Inklusion an Schulen kann nicht funktionieren? Kann sie doch! Bislang fehlt oft die Bereitschaft, sie umzusetzen und damit das Recht auf Bildung für Menschen mit Behinderung einzuhalten. Raúl Krauthausen zeigt auf, wo sich dringend etwas ändern muss und nimmt Schulen, Eltern und Lehrer*innen in die Pflicht.
Menschen mit Behinderungen sind kein radioaktives Material, dem sich nur geschultes Personal nähern darf. Das muss ich zu Beginn dieses Textes vielleicht kurz sagen. Lehrkräfte an sogenannten Regelschulen weigern sich häufig, Kinder mit Behinderung zu beschulen. „Ich bin dafür nicht ausgebildet“, sagen sie. Und ich verstehe, dass es nicht einfach ist. Die Lehrkräfte fühlen sich nicht ausreichend vorbereitet – und sind es oftmals auch nicht, das zeigen Befragungen. Aber so ergeht es auch vielen Eltern von behinderten Kindern, so ergeht es auch Verwandten, Freund*innen, Kassierer*innen, Friseur*innen von behinderten Kindern. So erging es behinderten Kindern selbst.
Sie haben auch alle keine Ausbildung für den Umgang mit der Behinderung.
Klar ist: Schule muss zu viel leisten. Sie ist nicht nur Bildungsstätte, Förderstätte, Erziehungsstätte. Sie soll Kultur und Sprache vermitteln, geflüchtete Kinder und Kinder mit Behinderung inkludieren, eine geistige Elite ausbilden und alle an ihre Potenziale heranführen, wo auch immer die liegen. Natürlich fühlen sich Lehrkräfte (und übrigens auch die vielen anderen Personen, die in Schulen arbeiten) überfordert. Die Folge: Kinder mit Behinderung fallen hinten runter und werden ausgesondert. Und das auf viele verschiedene Weisen, die den meisten Menschen gar nicht bewusst sind.
Das heißt jedoch nicht, dass Exklusion zufällig passiert. Ganz im Gegenteil, sie wird aktiv vorangetrieben. Mich schockiert der Blick hinter die Kulissen.
Das Recht auf Bildung für alle hat viele Barrieren für behinderte Menschen
Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) legt Menschenrechte für behinderte Menschen fest, die Rechte auf Inklusion, Gleichberechtigung und Selbstbestimmung. Deutschland hat sie 2009 ratifiziert. Das bedeutet, Deutschland hat einen völkerrechtlichen Vertrag geschlossen, die Rechte und Prinzipien der UN-BRK in nationales Recht umzusetzen und zu achten. Das Problem ist, dass wir in Deutschland gegen viele Aspekte der UN-BRK regelmäßig verstoßen. Nicht nur, aber auch gegen das Recht auf Bildung.
Eigentlich ist das Wohngebiet ausschlaggebend dafür, wo Kinder zur Schule gehen können. Manche Schulen entscheiden zusätzlich anhand von Notendurchschnitt oder Eignungstest über die Aufnahme an der Schule. Und ab und zu ist das Losverfahren das Mittel der Wahl. Außer, wenn das Kind eine Behinderung hat. Auch wenn Kinder ihre Eignung unter Beweis stellen, werden sie von Schulen abgelehnt oder stoßen auf großen Widerstand auf unterschiedlichen Ebenen. Ein paar Beispiele:
Schulträger*innen und Schulleitungen
Viele Schulen sind nicht barrierefrei. Schulträger*innen finden die Umbauten zu teuer und entscheiden sich regelmäßig dagegen, ihre Gebäude inklusiv zu gestalten. So werden behinderte Kinder bereits an der Eingangstür des Schulgebäudes ausgesondert.
Lehrer*innen
Wie oben erwähnt, weigern sich Lehrkräfte häufig, Kinder mit Behinderung zu beschulen. Dabei haben behinderte Kinder auch keine Wahl, mit ihrer Behinderung umzugehen. Sie finden die Umstände so vor, wie sie sind und passen sich an. Sie lernen und wachsen beim Tun. Dasselbe Mindset wünsche ich mir auch vom Lehrpersonal. Ich möchte von der Vorstellung wegkommen, dass immer eine bestimmte Expertise nötig ist, um mit behinderten Menschen umzugehen. Wir müssen weg von der Fachkraftisierung von Behinderung. Wir sind Menschen und sollten auch so behandelt werden.
