Kunst – Transkript

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Die Neue Norm: „Drei Journalist*innen, zwei Rollstühle und eine Sehbehinderung: Die Journalist*innen Judyta Smykowski, Jonas Karpa und Raul Krauthausen sprechen über Behinderung, Inklusion und Gesellschaft.

Folge 38: „Kunst“

Raul:
Ich war ja vor ein paar Monaten im Louvre, und alle rennen ja irgendwie in den Louvre, weil da diese ganzen großartigen Kunstwerken sind. Und plötzlich war da eine riesige Traube Menschen, unfassbar viele Menschen. Und dann kam so jemand von der Sicherheit vorbei und hat uns nach vorne gewunken, meine Partnerin und mich, die auch im Rollstuhl sitzt. Und plötzlich standen wir da vor allen anderen, vor der Absperrung sogar und sahen die Mona Lisa. Und es war so hart underwhelming, weil die Mona Lisa doch so klein ist, hinter einer Glasscheibe versteckt und trotzdem der Abstand so groß ist, dass die Mona-Lisa sich so groß anfühlt wie eine Briefmarke, obwohl ich schon vor der Absperrung stand, dass ich mich gefragt habe, warum eigentlich? 

Jonas:
Ist das nicht eh ein Poster? 

Raul:
Du hast zu viel Mister Bean geguckt.

Jonas:
Herzlich willkommen zu Die Neue Norm, dem Podcast. Diesen Podcast findet ihr – übrigens auch alle 37 Folgen davor – in der ARD Audiothek. Und in dieser Folge möchten wir uns ein wenig der Kunst widmen. Künstler*innen mit Behinderung. Welchen Einfluss hat die Behinderung auf die Kunst? Verändert sie die Kunst und können Künstler*innen mit Behinderung von der Kunst leben? Und sehen wir auch an der Kunst, dass Inklusion in Deutschland noch nicht weit genug ist und nicht wirklich funktioniert? Bei mir sitzen Judyta Smykowski und Raul Krauthausen.

Raul & Judyta:
Hallo… Hey…

Jonas:
Mein Name ist Jonas Karpa. Und wir haben in der heutigen Folge einen Gast bei uns, um über Kunst und Kultur zu sprechen, nämlich Dirk Sorge. Er arbeitet als Künstler und Kulturvermittler in Berlin, Leipzig und Chemnitz. Er studierte Bildende Kunst an der Universität der Künste in Berlin und Kultur und Technik sowie Philosophie an der Technischen Universität in Berlin. Und er hat, ähnlich wie ich, eine Sehbehinderung und kann deswegen auch etwas zum Thema Kunst und Kultur und Behinderung sagen. Hallo Dirk.

Dirk:
Hallo! Danke für die Einladung. 

Jonas:
Und endlich ist es mal in diesem Podcast so, dass wir zwei Perspektiven vom Bereich Sehbehinderung haben und mich würde mal interessieren, wie erlebst du Kunst, wenn du ins Museum, in Ausstellungen gehst, wie machst du das?

Dirk:
Also die erste Frage ist ja schon mal, wie erfahre ich überhaupt davon, dass es Ausstellungen gibt? Und da bin ich kein Freund von Flyern oder anderen gedruckten Medien, sondern ich brauche halt digitale Informationen. Im besten Fall in einer barrierefreien Version. Barrierefreie Webseiten, Newsletter, Social-Media – da erfahre ich erst mal überhaupt, was es gibt. Und dann hilft es natürlich, wenn ich schnell erfahre, was ist das Thema, was ist das Konzept der Ausstellung, vielleicht auch der Hintergrund über die beteiligten Künstler*innen und dann in dritter Linie gucke ich mir die eigentlichen Bilder an oder Fotos von der Ausstellung, ob mich die interessieren. Also ich gehe wirklich von dem Konzept her ran, und beeindruckende Bilder haben auch mal eine Wirkung. Aber das ist jetzt nicht der Grund, warum ich in Ausstellungen gehe zum Beispiel. Also ich brauche wirklich ein starkes Konzept, einen guten Inhalt. Und dann ist es für mich ein Grund, dahin zu gehen. Und dann ist natürlich die Frage, wie erlebe ich dann vor Ort die Kunst? Das ist dann unterschiedlich. Im besten Fall natürlich geht man ohnehin mit mehreren Leuten oder zu zweit immer ins Museum. Wenn das nicht möglich ist, dann wäre natürlich schön, wenn vor Ort ein Audioguide da wäre, der auch die Werke beschreibt. Das gibt es ja auch immer häufiger zum Glück. Was ein bisschen schade ist, gerade bei kurzen Ausstellungen oder auch bei Biennalen, die vielleicht nur ein paar Monate laufen, da ist häufig diese barrierefreie Vermittlung gar nicht mitgedacht, also diese Barrierefreiheit für den Zugang zu den Inhalten. Die gibt es in der Regel für Dauerausstellungen, also Ausstellungen, die lange, also bis zu zehn Jahre auch wirklich stehen. Für die gibt es häufig ganz gute Angebote, aber für kurzfristige Ausstellung ist es immer schwierig. Das heißt, da gibt es auch dann das Angebot vielleicht mal, dass eine Führung stattfindet, wo dann in der Führung Werke beschrieben werden oder Tastmodelle angeboten werden, die dann vielleicht so ein bisschen improvisierter sind. Aber auch die können trotzdem guten Zugang bieten zu den Kunstwerken oder zu den Inhalten der Ausstellung.

Jonas:
Ich finde das so spannend, weil manchmal auch uns als Sozialhelden e.V. die Frage gestellt wird, wie kann man solche Ausstellungen irgendwie barrierefreier machen? Und ich immer denke, das ist gar nicht so ein weiter Schritt zu einem Audioguide, der einfach sagt: „Bitte gehen Sie weiter zum Gemälde Nummer drei“. Und dann wird irgendwas über die Geschichte erzählt, dann einfach das eben barrierefrei zu machen und dann einfach eine Bildbeschreibung mit einzufügen. Oder eben dann zu sagen: Gehen Sie nicht zu dem Gemälde, wo jetzt ganz klein die Nummer drei irgendwie angedruckt ist und man das irgendwie nicht erfahren kann, sondern das eben auch so ein bisschen räumlich zu beschreiben, in welche Richtung man gehen sollte. Ist es immer das, was ich mir wünschen würde, was – wie du gesagt hast – natürlich immer häufiger kommt. Aber ich finde dieser Gedankengang, dass man so etwas anbieten könnte, wenn man so ein System eh schon hat, eigentlich gar nicht so schwierig. Judyta und Raul – ihr als Personen, die im Rollstuhl unterwegs seid, wie ist es für euch, in Museen zu gehen? Jetzt unabhängig davon, erst mal um die Frage zu stellen, kommt man überhaupt in das Museum rein? Aber sowas sich aus der Rollstuhlperspektive im wahrsten Sinne des Wortes anzugucken, weil ich meine, die Bilder meistens, sie hängen ja eigentlich immer auf Höhe für Fußgänger*innen.

Judyta:
Ja, und sie sind dann auch bestrahlt in einem bestimmten Winkel. Also, da können wir ja auch nochmal gleich darüber sprechen, ob es da überhaupt diesen Normbesucher/Normbesucherin gibt. Deswegen mag ich große Bilder und große Fotografien und was sehr, sehr schwierig ist, ist dann manchmal so in der Mitte des Raumes gibt es ja manchmal sowas wie so einen Kasten. Und dann sind da irgendwie die letzten Armbänder oder Uhren des Zaren oder so. Und das sehe ich überhaupt nicht. Also in diese Kästen kann ich nicht von oben reingucken.

Raul:
Du meint diese Vitrine?

Judyta:
Ja, genau, Vitrinen.

Dirk:
Ja, genau, der Fachausdruck für die Kästen sind Vitrinen. 

Jonas:
Aber es ist ja nicht nur bei Bildern so, ich glaube auch bei Skulpturen. Also ich meine, wenn du dann so unterwegs bist und bist dann auf einer gewissen Geschlechtsteilhöhe die ganze Zeit unterwegs, ist dann auch nicht auf Dauer so optimal oder vielleicht auch doch. 

