UN-BRK – Transkript

Lesezeit ca. 19 Minuten

Die Neue Norm: Eine Sehbehinderung, ein Rollstuhl, eine chronische Erkrankung. Oder: drei Journalist*innen. Jonas Karpa, Raul Krauthausen und Karina Sturm sprechen über Behinderung, Inklusion und Gesellschaft.

Folge 44: „UN-BRK“

Jonas:

Herzlich Willkommen zu “Die Neue Norm”, dem Podcast. Wir waren live! Am 3. Oktober fand bei radioeins vom rbb der “Radioday inklusiv” statt und wir haben dies als Anlass genommen, über die weltweiten Rechte von Menschen mit Behinderung zu sprechen. Verankert sind diese in der UN-Behindertenrechtskovention. Auch Deutschland hat diese Konvention mit unterschrieben und sich damit verpflichtet, Maßnahmen umzusetzen. 

Welche Maßnahmen das sind, wie die UN-Behindertenrechtskonvention entstanden ist und warum Deutschland bei der diesjährigen Staatenprüfung mal wieder gerügt wurde, besprechen wir in dieser besonderen Episode.

Mein Name ist Jonas Karpa. Mit dabei sind auch Raúl Krauthausen und Karina Sturm, die zuerst erklärt, wie die UN-Behindertenrechtskonvention entstanden ist.

Karina:
Also die wurde 2006 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet, ist dann 2008 in Kraft getreten international, nachdem sie von 20 Staaten ratifiziert wurde und einer davon war Deutschland. Seit 2009 ist die UN-BRK in Deutschland geltendes Recht und sie überträgt allgemein gültige Menschenrechte auf Menschen mit Behinderungen.

Jonas:
Also war Deutschland – kann man sagen – Vorreiter auch mit? Nein?

Karina:
Also ich meine, das waren 20 Staaten insgesamt, insofern…

Raúl:
Deutschland war ein Jahr später. 

Karina:
Ja. 

Raúl:
Aber nach, wenn ich das richtig verstanden habe, Bangladesch.

Jonas:
Ich meine, jetzt nichts gegen Bangladesch in dem Sinne, aber immerhin hat Deutschland das quasi mit unterschrieben. Und das, was ich mich immer frage, wenn ich so an die UN-Behindertenkonventionen denke: braucht es die eigentlich? Wenn wir Menschenrechte haben und diese ja quasi auch dafür einstehen, dass diese umgesetzt werden – auch Menschen mit Behinderungen sind ja Menschen  – warum braucht man noch dieses Addon dahingehend, dass wir jetzt noch mal extra eine Konvention haben für Menschen mit Behinderung?

Karina:
Weil die besonders diskriminiert sind und eine marginalisierte Minderheit und die UN-BRK Teilbereiche regelt, mit denen andere Menschen vielleicht nichts zu tun haben, zum Beispiel Barrierefreiheit.

Jonas:
Aber Barrierefreiheit geht doch auch grundsätzlich viele Leute etwas an. Also wenn man sagt, okay, natürlich, Raúl, wenn du jetzt quasi in deinem Elektrorollstuhl unterwegs bist, bist du natürlich darauf angewiesen, dass es Rampen gibt an Treppen oder dass der Aufzug funktioniert. Aber diese Umsetzung von Barrierefreiheit ist ja auch vielleicht hilfreich für Leute, die, sag ich mal, im Rollator unterwegs sind oder einen Kinderwagen schieben. Oder generell finde ich auch, dass… kleine Kinder, für die ist es ja auch sehr anstrengend, immer nur Treppen zu steigen.

Raúl:
Ich denke, dass es deswegen sinnvoll ist, das doch mal extra aufzudröseln, weil man das ja auch macht in Bezug auf Kinderrechte. Deutschland hat im Übrigen die Kinderrechtskonvention – soweit ich weiß – nicht wirklich unterschrieben, beziehungsweise in Deutschland nicht umgesetzt. Es gibt keine extra Kinderrechte, und hinzu kommt noch, dass es ja auch Frauenrechte gibt, die besonders schützenswert sind. Und da gibt es auch die Frauenrechtskonvention der UN, die Deutschland auch unterzeichnet hat und diese weitere Aufdröselung in vielleicht Minderheiten oder diskriminierte Gruppen kann eben dabei helfen, Diskriminierung in bestimmten Teilbereichen, Mobilität oder Bildung oder vielleicht auch Arbeitsmarkt konkreter zu benennen und aufzulösen.