Eltern
Ein weiteres Hindernis, auf das man im Bereich der schulischen Inklusion trifft, sind Widerstände von Eltern. Diese glauben, dass sich das Lerntempo verlangsamt, wenn Kinder mit Lernschwierigkeiten in derselben Klasse wie ihre nicht-behinderten Kinder lernen. Sie glauben, behinderte Kinder haben Bedürfnisse und zeigen Verhaltensweisen, die den Unterricht unterbrechen und von den Lerninhalten ablenken. Die „Aktion Mensch“ hat diese und weitere Bedenken in einem Artikel aufgeführt und entkräftet. Tatsächlich stimmt das Gegenteil: Von gemeinsamer Beschulung profitieren alle. Das deckt sich auch mit meiner eigenen Erfahrung. Behinderte Menschen sind keine Hindernisse für Bildung, sie bereichern die Klassenräume auch selbst mit ihrer Perspektive und ihrer Persönlichkeit. Die Bereicherung geht nicht nur in eine Richtung.
Gleiches gilt übrigens auch für behinderte Lehrer*innen und Elternteile mit Behinderung. Auch sie sollten teilhaben können. Das heißt erstmal: in die Schulgebäude, Klassenräume und Lehrer*innenzimmer hineinkommen und an Konferenzen und Elternabenden teilnehmen. Aber auch: Kinder unterrichten, Ideen beisteuern, Aufgaben übernehmen. Auch hier verlieren wir durch Exklusion wertvolle Ressourcen.
Die Weigerung drängt behinderte Menschen in den Bildungsrückstand
Dieser geballte Widerstand ist sehr entmutigend für alle Beteiligten. Eltern, die keine Kraft oder Ressourcen für lange (Rechts-)Streitigkeiten mit einer Schulleitung haben, schicken ihr Kind auf andere Schulen. Die Folgen sind vielfältig.

#15 Schule und Inklusion
In der neuen Folge unseres Bayern 2 – Podcasts sprechen wir über Schule und Inklusion. Leider immer noch ein viel diskutiertes Thema, obwohl das Recht auf Bildung in der UN-Behindertenrechtskonvention verankert ist.
Oft versuchen Eltern, ihr Kind auf naheliegenden Schulen unterzubringen. Wenn alle Schulen im Umkreis das Kind ablehnen, sind Eltern gezwungen, Schulen im weiteren Umkreis in Erwägung zu ziehen. Das bedeutet für behinderte Menschen oft Unannehmlichkeiten, die die Community als Crip Time (Krüppelzeit) und Crip Tax (Krüppelsteuer) bezeichnet. Menschen mit Behinderung müssen aufgrund ihrer Behinderung mehr Zeit und Geld investieren. Denn je länger der Anreiseweg, desto höher die Kosten und desto größer der Zeitaufwand, um zur Schule zu gelangen. Außerdem steigt mit längeren Wegen auch die Wahrscheinlichkeit, auf Barrieren zu stoßen, die zu umgehen weitere Zeit, Kosten und Mühen erfordert. Ein Beispiel: Ein Mensch im Rollstuhl, der den öffentlichen Nahverkehr für längere Strecken nutzt, muss oft umsteigen. Je länger der Weg, desto mehr Umstiege sind nötig. Doch viele Haltestellen sind nicht barrierefrei, sei es durch niedrige Bahnsteige oder defekte Aufzüge. Mit jeder Umsteigestation steigt also die Wahrscheinlichkeit, auf Barrieren zu stoßen. In solchen Fällen müssen Umwege in Kauf genommen werden, die oft „zu Fuß“ mit dem Rollstuhl zurückgelegt werden müssen. Auch hierbei gibt es viele mögliche Barrieren, wie Wege, die nicht rollstuhlgerecht sind, hohe Bordsteine oder Baustellen. Falls ein barrierefreies Taxi notwendig wird, kommen zusätzlich hohe Kosten hinzu. In Stendal etwa musste ich für eine Strecke von nicht einmal zehn Minuten einen Rollstuhltarif von 45 Euro zahlen.
Diese Umstände sind im Alltag nur schwer zu bewältigen. Es kommt deshalb oft vor, dass die ganze Familie umziehen muss, um die Beschulung des Kindes mit Behinderung zu ermöglichen.
