlotte,
    vielen Dank für diesen wunderbaren Text! Ich werde ihn diversen Leuten zu lesen geben, da auch ich immer wieder in die Falle tappe, dass von mir Dinge erwartet und als feste Größe vorausgesetzt werden, die ich an guten Tagen mit Glück vielleicht kann, meistens aber eher nicht. Ich bin Blind und habe MS, da ist also genug an fluktuierenden Symptomen im Spiel, aber auch viele Unsicherheiten und Ängste, die ich je nach Tagesform sehr unterschiedlich gut handlen kann.
    Danke und alles Gute für Dich
    Lea

  3. Ich habe diesen Text mit großem Interesse gelesen. Denn mir geht es auch nicht jeden Tag gleich. Ich bin stark sehbehindert, gehe aber 30 h pro Woche arbeiten – bei einem Sozialversicherungsträger.
    Meine Kollegen sind aufgeschlossen und hilfsbereit. Mein Rehafachberater hat mich bei der Auswahl und Finanzierung meines “leidensgerechten” Arbeitsplatzes beraten und MTA gewährt. Allerdings ist meine Wegefähigkeit von vielen Dingen abhängig, z.B. der Witterung, den Lichtverhältnissen je Jahreszeit aber auch von einem funktionierenden ÖPNV. Als ich mich bei meinem Arbeitgeber nach Hilfe erkundigte war meine Führungskraft nicht überzeugt. Das hätte es noch nie gegeben, und ich könne weder beurteilen noch entscheiden, was notwendig sei.
    Sätze wie ” das haben wir schon immer so gemacht ” oder “das ist hier eine Verwaltung, da geht das nicht” können einen ganz schön entmutigen. Aber ich habe auch viel Unterstützung durch die Schwerbehindertenvertretung im Haus bekommen.
    An “schlechten” Tagen schlagen mir solche Dinge schon auf die Seele. Aber meist kann ich mich recht gut selbst motivieren und mit meinen Unsicherheiten und Sorgen umgehen.
    Macht bitte weiter mit dem Newsletter. Ich gebe einzelne Artikel meiner Familie und Kollegen zu lesen.
    Das fördert gegenseitiges Verständnis.
    Vielen Dank und liebe Grüße!

    Jeannette

  4. “Nur, weil wir etwas an einem Tag alleine gemacht haben, können wir es am nächsten Tag nicht automatisch wieder alleine machen!” Schwarz-Weiß-denken geht aber auch in die umgekehrte Richtung, nämlich: Nur weil wir zu etwas einem Tag NICHT fähig waren, heißt das noch lange nicht, das es uns an einem anderen Tag nicht doch gelingt. Leider sind Behörden/Gutachter*innen und Bedarfsermittler*innen mit einer defizitären Sichtweise darauf nicht eingestellt. Der Intelligenztest des Kindes ist im unterdurchschnittlichen Bereich ausgefallen? Na dann ist die Diagnose “geistige Behinderung” doch klar – und wird in entsprechenden Gutachten als unveränderlich in Stein gemeißelt. Dass Testergebnisse auch viel mit der von Frau Zach beschriebenen individuellen Tagesform zu tun haben, aber auch mit den Umständen (Tageszeit, Jahreszeit, keine reizarme Umgebung) und letztlich auch mit der persönlichen Voreingenommenheit der begutachtenden / bedarfsermittelnden – meist ja nicht-behinderten – Person, wird wenig bis gar nicht berücksichtigt. Statt dessen zementiert eine Momentaufnahme den Status-Quo und steht den Betroffenen keinerlei Entwicklungsmöglichkeiten zu. Weil es bequem ist Menschen nach dem, was sie können und nicht können, zu labeln und auszusortieren. Dieses Schwarz-Weiß-Denken, da gebe ich Frau Zach in jeder Hinsicht Recht, “verhindert … aktiv eine partizipative und gestaltende Rolle von Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft.”

    1. Ja das stimmt. In diese Richtung wird auch schwarz- weiß gedacht und das ist natürlich besonders bei jungen Menschen super schädlich.

  5. Liebe Frau Zach,
    Danke für den wundervollen Beitrag.
    Ich befinde mich auf der Seite der „Hilfebedarf schwarz oder weiß“ Menschen die für die Ermittlungen der Bedarfe zuständig ist.

    Ich versuche hier ein Umdenken (zu mindest in meinem Einzugsbereich) anzustoßen im Dialog mit dem Leistungsberechtigten zu schauen wie sich der Alltag gestaltet gerade auch unter der Betrachtung was heute geht kann morgen wieder anders sein.

    Gerne würde ich ihren Beitrag meinen Mitarbeiter*innen zu Verfügung stellen um hiermit auch zu untermauern das es richtig und wichtig ist die o.g. Betrachtung mit einfließen zu lassen.

    Ich bin gespannt neues zu lesen.
    Viele Grüße
    D.K.

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