Jonas:
Und sozusagen auch sichtbar zu machen in dem Sinne. 

Raúl:
Sichtbar zu machen, genau und auch Verantwortlichkeiten zu nennen.

Karina:
Die UN-BRK hat auch den Behinderungsbegriff neu definiert und ein bisschen zu einem… oder will zu einem Umdenken führen, zu einem menschenrechtlichen Modell.

Jonas:
Okay, wie war Behinderung früher, quasi bevor die UN-Behindertenrechtskonvention dann „in Kraft getreten ist“? Wie war da der Blick auf Behinderung?

Karina:
Hauptsächlich das medizinische Modell, also Behinderungen als was, was fehlerhaft ist und was geheilt werden muss.

Jonas:
Genau, was hast du noch mal für eine…? Willst du nochmal deine Diagnose…? Nein. Also genau das wäre es also, quasi zu sagen, was hast du für eine Erkrankung? Was ist das für eine Diagnose? Was kannst du nicht? 

Karina:
Genau.

Jonas:
Und was macht die UN-Behindertenrechtskonvention jetzt? 

Karina:
Die wollen hin zu einem menschenrechtlichen Modell. Das ist der Plan und die Zukunft.

Raúl:
Die wollen, dass sie quasi nicht davon ausgehen, du kannst das nicht, weil du das hast, sondern dir wird der Zugang zu ABC nicht gewährt, weil folgende Barrierefreiheit zum Beispiel fehlt.

Jonas:
Ist eigentlich, finde ich, so eine logische Konsequenz. Ich weiß nicht, wie es euch geht. Wann spürt ihr, dass ihr eine Behinderung habt? Wacht ihr auf und euer erster Gedanke morgens ist: Ich habe eine Behinderung?

Karina:
Nein. Das ist halt, wenn dir für irgendwo der Zugang verwehrt wird.

Raúl:
Also, wenn ich ehrlich sein darf, heute ist mir zum ersten Mal aufgefallen, dass ich behindert bin, als die barrierefreie Toilette im RBB Gebäude zugestellt war mit Schränken.

Jonas:
Was waren es denn für Schränke? 

Raúl:
Ich weiß es nicht, aber die barrierefreie Toilette war zugestellt mit Schränken, die da nicht hingehören. Und es wurde mir auch vorhergesagt als Warnung: „Die Toilette ist leider gerade vollgestellt. Gehen Sie doch ins Haus gegenüber.“ Und das würde man jetzt jemandem ohne Behinderung nicht so ohne weiteres sagen.

Jonas:
Was ist denn generell noch Teil der UN-Behindertenrechtskonvention? Also so auf inhaltlicher Ebene?

Karina:
Die enthält Prinzipien, Verpflichtungen und Einzelrechte – also das sind zum Beispiel über 40 Artikel, die praktisch eigentlich jeden Bereich regeln. Also da geht es teilweise um Nichtdiskriminierung, Frauen mit Behinderungen, Kinder, Gewaltschutz, Selbstbestimmung, Barrierefreiheit, Achtung der Privatsphäre, Familiengründung, Arbeit und Beschäftigung und so weiter. Also die regelt praktisch einfach alle Einzelbereiche für Menschen mit Behinderungen und die Rechte.

Jonas:
Raúl, du hast mal im Rahmen des Projektes Leidmedien – was ein Projekt des Sozialhelden e.V. ist – und wir alle drei sind Teil dieses Berliner Vereins und arbeiten da in unterschiedlichen Projekten, die was mit Behinderung, Inklusion und Barrierefreiheit zu tun haben. Du hast mal im Rahmen dieses Projekts mit Theresia Degener auch gesprochen und die hat zum Beispiel gesagt, dass die UN-Behindertenrechtskonvention im Gegensatz zu anderen Konventionen ja eigentlich sehr schnell auch, tja, durchgebracht wurde oder quasi dann umgesetzt wurde. Weil normalerweise, wenn man quasi so ein großes Gesetzespaket schnürt, die viele Länder unterschreiben und viele auch das mittragen, dauert es ja quasi sehr, sehr lange.