Zum anderen ist problematisch, dass Eltern durch die Ablehnung von Regelschulen oft auf Schulen oder Schulformen ausweichen, die ihre Kinder nicht optimal fördern. Ein möglicher Weg geht zum Beispiel ins Sonderschulsystem (dazu gleich mehr). Aber es gibt auch innerhalb des Regelschulsystems deutliche Nachteile. Ein Kind mit Behinderung, das beispielsweise musisch begabt ist, technisch oder wirtschaftlich interessiert, wird durch diese Formen der Diskriminierung möglicherweise von entsprechenden Schwerpunktschulen ausgeschlossen. Es gibt keine Chancengleichheit. Dies stellt den Kern der Bildungsdiskriminierung dar.
Ist Inklusion drin, wo Inklusion draufsteht?
Manche Eltern bevorzugen deshalb sogenannte Inklusionsschulen. Doch was Inklusionsschule bedeutet, kann sich jede Schule aussuchen. Ich war bei einer solchen Inklusionsschule zu Gast und musste feststellen, dass mit Inklusion gemeint war, dass jede Form der Behinderung willkommen war. Es gab jedoch keine Kinder ohne Behinderung auf dieser Schule. Somit wurden die Bande zur nicht-behinderten Mehrheitsgesellschaft unter dem Deckmantel der Inklusion gekappt. Ähnliches gilt für Schulen, auf die Kinder mit und ohne Behinderung gehen können, diese aber räumlich voneinander getrennt werden. Wenn Kinder mit Behinderung in anderen Stockwerken oder Gebäuden unterrichtet werden als Kinder ohne Behinderung, ist das keine Inklusion. Das ist Segregation.
Inklusion ist ein Begriff, der stark verwässert. Dass das problematisch ist, sehen wir an folgendem Problem: Das Schulsystem verzeichnet steigende Inklusionszahlen. Diese Zahlen legen nahe, dass Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die auf Förderschulen waren, nun auf Regelschulen inkludiert werden. Dennoch wird das Förderschulsystem nicht abgebaut, sondern immer mehr ausgeweitet. Wie passt das zusammen? Der Erziehungswissenschaftler und Sonderpädagoge Hans Wocken hat in einer Analyse festgestellt, dass Inklusionszahlen gefälscht sind und Etikettenschwindel im großen Stil betrieben wird. Das heißt: Es werden nicht mehr Kinder von Förderschulen auf Regelschulen aufgenommen. Stattdessen wird Kindern, die bereits Regelschulen besuchen und Schwierigkeiten mit dem Lernstoff haben, das Etikett des „sonderpädagogischer Förderbedarf“ gegeben. So wird Inklusion auf dem Papier suggeriert, wo keine Inklusion in den Schulen stattfindet. (Hier kannst du mehr dazu lesen.)
Förderschulen fördern nicht, sie sondern aus
Sonderschulen werden heutzutage euphemistisch Förderschulen genannt. Das Besondere an dieser Schulform ist jedoch nicht, dass sie Kinder fördert, denn das muss jede Schule tun, sondern dass sie Kinder mit Behinderungen von der Mehrheitsgesellschaft absondert. Darum bleibe ich, wie die Professorin für Erziehungswissenschaften Jutta Schöler es empfiehlt, weiterhin bei dem Begriff Sonderschule.
Sonderschulen sind Sammelbecken für behinderte Kinder und sie stellen die erste Station im Parallelsystem für behinderte Menschen dar.
Wegen der oben genannten Widerstände von Schulen, Lehrer*innen und Eltern nicht-behinderter Kinder kann es schwierig sein, ein Kind auf einer Regelschule unterzubringen. Dabei stehen immer wieder Mythen im Raum, die Eltern von der Regelschule abbringen. Ein Narrativ besteht darin, dass Kinder mit Behinderung auf Sonderschulen besser aufgefangen werden können. Zudem wird die Angst geschürt, dass das Kind auf einer Regelschule gemobbt wird oder vom Unterrichtsstoff frustriert ist. Natürlich wollen Eltern das Beste für ihre Kinder und glauben, das kleinere Übel in der Sonderschule zu finden.
Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Sonderschulen schaffen Unsicherheit und Perspektivlosigkeit. Die Kinder verlieren den Anschluss zur Mehrheitsgesellschaft auf eine Weise, die es ihnen erschwert, später wieder daran anknüpfen zu können. Sie werden innerhalb des Parallelsystems immer weitergereicht und darin gefangen gehalten.