Raul:
Was mich an meisten nervt, das passt mir echt regelmäßig, dass dann das Sicherheitspersonal kommt und sagt, ich müsse hier vorsichtig vorbeifahren. 

Judyta:
Echt?

Raul:
Als ob ich die Kunstwerke kaputtfahren würde. Keine Ahnung. Entweder sehe ich so aus, dass ich unberechenbar bin, aber es wäre vielleicht auch passiert…

Judya:
Das passiert mir nur beim Juwelier.

Raul:
Echt? Oh Gott.

Judyta:
Das ist dann auch immer so…

Dirk:
Das sind jetzt ganz verschiedene Ebenen schon. Das eine ist eben das Personal. Wie verhält sich das? Ist das geschult überhaupt im Umgang mit Menschen mit Behinderung? Das ist ein riesiges Thema, gerade so Sicherheitspersonal, was ja häufig auch externe Firmen sind. Die sind ja gar nicht direkt bei Museum angestellt. Deswegen lohnt sich auch oft nicht, dass die weitergebildet werden, weil die nach ein paar Monaten ohnehin wieder ausgetauscht werden. Dann eben das Thema noch, ja, wie finde ich überhaupt die Beschreibung zu dem jeweiligen Kunstwerk? Habe ich irgendeine klitzekleine Nummer irgendwo versteckt am Rand, die ich dann in den Audioguide eintippen muss? Oder geht das automatisch, wenn ich mich dem Kunstwerk nähere, auch das wäre eine Option. Wie orientiere ich mich im Museum? Gibt es ein Bodenleitsystem? Alles das sind riesige Fragen, bis hin zur Ausstellungsgestaltung. Wie hoch wird was gehängt? Wird eine Vitrine unterfahrbar gebaut oder nicht? Werden flache Objekte angeschrägt, dass man sie auch im Sitzen besser sehen kann – alles das sind ja ganz viele Fragen. Und dann kommt so etwas wie Bedingungen von der Restauration oder von den konservatorischen Bedingungen für Objekte. Manche können nicht angeschrägt werden, weil die einfach zerfallen würden. Manche Objekte können nicht besonders hell beleuchtet werden, weil es da Grenzwerte gibt, weil irgendwelche alten Stoffe, weil die Farben sonst verschwinden würden. Also das sind ganz viele äußere Faktoren, die quasi diese Barrierefreiheit erschweren. Aber trotzdem müssen wir daran arbeiten. Und trotzdem gibt es ja auch Methoden. Und jetzt gerade das Thema, man kann nicht so nah an die Kunstwerke ran, weil dann die Alarmanlage angeht oder der Sicherheitsdienst verrückt wird. Aber man kann ja auch mit digitalen Mitteln einfach Dinge vergrößern. Man muss ja nicht immer in Person vor ein Objekt treten. Früher war es ja noch oft verboten, Fotos zu machen in der Ausstellung. Mittlerweile ist das ja gar nicht mehr zu vermeiden. Und dann auf dem Smartphone und auf einem Tablett kann ich mir das Objekt auch dann näher ranholen, vergrößern, Kontraste verstärken, wie ich es brauche, das heißt, das ist eine riesige Erleichterung natürlich.

Raul:
Und dann gibt es ja noch – es fällt mir immer wieder auf, wenn ich mit Freunden oder Familie in Museen gehe, die dann in der Regel die Treppe nehmen und man als rollstuhlfahrender Mensch über den Aufzug geht und dann plötzlich aber bei Kunstwerk 73 rauskommt. Und man dann diese ganze Reise gar nicht mitgemacht hat, die der/die Museumspädagoge/in sich mal überlegt hat.

Dirk:
Richtig! Das ist ein riesiges Problem, wenn die Architekt*innen das nicht von Anfang an an der gleichen Stelle einplanen – Aufzug und Treppe. Dann hat man eine ganze Reihe von Folgeproblemen. Die Leitsysteme müssen irgendwie dann rückwärts gelesen werden. Die Audioguide-Nummern passen nicht mehr. Also das ganze Konzept zerfällt im Grunde, und das sieht man teilweise auch noch selbst bei Neubauten. Bei Museumsneubauten erlebe ich das, dass da selbst da nicht mitbedacht wird. Und das macht mich wirklich wütend.

Jonas:
Aber ich finde auch das, was du eben noch mal gesagt hast, dass mit dem, dass auch dieses Bewusstsein ganzheitlich irgendwie mitgedacht wird, das mit dem Fotografieren und Smartphones beziehungsweise Hilfsmittel benutzen. Das ist auch noch das, was ich so erlebt habe. Also ich benutze auch häufig mein Smartphone, die Kamera, um die Gegenstände näher zu holen, beziehungsweise abzufotografieren, dann nochmal ranzuzoomen. Und ich habe es dann häufig schon erlebt, dass dann eben genau dieses Feedback dann vom Sicherheitspersonal oder von den Museumspersonal dann kam, dass das irgendwie dann eben nicht erlaubt sei, hier Fotos zu machen. Und ich sage: Ich mache keine Fotos – Sie können nach der Ausstellung gerne sich mein Smartphone angucken, dass ich keine Bilder gemacht habe, sondern eben nur diese Lupenfunktion nutze, und das aber irgendwie gar nicht so… einfach mitgedacht wird.

Dirk:
Ich denke, mittlerweile sind die Museen aber ganz froh, wenn du Fotos machst und sie dann auf Social Media postest, mit dem passenden Hashtag, das ist ja auch Werbung für die Ausstellung wiederum. Also ich glaube, dass hat sich in den letzten Jahren so ein bisschen gedreht, das Verhältnis zu Fotografie.

Jonas:
Wir haben dich aber ja nicht nur eingeladen, weil du quasi noch mal aus Zuschauer*innenperspektive uns noch etwas erzählen kannst, sondern eben weil du auch ja selber Künstler bist.

Judyta:
Genau. Und apropos Social Media – du bist ja auch visueller Künstler, das können wir gleich nochmal besprechen, was das genau ist. Dein aktuelles Projekt ist ja auch auf Instagram einfach mal die automatisch generierten Alternativtexte zu posten. Das ist manchmal auch sehr witzig und manchmal auch sehr profan. Magst du mal erzählen, wie du darauf gekommen bist?

Dirk:
Ja gerne. Also vielleicht noch mal kurz davor – also visueller Künstler, das ist einfach die Übersetzung für Visual Arts –  ist einfach bildende Kunst auf Deutsch. Also ich bin Bildender Künstler, kann man auch einfach so sagen. Und tatsächlich, die Alt-Texte, das ist ein Projekt, das habe ich im letzten Jahr angefangen, als ich gemerkt habe, dass mir auf Instagram halt immer automatische Alt-Texte vorgelesen werden, wo eigentlich ein Mensch hätte einen Alternativtext eingeben sollen. Also wenn du ein Foto hochlädst bei Instagram, kannst du ja selbst einen Text eintippen, der beschreibt dann eben, was auf dem Foto dargestellt ist. Das machen aber die allermeisten Menschen eben nicht. Und dann immer springt die automatische Bilderkennung ein, also eine künstliche Intelligenz auf einem ganz, ganz niedrigen Niveau allerdings, die versucht dann nach bestem Wissen und Gewissen irgendwas zu beschreiben. Da kommt dann sowas raus wie „Maybe an image of one person“. Also vielleicht ein Bild einer Person oder vielleicht ein Bild einer Blume oder vielleicht ein Bild eines Denkmals. Aber viel weiter ist die eigentlich nicht. Aber man erkennt an diesen Kategorien trotzdem ganz gut, welche Themen überhaupt relevant sind. Also, wo es sich überhaupt lohnt, dass die künstliche Intelligenz quasi darauf trainiert wurde. Also welche Kategorien gibt es überhaupt? Und dann in manchen Fällen ist sie dann doch plötzlich sehr, sehr spezifisch. 