Raúl:
Genau. Und das, obwohl noch gar nicht so viele Leute damals existierten, beziehungsweise bekannt waren, die diese Texte überhaupt schreiben können. Also die auch juristischen Sachverstand haben, um zu sagen, was muss eigentlich in so einer Konvention drinstehen? Und normalerweise dauert so etwas 10/20 Jahre, um so einen Text zu schreiben. Und die UN-BRK wurde, so weit ich weiß, in vier Jahren zusammengeschrieben. Und natürlich gab es da auch Meinungsverschiedenheiten unter den internationalen verschiedenen existierenden Gruppierungen behinderter Menschen. Aber es wurde sich immer wieder darauf verständigt und auch geeinigt, dass es um Menschenrechte geht und dass wir da die behinderten Menschen auch nicht untereinander in Subgruppen aufteilen sollten, sondern dass alle Menschen, egal was für eine Behinderung sie haben, das gleiche Recht auf Zugang zum Beispiel haben sollten oder auf Barrierefreiheit. Und dass es letztendlich den einzelnen Gruppen nicht zusteht zu sagen: diese Gruppe mehr als die andere.

Jonas:
Ich habe immer so das Gefühl, dass diese UN-Behindertenrechtskonvention manchmal so als, ja, nicht Totschlagargument – also so als finales Argument genommen wird, wenn man sich über nicht vorhandene Barrierefreiheit oder generell Diskriminierung aufregt, so nach dem Motto: Wir haben seit soundso vielen Jahren die UN-Behindertenrechtskonvention und immer noch gibt es hier keine Rampe. Oder immer noch ist die rollstuhlgerechte Toilette mit Schränken vollgestellt. Aber wie kann man die persönlich irgendwie sich zu eigen machen?

Karina:
Gar nicht wirklich. 

Jonas:
Das ist schade.

Karina:
Du hast eigentlich keine großen Rechte. Die ist zwar geltendes Recht, aber wenn du dich… Also, du kannst eine Individualbeschwerde machen beim UN-Ausschuss in Genf. Aber nur, wenn du vorher praktisch den kompletten Rechtsweg durchlaufen hast.

Jonas:
Ach herrje… also quasi das ist dann… fängt dann an… kann ich… ich hol erstmal die Polizei. Und dann, dann zieh ich vor Gericht und dann noch in Gericht weiter und nochmal und nochmal und nochmal. Und irgendwann bin ich halt in Genf. 

Karina:
Deswegen macht das auch so gut wie keiner.

Jonas:
Das ist ja auch teuer, oder? 

Raúl:
Das setzt auch unglaublich viel Energie und auch Wissen voraus – machen wahrscheinlich auch diejenigen, die sowieso schon privilegiert sind oder gut organisiert. Oft machen das dann auch Organisationen, die dann den Rechtsweg innerhalb des eigenen Landes auch schon versucht haben zu durchschreiten oder durchschritten sind. Und das Problematische ist eben auch, dass wenn dann, sagen wir mal, von UN-Seite aus gerügt wird, das relativ konsequenz- und folgenlos ist für das jeweilige Land – du kannst ein Land nicht ins Gefängnis stecken. Du kannst da auch schlecht auch Leute bestrafen, sondern dass es dann höchstens eine Art Imageschaden für das jeweilige Land ist und Deutschland fühlt sich ja weltweit schon ganz gerne als Moralpolizei auf und erzählt anderen Ländern, wie sie sich zu verhalten haben, sodass dann vielleicht der Imageverlust größer ist, wenn öffentlich und offensichtlich wird, dass die Rechte behinderter Menschen mit Füßen getreten werden. Was Deutschland tut, das muss man auch ganz klar so sehen – vor ein paar Wochen hat der UN-Ausschuss auch Deutschland massiv gerügt, über spezifische Fragestellungen schon auch seit Jahren immer wieder die gleichen Dinge gerügt. Und da wird dann Deutschland quasi auch tatsächlich Untätigkeit vorgeworfen.

Jonas:
Man kann ja quasi jetzt kein Land irgendwie direkt ins Gefängnis stecken. Man könnte eine Mauer drumrum bauen, aber ….