Das zeigt sich auch im Alltag. Sonderschulen arbeiten nicht daran, persönliche Skills zu erwerben oder auf bereits vorhandenem Wissen aufzubauen. Vielmehr berichten Eltern, dass Fähigkeiten, die teils mühsam in der Familie erworben wurden, von den „Förder“schulen systematisch wieder aberzogen wurden. Sie wichen Fertigkeiten, die gezielt für die Arbeit in einer Werkstatt vonnöten sind. Unter dem Deckmantel der speziellen Förderung werden also Kinder dressiert, um weiter im Parallelsystem zu funktionieren. In den Werkstätten arbeiten sie dann später für durchschnittlich 1,35 Euro pro Stunde, während sich die Werkstätten selbst und große Marken, die darin produzieren lassen, ein goldenes Näschen verdienen. Es gibt kaum Wege, von dort aus den Übergang auf den ersten Arbeitsmarkt zu schaffen. Nur ein Prozent der Beschäftigten gelingt dies, oft trotz Widerstand der Werkstätten.
Natürlich entsteht dadurch innerhalb der Förderschulen ein großer Frust, der sich darin manifestiert, dass es dort öfter zu Mobbing kommt und weniger Abschlüsse gemacht werden. Kinder mit Behinderung auf Sonderschulen erwerben nur in 28 Prozent der Fälle einen Schulabschluss, auf Regelschulen gelingt es fast 50 Prozent der behinderten Kinder.
Wir wissen nicht, was möglich ist, weil wir es nie gewagt haben
Die Weigerungen im Regelschulsystem, Inklusion ernst zu nehmen, die mangelnde Barrierefreiheit, die Aussonderung in stetig wachsende Parallelwelten – all das verstehe ich nicht unter „gleichem Recht auf Bildung und Teilhabe“. All das sind Verstöße gegen die Prinzipien der UN-Behindertenrechtskonvention, die die Mehrheitsgesellschaft einfach hinnimmt.
Das Bildungssystem muss reformiert werden, das ist uns schon seit Jahrzehnten klar. Doch nun droht es unter dem wachsenden Druck von allen Seiten, inklusive eines immer eklatanter werdenden Lehrer*innen-Mangels, endgültig zu kollabieren. Wir müssen vor die Welle kommen und eine mutige Reform wagen. Eine, die für alle funktionieren kann. Studien zeigen, dass es günstiger ist, ein gemeinsames System am Laufen zu halten, als zwei verschiedene.
Gerade im Bereich der Inklusion geht es nicht um horrende Zahlen. Wenn wir alle Kinder im Regelschulsystem beschulen wollen, müsste jede Klasse nur ein Kind aufnehmen. Das muss doch zu bewältigen sein. Und selbst dann, wenn keine Reform absehbar ist, braucht es Schulleitungen, die die Grenzen von dem ausreizen oder sprengen, was innerhalb des bisherigen Systems möglich ist. Viele meiner Bekannten mit Behinderung haben nur deshalb eine geeignete Schule besuchen können, weil es entschlossene Schulleitungen, Lehrer*innen und Schulangestellte gab, die neue Wege gesucht, gefunden oder eigenhändig gebahnt haben.
Lehrer*innen dürfen nicht darauf hoffen, dass sie ein Lexikon in die Hand gedrückt bekommen, in dem von A wie Autismus bis Z wie Zerebralparese alle Behinderungsformen verzeichnet und Erläuterungen zu finden sind, wie man diese Kinder beschult. Es geht darum, den Widerstand aufzugeben und sich auf Inklusion einzulassen.
Bildung und Anschluss sind keine Nice-to-haves für behinderte Menschen. Bildung und Anschluss machen den Unterschied zwischen einem Leben der Selbstbestimmung, der Chancen und Möglichkeiten und einem Leben in einem Parallelsystem, wo sie fremdbestimmt, ausgesondert und ausgebeutet werden.
Gerade hat Ana Victoria Espino De Santiago, eine junge Frau mit Down-Syndrom aus Mexiko, ihre Ausbildung zur Strafverteidigerin abgeschlossen und ist jetzt Anwältin. Wir wissen nicht, was Bildung ermöglichen kann, weil wir es nie gewagt haben.
Dieser Artikel ist zuerst am 27.11.2024 bei Krautreporter erschienen.