Also dann heißt es „Maybe an image of food“ – also vielleicht ein Bild von Essen. Und dann heißt es aber „Maybe an image of cupcake“ – also vielleicht ein Bild einer, na, was ist das? Napf-Törtchen auf Deutsch…Muffin… genau. Also viel, viel zu spezifisch eigentlich dann wiederum. Aber das verrät halt ganz viel darüber, was für Content Leute posten. Und das macht das eben deutlich, was im Hintergrund abläuft und auch, was für Themen relevant sind und aber gleichzeitig eben auch auf einer traurigen Art eben, wie oberflächig so eine Beschreibung sein kann. Vielleicht ein Bild eines Denkmals, es sagt mir halt nicht, was für ein Denkmal. Wofür steht denn das? Was ist denn das Thema des Denkmals? Alles das fehlt mir halt als blinde Person oder Person mit Sehbehinderung. In dem Fall, wenn es ein Mensch nicht beschreibt. Und auf die Art macht das Projekt eben auch deutlich, wie Informationen einfach fehlen für manche Menschen oder Menschen mit Sehbehinderung auf Instagram oder auch auf anderen Social-Media-Plattformen. Aber es ist auf eine Art auch humorvoll und auch ein bisschen poetisch manchmal diese Bilder. Und ich schreibe per Hand quasi was ich höre sozusagen, was mir gesagt wird von der künstlichen Intelligenz.

Jonas:
Aber trotzdem ist es ja so, dass du jetzt in diesem Projekt, wo man jetzt sagen würde, okay, eine Person mit Sehbehinderung. Und nimmst dann in diesem künstlerischen Akt trotzdem ein Thema, was ja etwas mit deiner Behinderung zu tun hat. Also inwieweit ist das, ja, auch wirklich beabsichtigt, dieses zu vermischen?

Dirk:
Also in dem Fall ist es schon sehr wichtig, weil ich selber ja einen Screenreader benutze. Das heißt, ich lese oder höre dann in dem Fall wirklich auch, was die künstliche Intelligenz da produziert hat. Das könnte natürlich auch eine Person ohne Sehbehinderung machen. Aber das ist natürlich für mich viel naheliegender. Und mich betrifft es ja auch viel mehr im Alltag. Und für andere Arbeiten ist es vielleicht nicht so relevant, dass ich selbst eine Behinderung habe, aber für die schon. Und vielleicht noch mal, um anderes Beispiel zu bringen: Ich habe auch eine Performance gemacht, wo ich tätowiert wurde. Also wo mir die drei schwarzen Kreise des Blindenzeichen auf die Brust tätowiert wurden, und dafür ist es schon wichtig zu wissen, dass ich selbst auch eine Sehbehinderung habe, dass ich dieses Zeichen auch im Verkehr tragen darf, ganz offiziell. Und das es nicht irgendeine Person ist, also für diese Art von Kunst kann es schon relevant sein zu wissen, ob der/die Künstler/in selbst eine Behinderung hat oder nicht – für andere Kunstwerke vielleicht nicht. Aber das hängt wirklich von der jeweiligen Arbeit ab.

Raul:
Was mir in dem Kontext auffällt – es wird immer sehr schnell gesagt, dass der oder die Künstler/in eine Behinderung hat. Aber sehr selten wird der Name dieser Künstlerin genannt. Also es wird eher gesagt, dass die Person behindert ist, als wie zum Beispiel ihr Name – also, mir fällt das immer auf bei beispielsweise Theaterstücken. Inklusives Theater mit Down-Syndrom, aber wir erfahren nichts über deren Namen.

Dirk:
Ja, das fällt mir insbesondere dann auf, wenn es um Menschen aus Werkstätten für Menschen mit Behinderung geht. Also das ist ganz häufig, dass die Werkstatt selber im Fokus steht und die einzelnen Individuen aber gar nicht. Und das ist ein riesiges Problem. Häufig können auch dann selbst Leute, die interessiert sind, können diese einzelnen Personen gar nicht erreichen. Die müssen immer über die Werkstatt gehen. Das heißt, diese einzelnen Künstler*innen können gar keine Persönlichkeit entfaltet oder können nicht sichtbar sein als Einzelperson, können auch nicht erreicht werden und sind wirklich isoliert in dem Sinne, dass immer die Werkstatt dazwischengeschaltet ist. Und das ist ein riesiges Problem. Und das verhindert auch, dass diese Personen jemals überhaupt eine Karriere starten können, ohne diese Werkstatt im Hintergrund zu haben. 

Raul:
Und dadurch werden sie auch nicht recherchierbar.

Dirk:
Genau. Sie sind unsichtbar dadurch. Und selbst Menschen, die irgendwas supercool, fanden was sie gesehen haben, haben Schwierigkeiten hinterher, diese Person zu kontaktieren, und das isoliert sie halt. Aber auch abgesehen davon, ist natürlich das Problem der Bezahlung auch noch ein riesiges Thema. Also das ist ein echtes Dilemma. Wie Menschen mit Behinderung, die in Werkstätten arbeiten, wie die bezahlt werden für Projekte, die vielleicht auch nur kurzfristig sind, für die sie den Werkstattstatus aber nicht verlassen. Also dieser Ein- und Ausstieg ist viel zu kompliziert für diese Kurzfristigkeit von Kunstprojekten zum Beispiel.

Jonas:
Und grundsätzlich ist es ja so, dass Menschen mit Behinderung, die vielleicht dann eben auch Kunst- und Kulturschaffende sind, im Werkstattkontext – dass da ja auch tolle Projekte eigentlich entstehen und die ja ein gutes Endprodukt auf die Beine stellen. Und wie ist deine Erfahrungen oder wie ist dein Gefühl, wie die Kunst wahrgenommen wird, wenn offensiv gesagt wird, dass es eine Person mit Behinderung macht? Hast du das Gefühl, dass das Feedback und die Resonanz, die auch du vielleicht bekommst, anders ist oder eher, ja, weichgespülter in dem Sinn, dass dann vielleicht irgendwie gesagt wir: Ja, also dafür, dass er eine Behinderung hat, ist es schon ganz nett.

Dirk:
Also ich glaube, wir erleben gerade so einen ganz spannenden Übergang. Also, wo tatsächlich auch überhaupt immer mehr Menschen auf dem Schirm haben, dass es Künstler*innen mit Behinderung gibt und dass die eben nicht immer im Werkstatt-Kontext arbeiten. Ich glaube, was mir hilft – ich habe eben an der Kunsthochschule studiert, bin quasi den ganz normalen Weg gegangen und habe dadurch auch eine Legitimation. Aber das haben natürlich viele andere nicht. Und dann ist es noch schwieriger, den Fokus auf die Kunst zu lenken. Und selbst wenn die Behinderung für die Kunst wichtig ist, darf die Behinderung halt nicht alles überschatten. Und das ist superschwierig. Da ist auch die Frage wie berichten Medien darüber zum Beispiel? Also wenn jetzt irgendwie so reißerisch gesagt wird: Der blinde Pianist tritt heute Abend auf. Vielleicht ist es gar nicht immer relevant zu sagen, dass die Person blind ist und nicht in jedem Kontext ist die Info vielleicht wichtig. Und auch sollte das nicht die erste Information immer sein. Und das ist halt ein schmaler Grat. Das hat mit Öffentlichkeitsarbeit zu tun. Ich würde immer sagen, dass das letzte Wort immer die Künstler*in selbst haben soll. Was wird wie kommuniziert, auch, in welcher Reihenfolge wird es kommuniziert? Und da sind wir halt gerade auf dem Verbesserungsweg, würde ich sagen. Es war vor ein paar Jahren noch viel schwieriger, hat auch mit Generationsfragen zu tun. Also es gibt jetzt auch in vielen Kultureinrichtungen einen Generationswechsel, wo ich auch merke, dass jüngere Menschen doch eher auch kritisch solche Dinge hinterfragen, dass auch der Begriff Ableismus immer mehr bekannt ist auch im Kulturbereich. Ich glaube, dass ist schon eine Verbesserung, würde ich sagen.

Judyta:
Aber brauchen wir nicht auch Vorbilder? Also braucht es nicht immer den Nachwuchs, die Vorbilder? Also muss man es nicht eigentlich auch noch immer benennen: Es gibt Künstler*innen mit Behinderung – weil dann irgendwie andere Leute sich denken: Ah, okay, ich könnte das auch.