Raúl:
…da haben wir schlechte Erfahrung mit gemacht…

Jonas:
… würde ich auch davon abraten. Aber wir haben eben gesagt, es geht in der UN-Behindertenrechtskonvention viel um natürlich Barrierefreiheit. Es geht um Bildung. Es geht um das, wie man gemeinsam wohnt. Aber das sind ja alles Sachen, die, ja, wenn man es selber nicht einklagen kann oder umsetzen kann, sind das dann so… ist es dann, ja, nicht nutzlos? Also schon…wir haben eben gesagt, ist es dann vielleicht wichtig, dass durch diese UN-Behindertenrechtskonvention einfach auf gewisse Themenfelder und auch Missstände aufmerksam gemacht wird. Aber es ist jetzt ja nichts, wo ich jetzt, sage ich mal, wenn meine Lieblingsbäckerei um die Ecke weder eine Rampe an der Tür hat, noch irgendwie vielleicht für Menschen, die eine Sehbehinderung haben oder blind sind, taktile Leitsysteme oder so, wo ich mir dann die UN-Behindertenrechtskonvention ausdrucke. Ist ja auch viel Papier, aber trotzdem ausdrucke, und hingehe und sage: „Schau mal hier, das, was du da tust, ist eher diskriminierend und ändere das mal!“ Dann sagt die Person bestimmt: „Ja, aber… muss ich nicht, bin ich nicht dazu gezwungen.“

Karina:
Wahrscheinlich kennt die Personen die UN-BRK auch gar nicht. Da wird ja auch nicht so super viel drüber gesprochen…

Jonas:
Sollten sie mal zuhören hier heute.

Karina:
Ja, vielleicht. Aber die kennt niemand, wird nicht viel darüber gesprochen. Einzelpersonen wissen auch gar nicht, dass es dieses Individualbeschwerdeverfahren gibt, das ist nicht niedrigschwellig genug, also im Endeffekt ist es… ich glaub, die meisten Leute mit Behinderung sind relativ hoffnungslos. Was die UN-BRK tatsächlich tut, vor allem seit 2009, seit sie tatsächlich in Kraft getreten ist, hat sich gefühlt in vielen Bereichen gar nichts getan oder sogar Rückschritte. Zum Beispiel im Bereich von Bildung und Wohnen wird immer wieder kritisiert, schon seit 2009, dass es immer noch diese Sonderwelten gibt, also Förderschulen und stationäre Einrichtungen. Der Parallelbericht von einer Monitoringstelle schreibt auch, dass ein Paradigmenwechsel in Politik und Gesellschaft hin zu Inklusion und Selbstbestimmung auch nach 14 Jahren, nach Inkrafttreten der UN-BRK nicht festzustellen ist. Also das ist ziemlich vernichtend.

Raúl:
Aber es ist auch so, dass die UN-Behindertenrechtskonvention letztendlich den Nationen eigentlich Vorgaben macht, dass dann diese Regeln in nationale Gesetze umgemünzt werden müssen, in entweder Landesgesetze, kommunale Gesetze oder Bundesgesetze. Und das braucht auch seine Zeit. Ich will jetzt damit niemanden in Schutz nehmen. Das ist einfach nur vielleicht so ein bisschen auch die Erkenntnis, dass Papier sehr geduldig sein kann, bis es dann einmal dann auch beim Bürgermeister oder der Bürgermeisterin ankam, dass die UN-Behindertenrechtskonvention auch für die eigene Stadt gilt und dann eben Maßnahmen einzuleiten sind; die werden dann in den sogenannten Aktionsplänen in der Regel festgeschrieben. Alle vier, fünf oder zehn Jahre gibt es dann einen solchen Aktionsplan mit Updates, wo dann geregelt wird, wie man den ÖPNV gedenkt zu planen im Sinne der Barrierefreiheit. Und dann hast du zwei Aktionspläne geschrieben, und dann sind auch schon 20 Jahre vergangen, und das lässt es vielleicht auch so langsam spüren und fühlen und entwickeln. Aber zum Beispiel der ÖPNV in Deutschland soll bis 2025, soweit ich weiß, barrierefrei sein. Alle wissen, das wird er nicht, aber würde es nicht letztendlich durch diese Aktionspläne mal, sagen wir mal, so eine Stoßrichtung vorgegeben worden sein, unter anderem auch befeuert durch die UN-Behindertenrechtskonvention, dann wären wir wahrscheinlich auch nicht so weit.

Jonas:
Also weil wir stehen gerade so ein bisschen dafür, ja, eigentlich ist sie… Papier ist geduldig, und es ändert sich lange nichts. Und Deutschland setzt gewisse Sachen nicht um. Aber es ist trotzdem wichtig, dass sie da ist.

