Keine Daten, kein Problem: Die unsichtbare Minderheit

Ein weißer Mann im Rollstuhl fährt in ein großes, modernes Foyer mit vielen Treppen.
Nur wenige Menschen mit Behinderung schaffen es auf den ersten Arbeitsmarkt.
Foto: Andi Weiland | Gesellschaftsbilder.de
Lesezeit ca. 6 Minuten

In Diversitätsdebatten und -forschung spielt Behinderung eine untergeordnete Rolle. Ob sich dieses Bild in Diversity-Abteilungen von Unternehmen fortsetzt, untersucht Sophia Behrend.

Informationen in Einfacher Sprache

  • Einige Gruppen haben in unserer Gesellschaft Nachteile. Sie haben schlechtere Chancen als andere Gruppen. Diese Gruppen nennt man benachteiligte Gruppen. Dazu gehören auch Menschen mit Behinderung.
  • Wie sind ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt? In der Forschung werden Menschen mit Behinderung selten beachtet. Doch: Was nicht erforscht wird, kann nicht so gut diskutiert werden. Behinderung sollte in der Forschung eine größere Rolle spielen. Damit gegen die Benachteiligung gekämpft werden kann.
  • In Firmen gibt es oft eine Abteilung für Vielfalt. Diese Abteilung heißt “Diversity Management”. “Diversity” heißt Vielfalt auf Englisch. “Management” heißt Verwaltung. Diese Abteilung organisiert und verwaltet also Vielfalt. Doch was heißt Vielfalt und wann ist Vielfalt erreicht? Das ist nicht richtig festgelegt. Deshalb arbeiten die Diversity Abteilungen sehr unterschiedlich. Wie sehr Menschen mit Behinderung vom Diversity Management profitieren, ist dabei fragwürdig.

Begriffe wie Chancengleichheit, Wertschätzung und Respekt liest man auf fast jeder Karriereseite. Unternehmen, die sich divers darstellen, wirken fortschrittlicher und werden von den meisten Bewerber*innen bevorzugt. Die Wissenschaft bescheinigt vielfältigen Teams unter der richtigen Führung zahlreiche Vorteile: Gesteigerte Produktivität und Kreativität, höhere Krisenbeständigkeit und nicht zuletzt wachsende Chancengerechtigkeit (ein Überblick findet sich zum Beispiel in der Studie “Diversität und Erfolg von Organisationen” von Wirtschaftssoziologinnen und Arbeitsmarktforschenden).

Behinderung ist irrelevant

Doch die Diversität in Unternehmen entwickelt sich langsam: In den Medien wird von Rassismus, Sexismus und Altersdiskriminierung am Arbeitsplatz berichtet, von abnehmenden Frauenquoten in DAX Konzernen, von Chancenungleichheit, von übergriffigem Verhalten und Mobbing.

Mehr Diversität, das bedeutet meistens: weiblicher, internationaler und altersheterogener. Eine Gruppe kommt dabei oft nicht vor: Arbeitskräfte mit Behinderung. Die meisten sehen in einem Team Menschen unterschiedlicher Hautfarbe und verschiedenen Geschlechts und halten das Team für divers. Dass es Menschen mit Behinderung gibt und sie gleichberechtigt vertreten sein sollten, vergisst die Mehrheitsgesellschaft regelmäßig – erst Recht im Kontext Arbeitsmarkt.
Das Diversitätsbarometer 2020 zum Beispiel, eine Studie der Wirtschaftsgesellschaft Warth & Klein Grant Thornton, der Fachhochschule Wedel und der Leuphana Universität Lüneburg, ermittelt, wie divers die Vorstände der 30 größten DAX-Unternehmen aktuell sind. Wenig überraschend kommt die Studie zu dem Schluss, das durchschnittliche DAX-Vorstandsmitglied sei männlich, Anfang/Mitte 50 und deutsch. Nicht einmal erwähnenswert ist jedoch, dass es auch nicht behindert ist. Und das ist ein Problem. Wenn die Dimension “Behinderung” gar nicht erhoben wird, wird damit suggeriert, dass Behinderung als Ungleichheitsdimension irrelevant ist.