Dirk:
Vorbilder sind wichtig, und eigentlich sind auch Zahlen und Daten mal sehr wichtig. Und die haben wir halt gar nicht in Deutschland, das ist ein riesiges Problem. Also gerade die Berufsverbände, die wissen häufig gar nicht, wie viele oder überhaupt, ob sie Mitglieder haben mit Behinderung. Wissen auch gar nicht, wie der Bedarf ist zum Beispiel an barrierefreien Ateliers oder barrierefreien Proberäumen. Diese ganzen Daten werden überhaupt nicht erhoben. Und das ist ein riesiges Problem. Weil auch dann natürlich die Forderungen dadurch weniger Nachdruck bekommen können, wenn einfach diese Zahlen gar nicht erhoben werden. 

Oder auch bei Kulturförderprogrammen wird es weder abgefragt noch irgendwie wird dafür Geld bereitgestellt für Barrierefreiheitsmaßnahmen – also in ganz, ganz wenigen Ausnahmen ist das überhaupt ein Thema. Und wenn alles das strukturell quasi das nicht beachtet wird, dann bleibt es halt erst mal Nischenthema ganz lange Zeit. Und dann sind diese Vorbilder natürlich umso wichtiger, um zu zeigen es geht doch, es hat eine künstlerische Qualität. Und es muss sich nicht quasi hinter anderen künstlerischen Arbeiten verstecken. Dafür sind natürlich auch dann große Ausstellungen wiederum wichtig. Es gibt jetzt gerade im Schwulen-Museum in Berlin eine ganz, ganz tolle Ausstellung, die ich allen Leuten ans Herz lege. Und vor zwei Jahren gab es in Frankfurt am Main die Ausstellung Crip Time, die war natürlich auch wichtig, weil die einfach mal in einem Mainstream-Kunstort auch Künstler*innen mit Behinderung groß präsentiert hat. Und natürlich, dann gucken wir immer ins Ausland, also meistens ins englischsprachige Ausland, weil da einfach diese Diskurse schon vor 30 Jahren geführt wurden. Und das ist immer unser Vorbild. Und da müssen wir im Grunde hin, dass es überhaupt was wie Disability Arts gibt, dass es den Begriff überhaupt in Deutschland gibt und dass der nicht mit Behinderten-Kunst im Sinne von Werkstatt-Kunst gleichgesetzt wird. Das ist eigentlich der Weg, auf dem wir uns gerade befinden.

Raul:
Da habe ich eine Frage: Wenn wir über Vorbilder reden, dann reden wir irgendwann auch über Ausbildung. Wie steht es denn überhaupt um die Ausbildung von unabhängigen Künstler*innen, die jetzt nicht in einem Werkstatt-Kontext Kunst machen?

Dirk:
Also da gibt es eine ganze Reihe von Problemen. Ich meine, das Offensichtliche ist eben allein schon das Bauliche. Die ganzen Kunsthochschulen sind irgendwie Gebäude aus dem 19. Jahrhundert. Da könnt ihr euch vorstellen, in welchen barrierefreien Zustand die sind. Bis hin zu komplizierten Anmeldeformularen, Auswahlverfahren, die über mehrere Tage gestreckt sind, die einfach auch oft nicht transparent sind. Was wird erwartet? In welchen Räumen finden die statt, wer wird anwesend sein? Also alles diese Dinge, die ja auch irgendwie mental extrem belastend sind. Das sind Probleme. Im Studium selbst: sind die Lehrmaterialien barrierefrei zugänglich, sind die Dozent*innen geschult im Umgang? Alles das sind ja ganz, ganz viele Fragen. Ich denke, was in der Bildenden Kunst ein Vorteil ist, dass da das ganze System so ein bisschen offener ist als meinetwegen in einer Tanzausbildung oder in einer Schauspielausbildung oder noch in der Musik. Ich würde sagen, in der klassischen Musik ist wahrscheinlich dieser Leistungsgedanke und dieses ganz, ganz fast schon militärische Ideal noch am stärksten. Wenn du nicht mit vier Jahren angefangen hast Klavier zu spielen, kannst du mit 18 nicht die Aufnahmeprüfung schaffen… so jetzt übertrieben. Und da gibt es auch kein Verständnis für Menschen, die mal einen Tag Pause machen müssen, die mal nach 18 Uhr nicht mehr proben können. Oder wie auch immer. Also ich würde sagen, das ist die Bildende Kunst noch relativ gut, weil sie einfach auch diese alternativen Arbeitsweisen auch irgendwie für sich selber erkannt hat, als wertvoll. 

Jonas:
Judyta, du wolltest Profigeigerin mal werden eine Zeit lang – was hat dich gehindert?

Judyta:
Meine Unlust zu üben. 

Jonas:
Ja, okay.

Judyta:
So was Dirk sagt, also mindestens sechs Stunden pro Tag. Ich weiß auch nicht, wie man da nebenbei zur Schule gehen soll. Aber gut, ist ein anderes Thema. Aber auch tatsächlich dann auch behinderungsbedingte Sachen. Na also die Gelenkigkeit beim Geigenspielen ist natürlich auch eine Sache, die es mir dann so ein bisschen verhindert hat und auch ein bisschen die Erfahrung der Lehrer*innen, dass die mir auch weiterhelfen können mit meinen Gegebenheiten. Das hat eben auch gefehlt. Was da war, war Itzhak Perlman, mein großes Vorbild, der Geiger, US-amerikanischer-jüdischer Herkunft, der eben die ganze Zeit mein Vorbild war, der eben auch saß beim Geigespielen und eigentlich sitzt man auch im Orchester, so, das ist eigentlich auch kein Problem, aber ja, also so ein paar Stellschrauben, so ein paar Erfahrungen haben gefehlt. Und ich hoffe eben, heutzutage ist das anders.

Jonas:
Raul, durch dich habe ich den Spruch oder den Ausdruck kennengelernt: Kein Applaus für Scheiße! Bekommen Menschen mit Behinderung, die in der Kunst aktiv sind, ehrliches Feedback? Oder bekommen Sie nur belächelndes Lob?

Raul:
Also in meiner Fernsehsendung „Krauthausen face-to-face“, wo ich ja viele Folgen lang mit Künstler*innen mit Behinderung über genau diese Frage unter anderem auch rede: Wie unterscheidest du eigentlich Mitleidslob oder dieses Behindertenlob „Oh, das ist aber so toll, dass du auch ein Bild gemalt hast.“… zu so wirklich konstruktiven Lob, ehrlichem Lob oder eben auch Kritik? Und die sagen alle, das spürt man irgendwie. Aber es ist gar nicht so leicht, voneinander zu unterscheiden. Und das ist auch für viele Künstler*innen immer ein Dauerthema. Weil es ist auch sehr auffällig, dass Künstler*innen in der Kritik oder wenn sie dann beschrieben wird, diese Kunst, sich sehr häufig so wiederfinden, dass es denn vor allem so um die Behinderung geht und kaum um die Kunst. Und dann das auch wieder so eine Art Stigmatisierung ist. Und es würde mich interessieren, wenn es jetzt so etwas gibt, wie diese Ausstellung im Schwulen-Museum in Berlin – irgendwas mit Queering The Crip oder so, und dann diese andere Crip Time-Ausstellung und überall steht Crip, Crip oder Inklusion oder Diversity drauf… dann frage ich mich halt so ein bisschen, lade ich dann aber auch nicht eigentlich schon wieder die Leute ein, die sowieso schon empfänglich für dieses Thema sind? Und müsste nicht eigentlich plötzlich irgendwo behinderte Kunst auftauchen, wie halt weibliche Kunst plötzlich irgendwo auftaucht und es nicht immer nur unter einem bestimmten Label stattfinden sollte?

Dirk:
Ja, auf jeden Fall. Bei der Ausstellung Crip Time war es ja auch so, dass auch Menschen ohne Behinderung da auch mit ausgestellt wurden, die einfach über das Thema Zeitwahrnehmung, Vergänglichkeit und Leistungsdruck und solche Dinge auch thematisiert haben. Also da ging es gar nicht nur, dass nur Menschen mit Behinderung ausgestellt wurde. Das war eher ein thematischer Zugang. 