Raúl:
Definitiv also ich bin jetzt auch weit entfernt davon zu sagen, das ist totaler Mist. Ich glaube einfach, dass es wichtig ist, dass jemand oder eine Instanz den Ländern auf die Finger schaut und auch eine gewisse Vergleichbarkeit herstellt zwischen den Ländern, aber eben auch gesagt wird: „Leute, so geht es eigentlich nicht, wie ihr das hier macht. Ihr drehte die die Rechte von behinderten Menschen mit Füßen. Ihr ignoriert sie größtenteils. Das funktioniert so nicht!“ Und ich glaube auch, wenn wir uns jetzt die letzten Jahre so anschauen, behinderte Menschen werden sichtbarer, auch durch soziale Medien und so weiter. Das heißt, das Ignorieren ist nicht mehr so einfach, wie es vielleicht vor ein paar Jahrzehnten der Fall war oder nur nicht Behinderte über das Thema Behinderung sprachen. Und dann vielleicht auch das unter anderem Rückenwind bekam durch die UN-BRK, wo eben auch JuristInnen mit Behinderungen diese Texte mitgeschrieben haben.

Jonas:

Wie wird das Ganze überwacht, ob Deutschland auch wirklich dort das Ganze so umsetzt, dass Menschen mit Behinderung weniger diskriminiert werden und auf weniger Barrieren treffen?

Karina:
Also die UN-BRK gibt quasi auch vor, dass es ein Überwachungsorgan geben muss oder eine unabhängige Überwachungsstelle in Deutschland, die es hier am Deutschen Institut für Menschenrechte in Berlin und zwar ist es die Monitoringstelle , die verpflichtet sich eben dazu, dass die das unabhängig machen und dann in einem Parallelbericht nochmal eine Gegendarstellung machen zu dem, was der Staat quasi sagt, wie er die UN-BRK umsetzt. Dieses Jahr, also da war ein Absatz, der irgendwie gesagt hat, was gut läuft in Deutschland und dann so 20…

Jonas:
Da gab es einen Absatz dazu?

Karina:
Ja…

Jonas:
Einen? 

Karina:
Einen, der war sehr kurz und der Rest, das Dokument ist über 20 Seiten, hat praktisch jeden Artikel in der UN-BRK kritisiert, also wie schlecht die Umsetzung ist.

Raúl:
Gibt es da so Kernthemen, die sich herauskristallisieren, die immer wieder angesprochen und moniert werden, wie Deutschland performt?

Karina:
Ja also das eine Thema, wie wir vorhin kurz angeschnitten haben, ist eben dieses separierende System, also, dass Menschen mit Behinderungen immer noch in diesen Sonderwelten sind, also wie Förderschulen und stationäres Wohnen, Werkstätten für Menschen mit Behinderung, und dieses Jahr war auch relativ harsch kritisiert am Zwang, also Zwangsunterbringung von Menschen mit Behinderung, Fixierung und Gewaltschutz.

Raúl:  
Und da unter anderem wahrscheinlich auch bedingt dadurch, dass vor zwei Jahren in einer Einrichtung in Potsdam eine Klägerin vier BewohnerInnen umgebracht hat. Hat das was damit zu tun? Oder ist es Zufall?

Karina:
Das wird allgemein konstant kritisiert, dass es praktisch keine unabhängige Überwachungsstelle gibt, zum Beispiel Gewalt in Einrichtungen, und da redet sich Deutschland auch schon seit Jahren raus und will die Verantwortung bestimmten Stellen übertragen, die da eigentlich überhaupt nicht überwachen können und schafft eben diese unabhängige Stelle nicht.

Jonas:
Und gleichzeitig hat man ja auch das Gefühl, dass, gerade wenn du Sondereinrichtung ansprichst, dass die Anzahl von Förderschulen oder Wohnheim für Menschen mit Behinderung eigentlich immer weiter steigt oder man so ein Gefühl hat, dass eigentlich seit Jahren sich für das Thema Inklusion eingesetzt wird von vielen Leuten und von vielen Aktivistinnen. Aber wir gerade irgendwie in unserer Gesellschaft an so einem Turning Point sind, wo es gefühlt wieder fast wieder schlechter wird? Oder täuscht das so von meinem Gefühl? Also, wenn man so liest, wie viele Schulen halt sagen: „Nein, Inklusion ist gescheitert, machen wir nicht mehr und viel zu aufwändig.”

Karina:
Ich habe vor kurzem ein Interview mit der Monitoring-Stelle gemacht, und da ging es tatsächlich auch darum, dass wir also eine Rolle rückwärts machen, zum Beispiel im Bereich Förderschulen. Also in manchen Bundesländern werden immer mehr Förderschulen oder Förderschulplätze geschaffen und das gilt auch für stationären Wohnbereich, der ist auch, da ist die Anzahl an Wohnplätzen über die letzten Jahre auch gestiegen. 