Systematisch ausgegrenzt

Durch schlechtere Bildungschancen und systematische Barrieren schaffen es Menschen mit Behinderung selten auf den allgemeinen Arbeitsmarkt. Die Gründe dafür sind offensichtlich und trotzdem tut sich wenig. Menschen mit Behinderung werden nachweislich seit dem späten 18. Jahrhundert systematisch von Menschen ohne Behinderung getrennt. Diese Praxis stammt aus einer Zeit, in der Behinderung als Defizit, als negative Abweichung von Normalität, bewertet wurde. Dieses Verständnis hält sich immer noch hartnäckig. Seit der Ratifizierung der UN Behindertenrechtskonvention (UN BRK) im Jahr 2009 wird Behinderung in Deutschland offiziell als eine Wechselwirkung verstanden, die zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren erst entstehe. Die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft muss entsprechend ermöglicht werden. Doch das passiert nicht.

Die Unsichtbarkeit von Menschen mit Behinderung ist tief verankert. Menschen mit und ohne Behinderung begegnen sich selten. Viele Menschen mit Behinderung lernen immer noch in separaten Schulen, arbeiten auf einem separaten Arbeitsmarkt und wohnen in separaten Einrichtungen. Die Trennung hat dabei für sie viele Nachteile: Der Zugang zu gleichwertiger Bildung ist erheblich erschwert. Der Weg auf den allgemeinen Arbeitsmarkt wird ihnen verwehrt. Die gesellschaftliche Trennung wird durch exklusive Wohnverhältnisse verstärkt. Und auch für nichtbehinderte Menschen hat die Trennung Konsequenzen: Unsicherheit, Berührungsängste und Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderung sind die Folge. Die meisten Menschen wissen nicht einmal, wie sie Menschen mit Behinderung korrekt benennen können.

Einheitliche Diversitätskriterien gibt es nicht

Wann ein Unternehmen wirklich divers aufgestellt ist, ist unklar. Es gibt keine einheitlichen Kriterien. So kommen verschiedene Studien auch zu unterschiedlichen Ergebnissen. Infineon Technologies, der größte deutsche Halbleiterproduzent, zum Beispiel, macht im Ranking der Diversity Leaders der Financial Times aktuell den zweiten Platz. Das Diversitätsbarometer 2020 hingegen, beschreibt Infineons Geschlechtsdiversität im Vorstand als nicht vorhanden.

Bisher gibt es von offizieller Seite in Deutschland keine repräsentativen Daten zur Teilhabe behinderter Menschen auf dem ersten Arbeitsmarkt. Bekannt ist, dass weiterhin 320.000 Menschen mit Behinderung auf dem zweiten Arbeitsmarkt in Sondereinrichtungen, also Werkstätten für behinderte Menschen beschäftigt sind. Niemand weiß, wie viele Menschen mit Behinderung tatsächlich ihren Fähigkeiten und Möglichkeiten entsprechend arbeiten.

Barrieren, mangelnde Unterstützung, Resignation

Von allen Menschen mit Behinderung im erwerbsfähigen Alter sind 2017 in Deutschland nur etwa 30% in den Arbeitsmarkt integriert. In einer Expertise der Antidiskriminierungsstelle von 2013 wurde der Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt qualitativ untersucht. Es wurden dabei lediglich achtzehn Menschen mit Behinderung umfassend interviewt. Die Ergebnisse sind alarmierend: Befragte berichten von immer neuen Barrieren, mangelnder Unterstützung, Diskriminierung und Resignation angesichts der katastrophalen Zustände. Trotz dieser Ergebnisse wird erst jetzt die erste groß angelegte Studie, beauftragt durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, durchgeführt. Acht Jahre danach. Die Auswertung soll dieses Jahr beendet werden.

Diversity Manager*innen als Verbündete?

Die wachsende Bedeutung des Diversity Managements in Unternehmen gibt Hoffnung auf eine aktive Förderung von Vielfalt und damit auch eine Verbesserung der Situation von Menschen mit Behinderung und allen anderen marginalisierten Gruppen auf dem Arbeitsmarkt. Wie Unternehmen das Diversity Management allerdings tatsächlich gestalten, welche Ziele verfolgt und welche Strategien angewandt werden, ist sehr unterschiedlich. Exemplarisch seien an dieser Stelle die Commerzbank AG und anschließend die Deutsche Post DHL Group genannt.