Raul:
Aber ich meinte das noch mal einen Schritt weiter. 

Dirk:
Also ja, dass auch einfach in irgendeiner x-beliebigen Ausstellung auch Menschen mit Behinderung… das ist natürlich das Ziel. Da kommen wir auch schrittweise hin. Aber ich glaube, noch brauchen wir diese offensive Thematisierung. Was ich auf jeden Fall vermeiden würde wäre, das Wort Inklusion in irgendeinem Titel von der Ausstellung oder einem Theaterstück oder wie auch immer zu verwenden, also dieses Wort ist genau kontraproduktiv. Das würde genau zum Gegenteil führen. Beim Wort Crip würde ich sagen es ist okay, weil es ja auch eine Selbstaneignung ist und ein empowerndes Wort. Da würde ich das eher noch durchgehen lassen. Aber Inklusion als Teil von einem Ausstellungstitel würde ich wirklich vermeiden.

Judyta:
Wie traurig das ist, oder? Also Inklusion ist eigentlich das Ziel und sollte das Ideal sein einer Gesellschaft. Und dann ist es schon jetzt so verpönt, das eben auch zu sagen.

Dirk:
Naja, aber du würdest ja in einem Ausstellungstitel trotzdem das Thema in den Vordergrund stellen und nicht, was das gesellschaftliche Ziel ist. Also ich würde immer vom Thema eigentlich eher ausgehen und nicht, was wollen wir denn jetzt langfristig gesellschaftlich politisch erreichen. Das kann ja im Hintergrund trotzdem ablaufen. Aber es muss ja nicht im Titel erwähnt werden.

Judyta:
Du meinst auch so ein bisschen, die Kunst sollte nicht immer erziehen müssen.

Dirk:
Nein, überhaupt nicht. Und die Kunst sollte auch nicht mit dem Zeigefinger kommen, also vielleicht eher mit einem Mittelfinger, wenn überhaupt. Und vielleicht noch mal kurz einen Schritt zurück: Also auch, wenn Künstler*innen ihre eigene Behinderung thematisieren, es geht ja nicht um sie als Person. Es geht doch häufig darum, was eigentlich gesellschaftlich schiefläuft. Und wenn ich diese Alt-Texte thematisiere, da geht es ja nicht darum, dass ich jetzt persönlich diese Alt-Texte mir vorlesen lasse, sondern es geht ja darum, was eigentlich im Hintergrund auf Instagram abläuft. Wie da Bilder kategorisiert werden, vielleicht wie die auch später verwertet werden oder ausgewertet werden. Das geht ja gar nicht nur um die eigene Behinderung, sondern die Behinderung ist quasi der Ausgangspunkt, um Fragen zu stellen, die aber auch dann ganz andere Bereiche thematisieren oder ganz andere Ebenen auch betreffen. Also das würde ich noch mal unterscheiden wollen.

Jonas:
Aber ich habe jetzt neulich zum Beispiel mal wieder Fernsehen geguckt, und in der Fernsehwerbung werden ja manchmal neue Musikalben promotet und beworben. Und da ist häufig so der Umgang damit, dass ja so beschrieben wird, was auf dem Album so zu hören ist. Und da kam neulich die Aussage: Die Künstlerin verarbeitet in diesem Album den Trennungsschmerz zu ihrem Ex-Mann. So also, wo ich sage, quasi die Kunst des Musikmachens, da steckt die persönliche Verarbeitung mit drin von Gefühlen. Und meine Frage ist da, muss die Kunst von Menschen mit Behinderung unbedingt auch eine Verarbeitung ihres Leidens vielleicht sein? Also muss man dann zwangsläufig auch die Behinderung irgendwie mitverarbeiten?

Dirk:
Also was du beschreibst, ist ja so eine Art therapeutischer Ansatz, wo also Menschen quasi nicht anders können, als Kunst zu machen und dann damit irgendwie ihre inneren Probleme irgendwie besser ausdrücken oder verarbeiten können. Ich würde sagen, Kunst, wenn sie öffentlich gezeigt wird, sollte immer mehr sein als das. Also wenn sie öffentlich gezeigt wird. Ich kenne die Personen nicht, ich habe keinen persönlichen Bezug zu dem/der Künstler*in, dann muss es was geben, was mich trotzdem daran interessiert. Und dann kann es nicht nur eine rein biografische individuelle Geschichte sein. Also es kann der Ausgangspunkt sein meinetwegen, aber es muss dann einen Schritt weitergehen. Ich würde sagen, es klappt nur dann, wenn du als Betrachter*in irgendwie eine Brücke schlagen kannst und die dann halt oft auf dein eigenes Leben beziehen kannst. Dann klappt es. Aber wenn es nur bei der Person selbst bleibt, ist es, glaube ich, zu wenig. Das ist das ja bestenfalls therapeutisch.

Jonas:
Heißt das, Judyta, wenn du jetzt künstlerisch aktiv wärest und den innerlichen Schmerz mit der Krankenkasse und der Bewilligung von einem neuen Rollstuhl Ausdruck verleiten möchtest und…

Judyta:
Musst du in diese Wunde wieder rein…..

Jonas:
Es tut mir leid, aber wenn du das verarbeiten würdest durch eine große Installation…

Judyta:
…eine Schrei- Performance…

Jonas:
…entweder das oder durch eine große Darbietung, indem du quasi 20 zerstörte Rollstühle, die bunt besprüht sind, quasi als Installation aufbaust… wäre das was? Oder müsstest dann darauf verzichten, weil es ja quasi dann nur deine persönliche Geschichte ist? Oder Leute kommen hin und sagen: Aha, das sagt mir irgendwas.

Judyta:
Ja, es ist ja wieder Aufmerksamkeit darauf lenken eines gesellschaftlichen Problems, wie Dirk sagt. 

Dirk:
Genau, es geht nicht um deine ganz spezifische Problematik, das ist vielleicht der Startpunkt. Aber es soll dann auf einer anderen Ebene auch noch was zeigen oder darstellen. Vielleicht als Beispiel mal wieder von der Ausstellung Crip Time. Da gab es eine US-amerikanische Künstlerin Shawanda Corbett. Die hat Skulpturen dargestellt, die vom weiten so ein bisschen wie Schachfiguren aussehen vom Profil her, aber viel größer, also eine Mischung aus Schach, Figuren und Vasen. Und erst, wenn man so ein bisschen recherchiert, checkt man, was die Verbindung zu ihrer eigenen Behinderung ist. Die ist jetzt nicht im Vordergrund, aber sie ist zum Teil naheliegend, wenn man es einmal weiß. Man braucht diese Information nicht, um erst mal die Skulpturen irgendwie cool zu finden, weil die total eine krasse räumliche Wirkung haben, weil die auch farblich eine totale Präsenz haben. Aber es gibt quasi einen kleinen Kniff, der da ist, den man auch nachlesen kann. Aber man muss das nicht als Erstes wissen, um diese Skulpturen erst mal einfach ästhetisch erfahren zu können, um sie auch spannend finden zu können. Und das ist halt das, was ich meine. Es darf nicht sozusagen nur um diese eine Person konkret gehen. Also es muss halt noch eine Form finden, die auch für sich stehen kann, die auch für sich irgendwie ansprechend oder zumindest irgendwie interessant auf irgendeine Art und Weise wirkt oder vielleicht auch abschreckend oder verstörend. Oder wie auch immer. Aber es muss auch losgelöst von der konkreten Personen irgendwas in mir auslösen.

Judyta:
Aber so von der Zuschauer*innen-Perspektive auch noch – gerade weil du das mit dem auslösen, dass es irgendwas auslösen soll, dass wie wir es verstehen sollen, dass wir es erfassen sollen. Ich finde, Kunst hat auch sehr auch häufig was Elitäres. Also dass du dich immer fragst, habe ich das jetzt eigentlich verstanden? Muss ich das eigentlich verstehen, was der/die Künstler/Künstlerin hier gerade sagt? Muss ich das komplett erfassen? Oder darf ich mir auch meine eigene Meinung bilden?

Dirk:
Ich glaube, du musst dir deine eigene Meinung bilden, weil ich glaube, die allerwenigsten Künstler*innen würden sagen: Ich habe hier was, was ich irgendwie ausdrücke, und du musst es hinterher irgendwie entziffern. Das ist ein ganz, ganz falsches Kunstverständnis. Diese Idee, dass die Künstler*innen irgendwas Geheimnisvolles ins Kunstwerk reinpacken, was du hinterher wieder auspacken musst. Ich glaube, so funktioniert das überhaupt nicht. Also was aber natürlich stimmt, viele Kunstwerke brauchen viel Hintergrundwissen, um erstmal zu verstehen, was ist denn da der Gedanke gewesen? Oder worauf bezieht sich das, vielleicht auch auf irgendwie historische Ereignisse oder auch weltpolitische Geschehen, die nicht jeder auf dem Schirm hat. Das Wissen kann natürlich dann fehlen, bei den einzelnen Personen, und dann würden sie auch vielleicht nicht die Relevanz von dem jeweiligen Kunstwerk verstehen. Also es gab jetzt auf der Documenta in Kassel, gab es ja ganz viele politische Arbeiten, die auch Dinge thematisieren, die wie hier im Westen gar nicht mitbekommen. Auch da würde man ja sagen: Das ist ja viel Wissen, was uns einfach fehlt. Aber ich würde nicht sagen, dass es deswegen irgendwie elitär ist, nur, weil uns das Wissen halt fehlt. Und weil wir uns mal die Mühe machen müssen, uns Dinge durchzulesen, die wir halt nicht jeden Tag in den Nachrichten hören oder so. Es ist eher vielleicht die Frage, ja, was für Hintergrundwissen wird vorausgesetzt? Aber es geht selten darum, dass jetzt da jemand 1:1 irgendeine geheime Botschaft entschlüsselt hat. Wenn das das Ziel wäre, hätte der/die Künstler/in es ja auch einfach aufschreiben können und muss gar keine Kunst dafür machen.

Raul:
Ich hab mich mal in meiner Sendung mit Saioa Alvarez Ruiz unterhalten, die Performerin ist und eine Behinderung hat und die hat einen großartigen Text geschrieben auf ihrem Internetprojekt Double Trouble. Ich kriege es jetzt nicht rezitiert, aber sinngemäß ist es so etwas wie, dass sie sich erhebt als behinderte Performerin über die ganzen Nichtbehinderten, weil sie quasi weiß, was genau der nächste Schritt der nicht behinderten Personen jetzt sein wird, wenn sie angeguckt oder interpretiert wird. Und daraus zieht sie eine gewisse Kraft und eine Stärke. Und sie hat diesen Text vorgetragen, und meine Partnerin, die auch eine Behinderung hat, die hat sich so wiedergefunden gefühlt in diesem Text und alle anderen nicht behindert Anwesenden bei diesen Dreharbeiten haben sich irgendwie angegriffen gefühlt.

Dirk:
Oder ertappt gefühlt. 

Raul:
Und das fand ich wirklich großartig genau. 

Dirk:
Und ich denke, dieses, was du beschreibst, ist ja genau das. Sie beschreibt ihre eigene Erfahrung, aber es ist eben anschlussfähig für andere Personen, und ich würde sogar sagen da gibt es dann sogar Überschneidungen mit anderen Diskriminierungserfahrungen. Also ich bin selbst ja weiß, wenn ich mich mit schwarzen Menschen unterhalte, auch die beschreiben Situationen, die ich irgendwie nachvollziehen kann, dieses angeglotzt werden oder dieses mit Vorurteilen konfrontiert werden. Auch da gibt es ja Anschlussmöglichkeiten oder Überschneidungen. Von daher würde ich auch Behinderung gar nicht so sehr als abgegrenzten Bereich definieren, wenn Saioa also was beschreibt, da würden auch andere Menschen vielleicht das nachvollziehen können, was sie beschreibt, obwohl die eine ganz andere Lebenserfahrung vielleicht gemacht haben, davor.

Raul:
Und worauf ich hinauswill, ist nämlich, dass in Behinderung ja nicht immer nur ein Defizit steckt, wenn man Kunst macht. Dann macht man das nicht trotz der Behinderung, sondern einfach mit. Und dadurch entstehen ja auch ganz neue Ideen und Perspektiven, die wir ohne diese behinderte Künstler*in nie gehabt hätten.

Dirk:
Genau das ist eine ganz, ganz wichtige Sache. Also wenn wir wollen, dass Künstler*innen mit Behinderung Kunst machen, geht es nicht nur darum, dass es um Teilhaberecht geht. Also es geht nicht nur darum zu sagen, die sollen auch mitmachen können, weil es sonst unfair wäre. Aber es geht auch darum, dass die Kunst selber ärmer ist, wenn manche Perspektiven nicht auftauchen. Also wenn wir die Kunst möglichst interessant halten wollen und auch relevant halten wollen, dann müssen auch Künstler*innen mit Behinderungen Kunst machen. Sonst fehlt einfach was, sonst fehlt ein Teil von der Realität, die aber ja schon da ist. Und das ist ein wichtiger Punkt, also Behinderung, auch Zugänglichkeit, ist ein Motor für Kreativität und gerade um auch selbst in der Kunst Dinge zu hinterfragen, brauchen wir die behinderte Perspektive auf jeden Fall.

Jonas:
Es ist ja auch vielleicht dann quasi die Antwort auf die Frage, ob man quasi unbedingt als Künstler*in mit Behinderung die Behinderung in irgendeiner Art und Weise thematisieren sollte oder muss, weil, wenn nicht die Person, wer sonst? Und ich glaube, es ist ja denn eben diese eigene Perspektive mitzubringen, auf jeden Fall sehr, sehr wichtig. Du bist ja eben nicht nur Zuschauer, nicht nur Künstler, sondern auch auf eine Art Metaebene unterwegs, nämlich bei dem Verein Berlinklusion, eine Mischung aus Berlin und Inklusion. Und da haben wir auch das Wort Inklusion schon wieder… müsstet ihr euch vielleicht einmal umbenennen oder so… kleiner Hinweis an der Seite. Nein, aber es geht eben darum, eben auch Künstler*innen mit Behinderung zu empowern und das eben zu ermöglichen, dass diese Perspektive, in dem Kunst- und Kulturbereich stattfindet. Womit beschäftigt ihr euch allgemein? Was ist die Aufgabe?

Dirk:
Allgemein ist die Aufgabe, dass wir eine Art von Vernetzung herstellen zwischen Künstler*innen mit Behinderung untereinander, aber auch mit Institutionen, also Kultureinrichtungen, die im Mainstream Kunstbereich arbeiten. Also jetzt nicht irgendwelche inklusiven Nischenprojekte, sondern wirklich der Mainstream Kunstbereich ist gemeint. Wir beraten auch Kultureinrichtungen zum Thema Inklusion und Barrierefreiheit, bieten auch Weiterbildung an. Ganz unterschiedlich, auch bei kreativen Projekten sind wir oft dabei, wenn also meinetwegen Ausstellungen neu gestaltet werden sollen. 

Und aktuell haben wir ein ganz großes Projekt, das ist unser bisher größtes, das heißt „Unbound“. Das ist ein Residenzprogramm für Künstler*innen mit und ohne Behinderung. Und da vermeiden wir das Wort inklusiv oder Inklusion, wir sagen, es ist eine flexible Residenz. Und zwar, was sie unterscheidet: sie ist nicht an einen Ort und eine feste Zeit gebunden, was ja für viele Künstler*innen mit Behinderung immer eine Schwierigkeit ist. Bei so Residenzorten, die sind häufig irgendwo auf dem Lande, irgendein altes Schloss. Du musst da so und so viele Wochen da sein und präsent sein, und das alles machen wir explizit nicht. Das heißt, wir geben den Künstler*innen Geld. Wir bieten Workshops an zur Vernetzung, zur Weiterbildung. Und dann gibt es im Juni eine große Ausstellung in Berlin, wo die Arbeiten gezeigt werden, die in der Residenz entstanden sind. Das ist natürlich ein bisschen paradox, weil wir dadurch das Residenz-Prinzip eigentlich auflösen. Aber wir bieten trotzdem natürlich diese finanzielle Unterstützung an, auch die personelle Unterstützung. Und das Ganze wird in einer großen öffentlichen Ausstellung gezeigt, im CLB in Berlin. Das ist am Moritzplatz im Aufbau-Haus, also auch ein Ausstellungsort, der sich gerade mit Stadtraum ganz stark beschäftigt. Deswegen passt das auch thematisch ganz gut. Und das wird am 10. Juni eröffnet. Läuft bis 16. Juli, und das ist gefördert worden im Rahmen des Kulturprogramms zu den Special Olympics, die dieses Jahr in Berlin stattfinden werden.

Judyta:
Aber wenn du sagst, Residenzen und eigentlich haben die sehr, sehr viele Freiheiten die Menschen – und trotzdem habt ihr ja eine Deadline.

Dirk:
Genau, wir haben die Deadline, wo die Ausstellung stehen soll. Das ist klar. Aber wir haben jetzt nicht diese Anwesenheitspflicht, die andere Residenzen ja haben. Also es hat natürlich auch den Hintergrund, dass es tatsächlich ganz, ganz wenige barrierefreie Atelierräume in Berlin zum Beispiel gibt. Das ist so ein bisschen die Kehrseite dieser Freiheit. Oder wenn überhaupt Räume barrierefrei sind, sind sie halt nicht bezahlbar oder halt nicht frei zum passenden Zeitraum. Und das ist ein riesiges Problem, um noch mal auf die praktischen Barrieren zurückzukommen. Also einfach, wenn du künstlerisch arbeiten willst oder wenn du einen Proberaum brauchst, der barrierefrei sein soll, das ist selbst in Berlin noch total schwierig und kaum bezahlbar.

Judyta:
Was sind denn deine Erfahrungen, wenn Künstler*innen sich bei euch melden und um Hilfe bitten oder um Tipps bitten? Sind es hauptberuflich Künstler*innen? Oder wie erlebst du das?

Dirk:
Ja, also die, die sich an uns wenden, sind schon zumindest die, die das nicht mehr als Hobby machen, sondern schon wirklich mit einem Anspruch, das als Beruf auszuüben. Die wenigsten können ja davon leben, aber das betrifft ja auch Menschen ohne Behinderung. Die allerwenigsten Künstler*innen können von ihrer Kunst leben und sind trotzdem dann hauptberuflich Künstler*innen. Und was natürlich häufig kommt ist die Frage, ja, wo gibt es Förderungen, Finanzierung? Also einmal überhaupt für Projekte. Aber dann noch mal die Frage auch, wo gibt es eventuell Förderungen, die auch Barrierefreiheitskosten beinhalten können? Da gibt es zum Glück in Berlin die Impact Förderung vom Senat, die explizit sagt, ihr könnt auch Kosten für Barrierefreiheit mit auflisten. Die Jury ist auch dafür sensibilisiert. Die wird auch dann darauf schauen und auch verstehen, wie diese Kosten entstanden sind. Also da war ich auch Mitglied gewesen und habe auch Diskussionen erlebt, die dann sozusagen auch teure Projekte bewilligt haben, weil eben klar war, ja, die Kosten sind notwendig, weil zum Beispiel Gebärdensprach-Dolmetschung einfach für mehrere Wochen bezahlt werden musste. Und anders wäre das Projekt nicht möglich gewesen. Und das ist was, was in anderen Jurys vielleicht leichter durchgefallen wäre, einfach aufgrund der hohen Kosten. Das heißt, da muss die Jury dann sensibel sein und auf so etwas achten. Solche Dinge können wir eben auch Leuten dann raten oder einfach das Wissen weitergeben, was wir über die Jahre gesammelt haben. Aber häufig müssen wir auch sagen, ja, wir kennen die Probleme – zum Beispiel wieder die Atelierräume – wir kennen die Situation, wir können da jetzt konkret auch gerade nichts ändern. Also wir als Berlinklusion können auf Probleme hinweisen, wir sind auch in Kontakt mit der Kulturverwaltung, aber wir können jetzt keine Räume selbst bauen oder so, das ist klar. Da sind wir auch so ein bisschen an unser Limit gekommen dann irgendwann.

Jonas:
Ja, bestehende Probleme… ich meine, wir haben eben schon so ein bisschen über Werkstätten gesprochen und jetzt über das Thema, ob man von der Kunst leben kann. Wir haben über die Bezahlung in Werkstätten für Menschen mit Behinderung gesprochen. Wie schafft man es? Ich glaube jetzt auch nicht, dass du jetzt vielleicht die Superlösung jetzt vielleicht gerade parat hast. Aber wie schafft man es? Oder wie kann man es langfristig schaffen, eben Kunst- und Kulturprojekte aus dem Werkstatt-Kontext herauszuholen, damit die Leute eben mehr als ihren bestenfalls Stundensatz von € 1,35 zu bekommen?

Dirk:
Also ich denke, was wahrscheinlich am ehesten machbar wäre, dass diese Übergänge leichter und weniger bürokratisch sein sollten. Also, wenn ich jetzt weiß… also ganz häufig bekomme ich ja kurzfristig die Meldung, hier, die Förderung kommt im April, sage ich mal, die geht für drei Wochen, und in der Zeit könntest du teilnehmen. Das heißt, es muss eigentlich möglich sein, relativ kurzfristig aus diesem sozialen Sicherungssystem rauszukommen, um dann ein paar Wochen lang Geld zu verdienen und danach aber wieder einsteigen zu können, weil dieser Schritt, komplett auszusteigen, ist natürlich für viele unrealistisch. Und das heißt, diese Übergänge müssen viel leichter möglich sein und auch kurzfristiger und unbürokratischer, ohne dass dann hinterher das Geld irgendwie abgezogen wird oder so. Und das wäre wichtig, dass sich da was tut. Und ich denke, mittelfristig sollten die Werkstätten ohnehin nicht mehr existieren. Also wenn ihr mich fragt, das ist ein Problem, das es die immer noch gibt und dass eigentlich keine richtigen Alternativvorschläge diskutiert werden in der breiten Öffentlichkeit, wie das mal irgendwie auslaufen kann in absehbarer Zeit. Und dass sie auch viele Probleme noch nicht mal erkannt haben. Das ist eigentlich so das, was ich immer krass finde.

Raul:
Wie gehst du denn damit um als Künstler, wenn dann aber, sage ich mal, Kuratorinnen oder Museen oder Ausstellungen sagen, ja, aber dafür bekommt man halt Publikum und Reichweite. Nur davon kann man ja keine Miete bezahlen.

Dirk:
Ja genau. Also tatsächlich gibt es ja auch vom Bundesverband der Bildenden Künstler*innen, gibt es ja auch Honorarempfehlungen, also sowohl Stundensätze, aber auch Empfehlungen für Ausstellungshonorare. Und die kalkulieren ganz klar, was ist überhaupt der Mindestsatz, um davon leben zu können? Und ich finde, daran sollten wir uns orientieren. Und natürlich ist es wichtig, auch irgendwie Sichtbarkeit zu bekommen, PR zu bekommen. Aber eben das alleine kann halt keine Miete bezahlen. Das heißt, es muss immer eine Forderung geben, auch für Honorare. Und ich denke, das kann nur funktionieren, wenn Leute halt das auch konsequent durchziehen und sich nicht unter Wert verkaufen. Das betrifft aber sowohl Menschen mit als auch ohne Behinderung, also auch selbst Künstler*innen ohne Behinderung sind ganz knapp über der Armutsgrenze. Da gab es erst vor kurzem auch einen Bericht. Also ich glaube, der Durschnitt ist irgendwie bei weiblichen Künstlerinnen bei 16.000 Euro im Jahr und bei männlichen KünstlerInnen so 20.000 Euro – also das ist wirklich nur auf einem ganz, ganz niedrigen Niveau, wo wir uns hier bewegen.

Raul:
Da kann ich eine Menge zu sagen. Weil, passiert das nicht sehr häufig, dass gesagt wird, das betrifft ja alle. Und damit wird aber die besondere Situation behinderter Künstler*innen wieder negiert.

Dirk:
Ja, genau. Ich wollte nur grad sagen, das ist ein Problem, was sozusagen noch viel weitere Auswirkungen hat. Aber deswegen orientieren wir uns halt auch, sollten wir uns auch an diesen Mindesthonoraren orientieren, die einfach durchgerechnet wurden ganz knallhart: was braucht eine Person, um davon leben zu können? Aber natürlich kommen Mehrausgaben hinzu, sobald du dort Assistenzkosten hast zum Beispiel. Und das ist noch mal ein anderes riesiges Problem. Wenn ich als freischaffender Künstler – oder Selbständiger bin ich ja dann offiziell – als Selbständiger Assistenzbedarf habe, muss ich nachweisen, dass ich quasi meinen Lebensunterhalt bestreiten kann, um Anspruch zu haben auf diese Mittel zur Teilhabe am Arbeitsleben…

Raul:
Das ist ja das klassische Henne-Ei-Problem. 

Dirk:
Natürlich, wenn ich als Rechtsanwalt arbeite und gut verdiene, ist es wahrscheinlich relativ einfach, obwohl es immer noch schwierig genug ist. Aber dann ist es zumindest auf dem Papier gut nachweisbar, dass ich gutes Einkommen habe. Oder wenn ich im Büro und einen Standard Nine-to-five-Job habe, ist es gut ausrechenbar, wie viel ich verdiene. Und dann kann ich auch sagen, hier, ich brauche eine Assistenz, die mir irgendwie Akten reicht oder die mir mal was vorliest. Aber als selbständige Person, die ganz prekär am Existenzminimum kratzt, ist es halt fast unmöglich, diese Leistungen zu bekommen. Und dann schaffst du es auch gar nicht erst, diese Schritte zu gehen, um dann davon später leben zu können. Also das ist ein riesiges Problem, und das sehen wir auch in der Beratung ganz oft, dass eben selbst Künstler*innen die bekannt sind, die auch ein Portfolio vorweisen können. Selbst die scheitern dann daran, dass sie halt nicht nachweisen können, dass sie im nächsten Jahr von ihrer Kunst leben können oder das auch ganz kurzfristig halt Zusagen kommen und in der kurzen Zeit gar nicht diese Anträge bearbeitet werden können, selbst wenn sie Anspruch hätten auf eine Leistung. Das heißt, das sind so bürokratische Hürden, die gar nicht… also dieses ganze System ist gar nicht darauf vorbereitet, dass Menschen spontan an Projekten teilnehmen zum Beispiel.

Jonas:
Und häufig ist es ja auch so, dass einfach gerade der finanzielle Output ist, so das, was ganz am Ende natürlich steht und auch das Wichtige ist. Aber eben, ja, wir haben es eben schon angesprochen, eben auch für Künstler*innen mit Behinderung der Zugang zu gewissen Ausbildungsstätten einfach fehlt.

Judyta:
Genau, da gibt es zum Beispiel ein Projekt von Eucrea. Es ist ja ein Hamburger Verein, der mit dem Projekt Artplus wirklich Leute auch aus dem Werkstatt-Kontext als Gasthörer*innen in Unis schicken möchte und das auch tut bereits. Also da gibt es ein paar Unis, die auch da schon kooperieren und in künstlerischen Berufen dann einfach in diesen Studiengängen vorkommen. Es sind alles natürlich Modellprojekte, das sind Einzelversuche sozusagen auch, wo viel auch das Elternhaus natürlich dahinter wieder stecken muss, was mir erzählt wurde von Eucrea. Aber es sind sozusagen die ersten Versuche, da auch ein bisschen mehr Substanz auch reinzubringen, also Künstler*in kannst du dich, glaube ich, wahrscheinlich immer nennen, aber was steckt dann auch dahinter, wenn du eben gerade auch in diese Residenzen, in Programme aufgenommen werden willst? Da musst du ja auch was vorweisen.

Dirk:
Na klar. Für manche Förderung ist halt Bedingung, dass du auch eben Kunst studiert hast oder für manche Residenzen auch. Aber was interessant ist vielleicht in dem Zusammenhang, es gibt schon bei ganz vielen Kunsthochschulen auch die Möglichkeit, ohne Abitur zu studieren, also wenn die künstlerische Eignung besonders toll ist. Das heißt: besonders hohe künstlerische Eignung – dann kannst du auch ohne Abitur eben da studieren. Ich glaube, das wissen nur viele nicht. Und es ist natürlich überhaupt nicht klar, wann diese besondere künstlerische Eignung erreicht ist, weil es am Ende ja vom Auswahlverfahren oder von der Kommission abhängt. Aber auf dem Papier gibt es die Möglichkeit schon. Und es gibt ja auch viele, viele Menschen, die sogar unter 18, schon mit 16 Jahren meinetwegen, ein Musikinstrument studieren, weil die halt die Ausnahme bekommen: Du bist so gut in deinem Instrument, du darfst auch ohne Abitur schon meinetwegen Geige studieren. Also die Möglichkeit gibt es. Und die könnten ja eben auch Menschen theoretisch nutzen, die eben nach der zehnten Klasse abgegangen sind und eben kein Abitur gemacht haben zum Beispiel.

Jonas:
Hast du denn grundsätzlich neben dem, vielleicht hart an dem eigenen Talent und an dem eigenen künstlerischen Anspruch zu arbeiten und sich dann bei Kunsthochschulen zu bewerben, noch weitere Tipps für den potenziellen Nachwuchs, für Menschen mit Behinderung, die künstlerisch aktiv werden wollen und sich einfach fragen, wie schaffe ich es, dort einen Fuß in die Tür zu kriegen?

Dirk:
Also auf jeden Fall immer zum Tag der offenen Tür gehen. Das haben ja fast alle Kunsthochschulen mindestens einmal im Jahr oder so einen Rundgang, wo halt die aktuell Studierenden ihre Arbeiten zeigen. Sich da auf jeden Fall auch mal informieren. Häufig gibt es auch Beauftragte für Studierende mit Behinderung an den Hochschulen. Auch die haben Informationen, auch was Nachteilsausgleiche angeht, wenn zum Beispiel Prüfungen länger dauern aufgrund der Behinderung. Auch da gibt es ja Nachteilsausgleiche. Das sollten die Beauftragten für Studierende mit Behinderungen auch wissen. Ansonsten sich selbst klar machen, also jetzt im Bereich Bildende Kunst wird ja häufig irgendwie eine Mappe eingereicht mit Arbeitsproben, sich klar machen, thematisiere ich die Behinderungen? Wenn ja, nur am Rande oder offensiv? Ist sie sogar wichtig, um die Arbeiten zu verstehen? Das ist wirklich eine individuelle Frage, da sollten sich die Personen vielleicht jeweils auch im Klaren sein. Und was ich feststelle, dass gerade die jüngeren Dozierenden oder Professor*innen auch offen für das Thema sind und auch wirklich Interesse haben, diese Perspektive auch in ihre Klassen hinterher reinzubekommen im Bereich Bildende Kunst – im Bereich Tanz kann das ganz anders sein. Da höre ich also auch ganz andere Geschichten. Aber im Bereich Bildende Kunst scheint da eine Öffnung stattzufinden auf jeden Fall.

Jonas:
Alle Kunstprojekte und Initiativen und Ausstellungen, über die wir jetzt gerade gesprochen haben, haben wir euch auch einmal zusammengefasst auf unserer Website in unseren Shownotes auf www.dieneuenorm.de. An dieser Stelle: Dirk, vielen Dank, dass du da warst und uns ein bisschen die Kunst und Kultur nähergebracht hast aus deiner Perspektive, aus deinem kunstschaffenden Prozess.

Dirk:
Danke für Euer Interesse. Und dass ich hier sein durfte. 

Jonas:
Und ja, wir bedanken uns auch und hoffen, dass auch ihr das nächste Mal wieder mit dabei seid. Bis dahin.

Judyta, Raul & Jonas:
Tschüß.

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