Raúl:
Das wird dann damit argumentiert, dass die Inklusion an Regelschulen ja gescheitert sei. Anstatt zu versuchen, das dort gelingen zu lassen, wird quasi das Kind mit dem Bade ausgeschüttet und gesagt, wir bemühen uns da nicht weiter, sondern lassen wir alles beim Alten.

Jonas:
Es ist ja generell dann auch, sag ich mal, seit 2009, seitdem es die UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland gibt, ja, ein Armutszeugnis? Oder beziehungsweise es wird dann von der Monitoringstelle ein Armutszeugnis ausgestellt. Ist ja auch sehr frustrierend auf Dauer eigentlich, dass sie ständig immer wieder, dass sie immer wieder auf dasselbe hinweisen und in dem Sinne einfach nicht gehört werden anscheinend.

Karina:
Ja, die sind da auch, finde ich, sehr direkt in ihren Aussagen. Also da wird dann auch von gesprochen, dass zum Beispiel viele Dinge halbherzig angegangen werden und zum Beispiel, also im Bereich Förderschulen, eigentlich schon zum Scheitern vorprogrammiert waren. Aber dann, ein paar Jahre später, sieht man halt, dass es eigentlich schlecht gemacht war. Aber stattdessen ziehen wir den Schluss, dass wir es mal, anstatt dass wir es richtig machen, dass es eigentlich keinen Sinn hätte. Und wir drehen es deswegen komplett zurück.

Raúl:
Und was ich beobachte, jetzt als Aktivist vielleicht, dass  die Leute, die jetzt Förderschulen gut finden und unterstützen, das jetzt plötzlich auch inklusiv nennen. Es geht um inklusive Bildung, weil Kinder mit Behinderungen haben ja auch ein Recht auf Bildung und dann wird das quasi als inklusiv verkauft oder verschiedene Behinderungsformen in einem Gebäude werden dann quasi als inklusiv verkauft. Aber Inklusion meint eigentlich, dass alle gemeinsam lernen, Kinder mit und ohne Behinderung zum Beispiel und nicht nur spezifische Teilgruppen.

Jonas:
Okay, die wollen dann quasi auch so ein Lob dafür haben, das im Sinne von: entweder Kinder mit Behinderungen bekommen gar keine Bildung, aber sie bekommen Bildung – aber sind trotzdem separiert in dem Sinne, und dafür wollen sie Applaus haben?

Raúl:
So ein bisschen und sowohl Theresia Degener als auch viele Leute, die ich kenne, die sich für inklusive Bildung einsetzen, die sagen auch, dass die Behindertenrechtsbewegung in Deutschland es vielleicht sogar auch versäumt hat, in den letzten Jahrzehnten für inklusive Bildung zu kämpfen. Wir hatten viele andere Schlachten zu schlagen. Wir haben für Barrierefreiheit im Gebäude, vielleicht auch Assistenz und Barrierefreiheit im öffentlichen Personennahverkehr gekämpft. Und Teilhabegesetz zum Beispiel. Und wir haben dabei aber eben oft auch die Bildung vergessen. Und diese Suppe müssen wir jetzt gerade auslöffeln. Quasi, dass da viel zu lange nur Eltern für gekämpft haben oder nur BildungspolitikerInnen oder LehrerInnen, aber es eigentlich keine gute Lobby gibt und gab von behinderten SchülerInnen oder ehemaligen SchülerInnen, die für gute Bildung kämpfen.

Jonas:
Und wir sind ja nicht nur “Die Neue Norm”, der Podcast, der ansonsten in der ARD-Audiothek zu hören ist, sondern auch das gleichnamige Online-Magazin. Und wenn Sie noch mehr wissen möchten, was die Monitoring-Stelle gesagt hat zu dem Status Quo, der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland, dann schauen Sie gerne mal nach in unserem Online-Magazin auf www.dieneuenorm.de. Dort finden Sie den Artikel von Karina, die eben mit dieser Monitoring-Stelle gesprochen hat. 

Jonas:
Wir sprechen heute über die UN-Behindertenrechtskonventionen und haben eben gehört, dass Deutschland in regelmäßigen Abständen, würde ich mal sagen, dafür gerügt wird, diese Konvention eben nicht durchzusetzen, beziehungsweise umzusetzen. Wie sieht denn so eine Prüfung aus, die die Monitoringstelle macht? Weil man kann ja jetzt schwer das so auf das ganze Land oder wie kann man es im ganzen Land betrachten? Weil ich meine Inklusion funktioniert ja manchmal punktuell gut, mal eher weniger. Aber die haben da so den Überblick?

Karina:
Ja, es ist schön, wenn du sagst in regelmäßigen Abständen. Also es war gerade wieder eine Prüfung, und zwar war das aber die zweite und dritte Prüfung zusammen. Und ich habe mich gewundert warum? Also das Ganze nennt sich Staatenberichtsverfahren. Im Endeffekt muss sich da Deutschland vor dem UN-Ausschuss in Genf rechtfertigen mehr oder weniger, wie die UN-BRK umgesetzt wird. Und eigentlich hätte da quasi nach der Ratifizierung nach zwei Jahren schon so eine Prüfung stattfinden sollen. Und dann alle vier Jahre. 2019 wäre dann eigentlich schon die dritte Prüfung fällig gewesen. Das hat sich aber alles rauszögert so wie immer… und deswegen gab es jetzt 2023 quasi die zweite und dritte Prüfung zusammen. Das war jetzt Ende August in Genf. Es ist ein relativ komplexes Verfahren, dem auch viele Schritte vorausgehen, also unter anderem so eine Liste an Fragen. Und dann muss quasi Deutschland sich rechtfertigen und Antworten darauf geben. Und dann kommen alle zusammen in Genf in einem konstruktiven Dialog, der ging auch über zwei Tage und war, also da waren sehr gute Fragen, die da gestellt worden sind von dem UN-Ausschuss. Und eher mangelhafte Antwort vom Staat und zusätzlich schreibt dann die Monitoringstelle einen Parallelbericht, und es können auch noch Selbstvertretungsorganisationen ihre eigenen Parallelberichte einreichen. Also das ist so grob, wie es abläuft. Und am Schluss gibt es dann praktisch noch so abschließende Bemerkungen, wo dann der Ausschuss sagt, was Deutschland quasi gut und schlecht gemacht hat.

Jonas
Hast du da Beispiele, Fragen, irgendwie parat oder kann man das generell auch einsehen? Also ist dieser ganze Prozess auch öffentlich, weil, ich meine, hinter verschlossenen Türen kann man ja eigentlich auch viel erzählen. „Nö, läuft gut mit Inklusion.“

Karina
Das ist alles online, also das kann man alles einsehen. Und die Fragen beziehen sich im Endeffekt halt auf jeden einzelnen Artikel in der UN-BRK und auf die Vorprüfungen. Also da wird halt dann gefragt zum Beispiel: Was ist seitdem und denn passiert? Im Bereich Gewaltschutz gibt es jetzt diese unabhängige Stelle? Und solche Dinge.

Jonas:
Gibt es ein, also wenn, wie du sagst, in der UN- Behindertenrechtskonvention viele Artikel – weil sie ja wirklich auch da sehr detailliert durchgeht – gibt es einen Artikel, der nicht angemerkt wurde? Die Präambel vielleicht, oder?

Karina:
Ja. Also klar, es sind ja nicht alle Artikel, die sich auf Rechte beziehen, aber in Bezug auf die Rechte sind, soweit ich weiß, eigentlich alle bemängelt worden.

Jonas:
Das ist schon wirklich bitter. Und wie kann man jetzt…wir haben eben schon ein bisschen drüber gesprochen, man könnte natürlich dagegen klagen, vorgehen durch alle Instanzen bis nach Genf, bis man graue Haare hat oder muss natürlich auch genug Kapital mitbringen, weil so etwas durchzubringen, kostet natürlich irgendwie auch Geld. Aber was ist denn so der Wunsch, also das, was wir als Forderung nochmal mitgeben können, wie die UN-Behindertenrechtskonvention umgesetzt werden kann, weil das kam ja eben auch schon so ein bisschen zur Sprache, dass Länder sich ungern eigentlich verklagen lassen möchten?

Karina:
Ja, klar, die haben natürlich kein Interesse an Konsequenzen, also Imageverlust ist ja die einzige Konsequenz, die gerade passiert. Da müsste es wahrscheinlich so etwas geben wie einen internationalen Gerichtshof und den gibt es halt nicht. Und da hat auch keiner Interesse daran, dass der existiert, weil ansonsten gäbe es irgendwie Sanktionen.

Jonas:
Ich glaube, Raúl, du hättest Interesse daran. 

Raúl:
Ich hätte Interesse an so einem Gerichtshof und da würde man wahrscheinlich auch schnell zu Ergebnissen kommen, die Deutschland wehtun vielleicht auch. Vielleicht hier fairnesshalber aber auch gesagt, dass eine Woche bevor Deutschland geprüft wurde, beziehungsweise gerügt wurde, auch Österreich geprüft und gerügt wurde und auch nicht viel besser abgeschnitten hat. Zwar schon weiter ist in vielen Fragen der Inklusion als Deutschland. Aber es ist nicht so, dass Österreich kritikfrei durchgeht.

Jonas:
Kann man so ein Ranking machen eigentlich auch von den ganzen Staaten, die die UN-Behindertenrechtskonvention mit unterzeichnet haben? Wo so Deutschland im Vergleich steht?

Karina
Nicht wirklich. Also das ist auch irgendwie schwer zu vergleichen, weil in der UN-BRK ja auch nur drin steht, dass man quasi das Bestmögliche machen muss, was man mit den Ressourcen tun kann. Und die Staaten haben unterschiedliche Ressourcen. Was das Bestmögliche ist, ist ein sehr dehnbarer Begriff.

Jonas:
Ja, für mich bitte nur die zweitbeste Konvention. 

Raúl:
Wenn’s geht. Können Sie es mir bitte einpacken.

Jonas:
Es ist wirklich dann so, dass die Frage ist, ob sich da in Zukunft etwas ändern wird? Weil ich meine, wir sind jetzt da schon 14 Jahre mitgehangen, mitgefangen und haben ständige Rügen bekommen. Gibt es denn da trotzdem die Aussicht darauf, dass es sich dort ändern wird? Oder ich meine, das ist auch bestimmt sehr, sehr ermüdend für die Monitoring-Stelle, bei jeder Prüfung copy-paste-mäßig dann denselben Bericht rauszuschicken.

Karina:
Ich stelle mir das sehr frustrierend vor. Die Monitoringstelle hat zu mir gesagt, dass sie gern sehen würden, dass die Selbstvertretungsorganisationen mehr Gewicht haben, also weil zum Beispiel immer viel Gewicht darauf gelegt wird, zum Beispiel auf die Leistungserbringer der Wohlfahrtspflege, aber eben sehr viel weniger auf die Selbstvertretung.

Raúl:
Und vielleicht ist es auch systemimmanent. Also vielleicht muss das auch so sein, also sonst würde das ganze Kontrollsystem ja nicht funktionieren, wenn man plötzlich sagen würde, ja, läuft doch alles super. Das heißt, diese Kritik gehört dazu, genauso wie ja auch Klimaschutz selten mit Positivmeldungen belegt wird, einfach, weil es immer zu wenig ist. Und dieses Thema auch am Laufen zu halten, ist vielleicht auch Sinn und Zweck dieser UN-Behindertenrechtskonvention, weil sonst könnte man sich selbst attestieren „wir sind doch toll“ und dann einfach aufhören, also brauchst du eine Art Treiber von außen, der einfach nicht zufrieden ist. Sondern das Ganze, wenn ich es richtig verstehe, ich bin kein Jurist, aber wenn ich es richtig verstehe, dann geht es auch darum, dass solche Konventionen unter anderem dafür da sind, um sicherzustellen, dass sich Situationen in Ländern nicht verschlechtern. Das heißt, es gibt ja immer Reformen, und jede Reform muss quasi besser sein als ihr Vorgänger. Und das soll quasi auch damit gemessen werden können und auch dann öffentlich gemacht werden können. Und trotzdem gibt es natürlich Rückschritte. Aber die Idee ist eigentlich, dass es keine geben sollte.

Jonas.
Also ich würde mich total freuen, wenn wir uns, ich meine, wir hören uns ja sowieso einmal im Monat in der ARD-Audiothek, aber wenn wir uns quasi in vier Jahren noch mal hier zusammen treffen bei der nächsten Staatenprüfung und wir dann ganz andere positive Ergebnisse haben, weil vielleicht einige Sachen dann endlich umgesetzt werden. 

Karina:
Ja, das wäre super. 

Jonas:
Wenn Sie generell das Thema Inklusion und Barrierefreiheit interessiert, dann empfehlen wir Ihnen auf jeden Fall unseren Podcast. “Die neue Norm” in der ARD-Audiothek und auch diese Sendung vom Radio 1 Radio-Day inklusiv können Sie natürlich Nachhören auf Radio 1. Und wir freuen uns, dass Sie mit dabei waren. Tschüss, sagen Karina Sturm, Raúl Krauthausen und Jonas Karpa.

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