Es gibt im Diversity Management zwei Schwerpunkte: Einerseits Nachteile für bestimmte Beschäftigtengruppen oder deren Diskriminierung zu vermeiden. Und andererseits Potenziale von Vielfalt in der Belegschaft zu erkennen und zu nutzen

In enger Zusammenarbeit mit der Schwerbehindertenvertretung seien bei der Commerzbank seit 2016 viele Maßnahmen auf den Weg gebracht worden, die den Umgang mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie Kunden und Kundinnen mit Behinderungen entscheidend weiter gebracht haben. Als erste Bank Deutschlands hat sie 2018 einen Aktionsplan zur Inklusion auf Basis der UN Behindertenrechtskonvention veröffentlicht. Weitere Maßnahmen umfassten beispielsweise die Verankerung von Barrierefreiheit als Notwendigkeit, eine eigene Stelle für die Koordination von Hilfsmitteln, ein Netzwerk von und für Mitarbeiter*innen mit Behinderung, das Austausch und Vernetzung, sowie die Identifikation weiterer relevanter Themen und Lösungen vereinfache.
Ob verschiedene marginalisierte Gruppen tatsächlich unterschiedlich stark vom Diversity Management profitieren, findet sie “schwierig zu differenzieren”. Besonders wichtig sei es ihrer Meinung nach vor allem, das “Mindset” von Führungskräften und Mitarbeiter*innen zu verändern, um zu einem inklusiven Arbeitsumfeld zu kommen, das allen Gruppen gleiche Möglichkeiten biete.

Bei der Deutschen Post DHL Group schätzt man Vielfalt und Inklusion als eine besondere Stärke des Unternehmens. 9,1 % der Mitarbeitenden haben eine Behinderung. Das sind 15.382 Menschen. Als Vice President Diversity & Values ist Susanna Nezmeskal-Berggöt verantwortlich für das Diversity Management. Zusätzlich engagiert sie sich im Beirat von Beyond Gender Agenda und möchte daran arbeiten, den Wert von Vielfalt in unserer Gesellschaft sichtbarer zu machen. Auf die Frage, welche benachteiligten Gruppen aktuell am meisten vom Diversity Management profitieren und wo sie die meisten Herausforderungen sehe, antwortet sie:

Bei der Auswahl und Entwicklung unserer Beschäftigten zählen alleine individuelle Fähigkeiten und Qualifikation. Wir machen keinen Unterschied aufgrund von Geschlecht, ethnischer und nationale Herkunft, Rasse, Hautfarbe, Religion, Alter, Behinderung, sexueller Orientierung sowie Identität und weiterer gesetzlich geschützter Merkmale.

Diese Antwort erinnert an die vermeintlich tolerante Aussage ‘ich sehe keine Hautfarbe’, die strukturelle Diskriminierung verneint und unsichtbar macht, statt ihr entgegenzuwirken. Damit ist es eben nicht getan. Eine vorurteilsfreie Auswahl und die Herstellung von Chancengleichheit sind zweifelsfrei das Ziel. Menschen mit Behinderung und andere Marginalisierte werden allerdings offenkundig strukturell diskriminiert und haben deshalb eine geringere Chance, die erforderlichen Fähigkeiten und Qualifikationen überhaupt zu erlangen. Ihre systematische Benachteiligung sogar im Rahmen des Diversity Managements unbeachtet zu lassen, verstärkt die Chancenungleichheit noch zusätzlich.

Nach erfolgreichen Maßnahmen gefragt, berichtet Susanna Nezmeskal-Berggötz: “In unserem Unternehmen gibt es zahlreiche Beispiele einer erfolgreichen Integration von Beschäftigten mit einer Behinderung. Vor allem bei unseren Schreibtischjobs aber auch in Jobs im technisch-gewerblichen Bereich und in der Zustellung können Menschen mit Behinderung ihre Stärken einbringen.”

Potenziale behinderter Menschen ungenutzt

Das Ziel des Diversity Managements sollte sein, das Potenzial aller Menschen anzuerkennen und wirtschaftlich nutzbar zu machen. Und zwar diskriminierungsfrei. Wirkliche Diversität ist erst erreicht, wenn die Arbeitswelt genauso vielfältig besetzt ist wie die Gesellschaft und wenn jede*r gleichberechtigt teilhaben kann. Natürlich müssen dazu die spezifischen Zugangsbeschränkungen aller benachteiligten Menschen in Betracht bezogen und Methoden gefunden werden, diese zu überwinden. Das ist die Aufgabe aller Arbeitgeber*innen und im Besonderen der Diversity Manager*innen.

Diversity Manager*innen können zwar gute Ideen und Unternehmen gute Webseiten haben. Die entsprechenden Werte müssen aber vom gesamten Unternehmen geteilt werden. Erst dann kann Inklusion auf dem Arbeitsmarkt gelingen und das Wort Diversität mit mehr Bedeutung gefüllt werden.

Das waren starke Zeilen? Dann gerne teilen!

3 Antworten

  1. Vielen Dank für diesen tollen Beitrag, liebe Sophia Behrend!
    Ganz mutig und meiner Meinung nach den Finger treffsicher in die Wunde gelegt. 😉 Es ist nicht immer hilfreich für die Sache, wenn wir innerhalb der einzelenen Schubladen oder auch der (geschützten) Merkmale unterscheiden und hier zusätzliche Grenzen aufmachen. Weil wir eigentlich genau diesen Zustand (der Zuordnung zu Merkmalen) mit “Diversity” oder mit der tatsächlichen Gleichbehandlung überwinden möchten.
    ABER: ich bemerke ein deutliches Gefälle bzw. eine deutliche Hirarchie innerhalb dieser geschützen Gruppen – und auch wenn es die Zahlen dazu nicht gibt, um es eindeutig zu beweisen: Behinderung ist nach meiner Wahrnehmung relativ weit unten in der gesamtgesellschaftlichen Wahrnehmung – vor allem, wenn man die sehr wohl erhobenen Statistiken zu Diskrimierungsfällen (nicht nur) im Kontext von Arbeit kennt.
    Und entsprechend hübscher und einfacher scheint es auch in der jeweiligen Bilderwelt und Außendarstellung von Unternehmen weltweit zu sein, sich zwar mit Diversity zu schmücken und -sofern man die nötige Größe hat- auch eigene Diversity-Beauftragte zu beschäftigen. Nur leider sind die im Beitrag angesprochen strukturellen Diskriminierungen für Menschen mit Behinderung überhaupt erst die notwendige Qualifikation zu erreichen und sich die Zugänge zum ersten Arbeitsmarkt selbständig zu erschließen, mit dieser “Kosmetik” innerhalb profitorientierter Strukturen/Unternehmen eben nicht einmal dargestellt oder abgebildet. Geschweige denn genügt dies, um die Hindernisse zu überwinden.
    Zahlen sind wichtig, um hier ein größeres Bewussstsein für Ungleichbehandlung zu schaffen. Um diese zu erheben, müssen wir schon wieder die Schubladen bedienen. Noch wichtiger um diese Form der tradierten und strukturellen Diskriminierung zu überwinden wären sicherlich entsprechende Anreize (und Verpflichtungen!) für Unternehmen, Menschen mit Behinderung auch auszubilden, zu beschäftigen und innerhalb des Unternehmens “gleich” zu behandeln. Die Durchsetzung der geltenenden Antidiskrimierungs-Gesetzgebung wäre auch hilfreich, um endlich mehr Menschen mit Behinderungen in Entscheider*innen-Positionen zu bringen, in Politik, Gesellschaft und eben auch Unternehmen.

  2. Vielen Dank für diesen sehr guten Beitrag! Er spricht mir absolut aus der Seele. Denn auch wenn ich selbst seit 22 Jahren bei der Daimler AG arbeite so erlebe ich doch genau dasselbe zum Thema Diversity! Würde mich über weiteren Austausch freuen. Gerne auch meinen YouTube-Kanal besuchen hier als Webseite angegeben

  3. Hallo Sophia,

    vielen Dank für den interessanten Beitrag. Leider passiert es noch sehr häufig, dass Minderheiten in Unternehmen wenig respektiert werden. Dies war bei mir auch lange Zeit so, bis ich mich vermehrt dafür eingesetzt habe und die Gründung einer SBV (Schwerbehindertenvertretung) vorgeschlagen habe. Dies war ein langer Weg aber wir haben es geschafft eine SBV zu implementieren. Tipps für eine erfolgreich Bewerbund haben mir geholfen (https://www.brwahl.de/kandidaten/erfolgreich-kandidieren) und ich bin nun Teil der SBV. Dadurch habe ich mehr Mitspracherecht erhalten und es tut gut eine Minderheit im Unternehmen zu vertreten und zu unterstützen. Es kommt noch viel arbeit auf uns zu aber jeder kleine Erfolg ist schonmal ein richtiger Schritt zu einem offenerem Miteinander.

    Liebe Grüße
    Louis

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert