Hilfsmittel – Fluch oder Segen? – Transkript

Lesezeit ca. 17 Minuten

Die Neue Norm: „Drei Journalist*innen, zwei Rollstühle und eine Sehbehinderung: Die Journalist*innen Judyta Smykowski, Jonas Karpa und Raul Krauthausen sprechen über Behinderung, Inklusion und Gesellschaft.

Folge 8: „Hilfsmittel –Fluch oder Segen?”

„Herzlich willkommen im Sanitätshaus Henning. Was kann ich für Sie tun?“
„Ich hätte gerne einen Kackstuhl.“
„Was ist denn ein Kackstuhl?“
„Ich glaube… also offiziell heißt es Toilettenstuhl.
„Welche Farbe?“
„Rosa.“
„Haben wir nur in farbenfrohem Beige.“
„Nehme ich auch.“

Jonas:
Herzlich Willkommen zu Die Neue Norm, dem Podcast. Heute möchten wir über Hilfsmittel sprechen. Sind Hilfsmittel Fluch oder Segen? Welche Probleme gibt es bei der Anschaffung/Benutzung? Welche neuen, tollen Erfindungen gibt es?
Darüber spreche ich heute mit Raul Krauthausen und Judyta Smykowski.

Judyta:
Ach komm, Jonas, das hast du doch schon besser gemacht! (Lacht)

Jonas:
Sagen Judyta Smykowski und Raul Krauthausen…

Judyta, Raul:
Hallo… Guten Tag.

Jonas:
Hallo, mein Name ist Jonas Karpa. Es wird heute etwas, ja…

Judyta:
…unseriös!

Jonas:
…unseriös… nein, das nicht. Aber ich meine – es geht um Hilfsmittel aller Art. Und eben hast du auch schon den sogenannten Kackstuhl angesprochen. Das Sanitätshaus ist die Mall für Menschen mit Behinderungen.

Raul:
Die Tuning-Werkstatt des kleinen Menschen mit Behinderung.

Judyta:
Wo man richtig coole Shoppingtouren in 5-Quadratmeter-Läden machen kann.

Raul:
Und warum sind Sanitätshäuser so selten barrierefrei? Fragen über Fragen.

Jonas:
Genau, also, ihr beide seid im Rollstuhl unterwegs…

Judyta:
Richtig.

Jonas:
Es ist so… gefühlt zwangsläufig, dass ihr vielleicht häufiger in solche Häuser müsst. Was sind eure Erfahrungen?

Judyta:
Also, mein Rollstuhl heißt Easylife, damit das …

Raul (lacht)

Judyta:
… (lacht)… damit ich easy durchs life komme.

Jonas:
Okay, das war der Podcast Die Neue Norm…

Raul:
Mein Rollstuhl heißt Squirrel.

Jonas:
Ach, wie süß! Wie das Tier?

Raul:
Ne, warte, sogar falsch!

Judyta:
Eichhörnchen…!

Raul:
Das ist ja gar nichts! Mein erster Rollstuhl hieß Dino, der danach hieß Body, der danach hieß Squirrel. Und erst jetzt heißt er R5.

Judyta:
Das ist aber uncool, Squirrel ist doch geil.

Jonas:
R5?

Judyta:
Das ist doch Eichhörnchen auf englisch?

Raul:
Aber ich bin kein Kind mehr. Und deswegen heißt es Squirell. Ich will nicht wie ein Kind behandelt werden. Weißt du, wie aufwendig es ist, diese Aufkleber da abzuschrubbeln?

Judyta:
War da ein Eichhörnchen drauf?

Raul:
Fruchtbares Comic-Eichhörnchen.

Judyta:
Aber das wär doch cool.

Jonas:
Lustiger fände ich es, wenn der Rollstuhl auch in dem Design wäre, also, wenn man dich im Panorama sehen würde… wie so ein großes Eichhörnchen durch die Gegend düst.

Raul:
Aber, du hast ja Sanitätshäuser angesprochen. Was ich bei Sanitätshäusern immer nicht verstehe ist, warum die so unglaublich hässliche Produkte haben. Also die Produkte sind alle und immer hässlich. Und es ist irgendwie noch nicht durchgedrungen in diese ganze Hilfsmittelbranche, dass man die Sachen vielleicht auch so cool gestalten könnte wie Mountainbike-Utensilien oder so.

Judyta:
Naja… nein, wir müssen differenzieren. Einmal gibt es dieses Rentner-Beige, weil Rentner*innen ja sehr oft das Sanitätshaus aufsuchen. Deswegen ist es ein Beige, ein unauffälliges, für alle möglichen Sachen, die man sich anschnallen kann, an die Beine, Füße, Köpfe. Was auch immer…

Raul:
Du möchtest grad die Farbe Beige mit Rentner*innen verknüpfen?

Judyta:
Ein bisschen… und auf der anderen Seite gibt es ja diese Sachen für Kinder. Also, Orthesen, Orthesenschuhe, die es dann auch mal in Rosa Blau und Braun gibt. Immerhin drei Farben, Leute!

Raul:
Ja, aber wenn du das vergleichst mit Mountainbike-Utensilien, die sicherlich ein bisschen mehr Kunden haben, aber trotzdem auch insgesamt vom Design her zwei Augen mehr drüber gegangen sind, als bei so einem Reha-Hilfsmittel-Produkt. Jedes Produkt, das du in einem Sanitätshaus kaufst, erinnert dich später bei dir zu Hause an Krankenhaus.

Jonas:
Also, ich fand es interessant. Ich habe einen Artikel gelesen – den ich auch gerne in den Shownotes auf www.dieneuenorm.de, verlinken möchte – dass es gewisse Hilfsmittel gibt, wie zum Beispiel Brillen – und ich meine jetzt nicht Klobrillen, sondern wirklich die für die Augen – die es geschafft haben, inzwischen ein modisches Accessoire zu werden. Und Brillen sind ja eigentlich auch nur Hilfsmittel, die eine Sehbehinderung ausgleichen. Dass es heutzutage ja Menschen gibt, die Brillen mit Fensterglas tragen. Einfach nur, weil das Design, die Farbe so zum Lifestyle-Objekt geworden ist. Und, dass es so langsam erst anfängt, dass zum Beispiel Hörgeräte auch in verschiedenen Farben und Formen auf den Markt kommen. Dass wir vielleicht dort hinkommen müssen, dass vielleicht dann auch… ich weiß nicht… der Toilettenstuhl ein modisches Accessoire ist, womit man vielleicht nicht in die Öffentlichkeit geht, aber dass man das noch bewusster kauft, eben auch für sich passend.

Judyta:
Ja, es gibt so ein bisschen die Entwicklungen, dass es modischer wird… beziehungsweise, dass auch… Große Firmen, Unternehmen haben, ja… Diversity ist ja immer ein gutes Thema, was irgendwie für das Image gut ist. Dann hat Ikea zum Beispiel add-ons gemacht für Möbel, also sozusagen Knäufe, die man besser greifen kann, wenn man motorisch eingeschränkt ist oder so bumper, dass man mit dem Rollstuhl nicht an dem Schrank kommt. Und die konnte man dann kaufen. Mit einer israelischen NGO war das zusammen, und das war so mainstream, das war so cool. Aber natürlich möchte man, dass Ikea einfach selbst, die ja Mitarbeiter mit Behinderungen hat, und dass die da alle auf Augenhöhe an einem Tisch sitzen und das alles einfach entwickeln zusammen. Und dass das nicht immer nur so eine einmalige Sache ist, so eine Kampagne ist, sondern dass es einfach immer selbstbestimmt ist. Und dass man auch bei jedem gadget irgendwie auch Leute hat, die es wirklich benutzen und die dann sagen „Nein, das, das brauche ich zum Beispiel gar nicht.“ Dann feiern sich nicht behinderte Menschen für irgendwas, was sie erfunden haben und behinderte Menschen sagen „Nein, brauche ich gar nicht.“ Sondern, dass wir wirklich da auch zusammensitzen, das zusammen ertüfteln und auch die Bezahlung gleich ist.

Jonas:
Habt ihr das Gefühl, dass die Sachen… also, jetzt noch mal im Sanitätshaus… die man dort kaufen kann, die jetzt vielleicht nicht so schön designed sind, dass das hauptsächlich Produkte sind, die eben von nicht behinderten Menschen entwickelt wurden?

Raul:
Ja, wollte ich gerade sagen, da gibt es ja die Bewegung auch weltweit inzwischen aus den sogenannten makerspaces und makerlabs. Wo dann Leute mit 3D-Druckern, die vielleicht irgendwie auch gut programmieren können oder 3D-Design machen können, sich gemeinsam mit Menschen mit Behinderungen hinsetzen und überlegen, okay, was können wir mit den Werkzeugen, die wir hier haben, 3D-Druckern, Fräsmaschinen, was auch immer, für kleinere Hilfsmittel bauen, wie zum Beispiel Knäufe, um das Leben des Menschen mit Behinderungen zu erleichtern. Und dadurch, dass diese Technologien ja auch soweit erschwinglich geworden sind, dass man sie sich mal eben in eine Werkstatt stellt, sicherlich da auch eine Menge Innovation in Zukunft zu erwarten ist. Es gibt noch viele andere Innovationen, die wir gar nicht so auf dem Schirm haben. Als Hilfsmittel ist mir neulich erst klargeworden… also, zum Beispiel die Alexa bei uns im Wohnzimmer. Die ist wahrscheinlich ursprünglich eine Weiterentwicklung von den Sprachcomputern, die bereits vor zehn/zwanzig Jahren Menschen mit Behinderung hatten. Oder das ebook, das wir haben, womit wir vielleicht Bücher lesen. Es ist eigentlich ursprünglich auch eine Erfindung gewesen für Menschen, die eine Sehbehinderung haben, damit sie Bücher in größerer Schriftart lesen können. Aber sobald Dinge mainstream werden, werden sie erfolgreich. Und auch, sagen wir mal, schön und funktionsfähig. Bestes Beispiel ist da eigentlich Apple, die ja auch viele Barrierefreiheit-Features in ihren Telefonen standardmäßig einbauen und die auch viele nicht behinderte Menschen inzwischen nutzen. Zum Beispiel Siri.

Jonas:
Bei Alexa, du sagst es… Amazon hat ja quasi auch die Werbung dazu mit einer Person gemacht, mit einer Frau, die blind ist, die sich Wetter und Uhrzeit ansagen lässt in dem Film und ganz am Ende kommt erst heraus, dass sie ihren Blindenführhund nimmt und die Wohnung verlässt. Und es ist dieser Aha-Effekt der Werbung, dass man am Anfang denkt „Okay, sie nutzt es so allgemein wie jeder. Vielleicht aus Faulheit, irgendwie nicht auf die Uhr gucken will und lässt sich das ansagen.“ Aber es ist in dem Moment Hilfsmittel für Sie.

Raul:
Wenn dann die Werbung noch mit Audiodeskription gewesen wäre, hätten sie alles richtig gemacht.

Jonas:
Das wäre natürlich perfekt, gab es leider nicht.
Raul:
Einen anderen wichtigen Aspekt finde ich aber auch, dass Hilfsmittel… natürlich können sie hässlich sein, aber gerade durch das Internet, wo es auch sehr schöne hacks und Anleitungen gibt, die man sich auf YouTube, auf Pinterest und so weiter auch ansehen kann, was Leute so auch für Standardprodukte benutzen inzwischen, um an ihrem Rollstuhl eine vernünftige, gute Tasche zu haben. Oder etwas, was nicht vom Hersteller des Rollstuhls sein muss, sondern auch zufällig von eastpak eine praktische Tasche sein kann.

Jonas:
Du hast ein beautycase an deinen Rollstuhl gemacht seit neuestem.

Raul:
Ich habe seit neuestem an meinem E-Rolli ein beautycase. Das hat zufällig die gleiche Farbe und ein ähnliches Design wie der Rollstuhl und ist wesentlich stabiler als ein Rucksack.

Jonas:
Und es passt auch Rouge und Schminke rein für dich. Wir sind jetzt leider in einem Podcast, deshalb gibt es leider keine aktuellen Bilder für euch hier, aber ja, ein anderes Auftreten im Büro seitdem.

Judyta:
Ja, ich habe eine Fahrradtasche als Rollstuhltasche. Also auch in einem Fahrradladen gekauft und nicht in einem Sanitätshaus. Weil das Zubehör, was so ein bisschen cool ist, ist meistens auch das teuerste. Ist euch das mal aufgefallen?

Raul:
Das ist aber immer so. Das ist auch bei Nichtbehinderten so.

Judyta:
Echt? Mist!

Raul:
Aber ein kleiner Tipp auch noch: Es gibt ganz coole gadgets und Accessoires im Kinderwagen-Bereich.

Judyta:
Obwohl, da muss ich sagen, ich hatte einen Kaffeehalter im Kinderladen gekauft für Babyzubehör. Und der war nach einer Woche kaputt, weil ich einfach mit einem Rollstuhl Kantsteine und so viel rabiater hochfahre…

Jonas:
Ich wollte gerade sagen, du bist doch hier…

Judyta:
…off road unterwegs, genau. Und anders, also, anders als ein Mensch mit Kinderwagen – der war dann durch. Aber ich habe von einer Freundin letztens, die auch im Rollstuhl sitzt, einen empfohlen bekommen und der hält… noch. Also ich habe jetzt einen Kaffeehalter und fühle mich megacool damit.

Raul:
Problem ist halt, wenn man Rollstühle manipuliert oder Hilfsmittel manipuliert. Bis zu einem bestimmten Punkt geht es, aber sobald man anfängt, an der Hardware zu schrauben oder irgendeine Verkleidung aufzumachen und abzumachen ist es verboten, weil dann die Versicherung letztendlich sagt „Sorry, aber das ist Eigentum der Krankenkasse, das darf man nicht manipulieren!“ Sodass dann auch ganz viel von Verbesserungspotenzial gar nicht gehoben werden kann, wie zum Beispiel seinen Laptop am Rollstuhl-Akku laden – gibt es bis heute keinen Hersteller, der das gemacht hat. Oder eben – man muss sich dann umständlich über das Sanitätshaus die Erlaubnis holen. Und dann wollen die auch noch Geld dafür. Und das dauert dann am Ende vier Wochen, obwohl man auch schnell selbst das hätte machen können.

Judyta:
Ja, ich habe auch gesehen – so eine Aktion, dass man Rollstühle und Rollstuhlfahrer*innen mit den E-Scootern, die jetzt die ganze Zeit rum… heißt das E-Scooter? Ja, also diese Roller – dass man die dann vorne irgendwie dranschnallen will, weil man könnte sich ja theoretisch festhalten. Und dann würde man gefahren werden oder gezogen werden quasi.

Jonas:
Ich glaube, da ist nur das Problem – habe ich auch in dem Video gesehen – dass man… der E-Scooter gibt ja erst quasi Gas in dem Moment, wenn man sich draufstellt und getreten hat und du müsstest quasi am Rollstuhl…

Raul:
Musst du halt einen Passanten fragen „Könnten Sie mich mal kurz anschubsen?“

Jonas:
Genau… du müsstest quasi am Rollstuhl mit beiden Händen beschleunigen, kannst dann aber nicht lenken – aber an sich würde es funktionieren, ja.

Raul:
Ich habe noch zwei Aspekte mitgebracht, die ich – weil die Frage ist ja „Sind Hilfsmittel Fluch oder Segen?“ …ich finde, sie sind beides. Also, auf der einen Seite sind sie ein Segen, weil sie mir natürlich im Alltag helfen. Aber wir dürfen nicht unterschätzen, dass die Anschaffung von solchen Hilfsmitteln auch auf eine ganz schöne Tortur ist. Und man bekommt meistens von der Krankenkasse eher das billigste Produkt bezahlt oder das Produkt, dass irgendein Arzt meint, dass das Beste für dich sei. Was am Ende gar nicht billiger ist, weil es ständig angepasst werden muss. Und man muss ständig nachweisen, dass du dieses Hilfsmittel brauchst. Und wenn dann das Hilfsmittel kaputt ist, dann ist es ein Fluch, weil es dauert vier Wochen locker.

Judyta:
Und du musst es da reparieren lassen, wo du es her hast. Also egal, wo du dich gerade befindest. Du musst zu diesem Sanitätshaus zurück, sonst sagt die Krankenkasse wieder „Sie haben das irgendwie nicht fachgerecht gemacht.“ Keine Ahnung. Ja.

Raul:
Und das ist richtig Scheiße, wenn du mit deinem Rollstuhl im Urlaub bist, so, und dann bricht dein Vorderrad ab, dann hast du ein Problem.

Judyta:
Ja, ich habe bei meinem Manuellen schon oft das Problem gehabt, dass dann einfach im Urlaub… dass die Reifen geplatzt sind. Und dann habe ich einfach aus eigener Tasche…

Jonas:
Wo fährst du denn eigentlich lang?

Judyta:
New York zum Beispiel – die Straßen von New York. Und da bin ich dann in einen Fahrradladen gegangen und habe mir da einen neuen Reifen gekauft. Und natürlich privat dann in dem Sinne, weil man dann nicht die ganze Maschine anschmeißen will, die dahintersteckt.

Raul:
Und es wird überhaupt nicht berücksichtigt, dass es Hilfsmittel gibt, auf die man so angewiesen ist, dass man eben nicht mal vier Wochen darauf warten kann. Und dieser… da gibt es einen ganz spannenden blog-Artikel – den wir sicherlich in den Shownotes verlinken – wo jemand auch sagt, dass Hilfsmittel wirklich praktisch und treu sind. Aber wenn sie dann kaputt sind, werden wir zurückgeworfen auf unsere Behinderung und auf die – ja – barrierevolle Welt. Und dieses Heiligtum des Hilfsmittels, also mein Rollstuhl ist mir wirklich heilig, dass wir die wirklich auch wertschätzen müssen im Umgang. Also, wenn ich zum Beispiel, wenn ich damit fliegen möchte, im Flugzeug, dann bricht es mir jedes Mal das Herz zu sehen, wie dann die Leute am Rollfeld diesen Rollstuhl…

Judyta:
…wie der dann reingeschmissen wird. Das ist schrecklich.

Raul:
Das ist einfach so richtig Horror. Da sterben Menschen echt wahrlich tausend Tode.

Judyta:
Ich möchte noch kurz über mein großes Drama Orthesen-Schuhe sprechen. Das war immer, dass… ich habe also auch Schuhe geshoppt im Sanitätshaus, nicht im normalen Geschäft. Und ich habe immer so, wenn ich an Menschen mit Behinderungen und Mode gedacht habe, habe ich immer diese Schuhe, diese klobigen Schuhe vor Augen, mit dem… wie heißt das, mit diesen Verschlüssen, so Klettverschluss. Das ist… das war immer so der Horror. Und das war irgendwie nichts mädchenhaftes. Und ich wollte dann mal irgendwie wirklich auch mal was haben, was auch andere Kinder haben. Und dann wurde es langsam besser. Dann kamen Farben dazu, also einmal Rosa und Blau und Braun, aber auch nicht so die große Auswahl. Und irgendwann kam der Moment, wo es dann endlich Turnschuhe gab, also die aussahen wie normale Converse-Chucks. Und die habe ich mir dann aber seitdem immer bestellt. Es war auch egal, ob ich jetzt irgendwie die sportliche Alternative, wenn die… es haben ja auch bestimmte Leute diese Schuhe getragen. Aber es waren für mich Turnschuhe. Es war so eine Normalität, die ich mir dann irgendwie da so erkauft habe. Und sie waren doppelt so teuer, wie die im Laden natürlich. Und bis dahin habe ich teilweise auch manchmal Jungsschuhe getragen aus dem normalen Laden, weil die breiter waren für meine Füße, die da dann reinpassten.

Raul:
Wow!

Judyta:
Das sind auch live hacks, die man so über sich ergehen lassen muss.

Jonas:
Es geht voran in dem Bereich. Für blinde Menschen oder Menschen mit Sehbehinderung gibt es inzwischen auch Produkte, also quasi Kleidung, die angepasst ist, dass man sie kombinieren kann. Es gibt hier z.B. auch in Berlin das Projekt der Wechselwirkung, die etwas, die Klamotten herstellen, die man sowohl auf rechts und auf links tragen kann und auf vorne und hinten. Es ist halt kein direktes Hilfsmittel, aber es hilft schon dabei, dass man, ja, die Kleidung nicht falsch herum an hat und die lassen sich von den Farben sehr gut kombinieren – dass so was möglich ist. Gleichzeitig – wir haben auf unseren Social-Media-Kanälen bei Facebook, Twitter und Instagram mal nach den Erfahrungen der Hörer*innen gefragt, wie es aussieht bei der Beantragung oder bei der generellen Beschaffung von Hilfsmitteln. Und ich habe befürchtet oder geahnt, dass es schwierig ist, die richtigen Hilfsmittel zu bekommen. Aber ich war wirklich etwas schockiert, weil eigentlich fast durch die Bank weg fast alle Antworten so waren – ja, wenn man solche Hilfsmittel beantragt – es wird erst mal abgelehnt, und dann geht der Kampf erst wirklich los, dann muss man Widerspruch einlegen. Man muss warten, man muss kämpfen. Es geht mit dem Anwalt und so weiter – der muss eingeschaltet werden. Wo ich mich immer frage – da sitzen, ja, Menschen, die diese Anträge bearbeiten und wenn Menschen mit Behinderungen gewisse Hilfsmittel zustehen, warum lehnen die das… oder, mit welchem innerlichen Grund lehnen die das ab? Wissen die da, was sie ablehnen? Dass das nicht rechtens ist. Können die abends überhaupt noch gut schlafen, wenn sie wissen, okay, hier sind zehn Anträge, die müssen eigentlich alle bewilligt werden, aber ich sage erstmal nö, nö, geht nicht…?

Raul:
Da finde ich halt auch krass, dass in den USA es auch einen riesigen Trend gibt, dass man sich… weil es da ja so etwas wie Krankenversicherung für Hilfsmittel ja nicht für alle gibt.

Jonas:
Genau.

Raul:
Dass da riesige Crowdfunding-Plattformen inzwischen entstanden sind. Wo Menschen zum schlichten Bezahlen ihrer Medikamente zu Spenden aufrufen können, um einen Rollstuhl zu kriegen oder Schmerzmittel oder was auch immer. Und dass da letztendlich auch ein Outsourcing stattfindet, das hochproblematisch ist, weil nämlich nur noch die Leute mit einem großen Netzwerk sich ihre Hilfsmittel, sagen wir mal, erspenden lassen können.

Jonas: Oder die, die viel Geld haben von vornherein.

Raul:
Oder die mit der größten Schicksalsgeschichte und eben nicht alle gleichberechtigt Zugang zu diesen Hilfsmitteln bekommen. Und da gibt es wirklich sehr tragische Geschichten – verlinken wir sicherlich auch in den Shownotes – von einem Jungen, der von seinen Klassenkameraden und von seinem Ersparten und gesammelten Geld einen Rollstuhl kauft. Und man sieht auf den Fotos schon, dass dieser Rollstuhl aber irgendein billiger Rollstuhl ist, der nicht angepasst ist. Der wirklich wahrscheinlich auch Schaden zufügen wird an dem Kind, weil der dann eine falsche Körperhaltung in dem Rollstuhl haben wird und das nur, weil keine Fachkraft, die es gelernt hat, Prothesen zu bauen oder Rollstühle anzupassen, drübergeschaut hat. Und da ist es schon auch ein Segen, wiederum in Deutschland zu leben, wo die Grundversorgung sichergestellt sein sollte. Was Rollstühle angeht, zum Beispiel

Jonas:
Also ich hatte, als ich quasi die ganzen Nachrichten bei Facebook, Instagram und Twitter gelesen habe, hatte ich das Gefühl, man könnte noch eine weitere Folge machen über angry cripples, die wir ja, das war die vorletzte Folge, die wir gemacht haben. Weil einfach so viele schlechte Erfahrungen dauerhaft gemacht wurden. Und, ja, immer und immer wieder, was wirklich zu sehr viel Verbitterung auch geführt hat. Es war wie ein Wespennest, wo man so reingestochen hat, Thema Krankenkasse. Und es fing an, es ist blubberte aus allen heraus. Und wie leider häufig die schlechten Erfahrungen.

Judyta:
Ja, es zermürbt einen einfach. Also, da muss man auch drauf kucken, ob man dann ein Familiennetz hat, das einen auffängt, was einen unterstützt, was noch einmal über den 10ten Widerspruch drüber kuckt. Das ist leider so. Ja, aber du hattest auch eine süße Geschichte, hattest du gesagt.

Jonas:
Genau. Da hat sich eine Mutter gemeldet und gesagt, dass der Orthesen-Bauer quasi für ihren Sohn passend zu den Orthesen, die angefertigt wurden, auch eine Orthese für das Kuscheltier hergestellt hat. Und das ist, also, das sind Geschichten, wo einem auf der einen Seite das Herz aufgeht und die man sich aber auch wünscht, dass dieser Umgang, dass es wie ein Hilfsmittel für Menschen mit Behinderung ist, das nötig ist und worüber man in den seltensten Fällen diskutieren sollte oder müsste, dass das eben auch so angegangen wird. Das respektvolle Miteinander. Jetzt nicht unter dem Gesichtspunkt „Okay, wir akzeptieren jede Forderung, weil der Mensch mit Behinderung hatte es eh schon schwer genug.“ Aber das ist… dass diese elendige, dauerhafte Diskussion…

Judyta:
Ich verstehe das Argument der Wirtschaftlichkeit, was dann natürlich immer kommt. Aber ich verstehe auch nicht, dass häufig nach Aktenlange entschieden wird. Also, dass nicht der Mensch gesehen wird, dass es viele Kataloge gibt, viele Vorschriften, viele Diagnosen, die so und so verlaufen sollten. Aber, dass nicht mit der Person selber gesprochen wird, sondern, dass es sozusagen die Aktenlage ist – also das Papier, was das entscheidet.

Raul:
Mir ist noch ein Aspekt eingefallen, und zwar die Leute, die oft in dem Bereich unterschätzt werden. Jedenfalls war das in meinem Leben so, für die ich sehr dankbar bin. Das sind die Ergotherapeuten, weil Ergotherapeuten in meiner Jugend oft die waren, die auf die Idee kamen, welche Hilfsmittel helfen könnten. Also, weil man sieht sich ja von außen nicht, und oft reicht einfach eine Beobachtung – ah, die Person kann das und das machen. Da bräuchte sie vielleicht nur das und das, um das nächste Level freizuschalten im Leben. Und ich habe dann zum Beispiel irgendwann von meiner Ergotherapeutin einen Sockenanzieher gebastelt bekommen, und es war total praktisch. Das war so ein Stück Plastik mit zwei Schnüren dran, und auf das Plastik hat man die Socke gestülpt. Und dann konnte man an den Schnüren, wenn man nicht an seine Füße kam, praktisch dieses Plastik so hochziehen, dass die Socke auf den Fuß kommt. Das gibt es inzwischen in den Sanitätshäusern. Aber damals gab es das nicht, und ich fand es halt cool, dass sie – weil ich kleine Füße habe – dass sie das auf meine Fußgröße angepasst hatte. Und diese Kreativität, glaub ich, brauchen wir bei individueller Anpassung viel mehr, als immer zu sagen „Du musst den Standard-Rollstuhl von Sopur nehmen oder von Meyra dann. Es gibt eine Firma dort und dort, die machen wirklich das, was auf deine Bedürfnisse am besten passt.“

Jonas:
Wir haben ja ganz am Anfang darüber gesprochen, dass du gerne auch einen Kackstuhl… sag’s ein einfach noch mal… gerne haben wollen würdest.

Judyta:
Ne, das war nur ein Beispiel – also, ich brauch den nicht… (lacht)

Jonas:
Ach so…! Ja, dann, dann streiche ich das von der Ideenliste für Geburtstagsgeschenke… (Judyta lacht)
Nein – aber was wäre für Euch, wenn – erst einmal rumgesponnen – das Hilfsmittel, was ihr euch wünschen würdet, was es jetzt noch nicht gibt? Aber was ihr gerne, nicht unbedingt in einem Sanitätshaus, sondern einfach in der Mall nebenan euch holen wollen würdet.

Judyta:
Na ja, ich wünsche mir schon, dass mein Kaffeebecher-Halter hält. Ich werde berichten.

Raul:
Ich wünsche mir, dass vielleicht die Hersteller untereinander sich alle mal auf gewisse Standards einigen, dass ich sagen kann „Okay, ich hätte gerne die Reifen von dem, ich hätte gerne die Steuereinheit des Elektro-Rollstuhls von denen und ich hätte gerne die Fahrradtasche von dem und das und das sind die Standard-Schrauben, -Ösen und -Muttern, die man dafür benötigt.“ Manchmal braucht man wirklich Spezialwerkzeug, weil der Rollstuhl halt aus Großbritannien kommt. Und dann sind es halt andere Werkzeuge, als in Europa. Da muss einfach mal an Einigkeit her.

Jonas:
Ich würde mir gerne wünschen, dass, was aber eher ein rechtliches Problem ist… Es gibt so viele Ampeln, wo das akustische Signal kaputt ist. Und ich würde mir eigentlich so gerne wünschen, wenn es eine App geben würde, wo man dann quasi an der Ampel steht und die App einem sagt, ob Grün oder Rot ist. Das Problem ist nur, wenn die App sagt, es ist Grün, und es ist nicht Grün und dann passiert etwas, dass ist dann, glaube ich, ein rechtlich schwieriger Bereich.

Judyta:
Na ja, aber die App muss einfach gut sein.

Raul:
Das gilt aber für alle. Apps müssen immer gut sein.

Jonas:
Festhalten kann man eigentlich am Ende, dass Hilfsmittel erstmal ja für Selbständigkeit und für Teilhabe an der Gesellschaft sorgen und deswegen etwas sind, was nötig ist für Menschen mit Behinderung und, ja, etwas ist, worüber man weniger diskutieren sollte, worüber es mehr Auswahl geben sollte, was auch noch mal mehr in das allgemeine Bewusstsein kommen soll. Also, vielleicht raus aus Sanitätshäusern, auch mehr im normalen Einzelhandel, also für eine Teilhabe und für Inklusion auf jeden Fall sehr wichtig ist. Und wir drücken allen draußen die Daumen, die gerade im Rechtsstreit sind mit ihrer Krankenkasse…

Raul:
Haltet durch!

Jonas:
Wir sind in Gedanken bei euch und hoffen, dass ihr bei der nächsten Podcast-Folge mit dabei seid, wenn ihr dann vielleicht auch schon euer neues Hilfsmittel in den Händen haltet.
Bis dahin…

Judyta, Raul & Jonas:
Tschüß

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2 Antworten

  1. Ich mag den Podcast sehr, er ist lustig und spricht mir aus dem Herzen. Auch die persönlichen Erfahrungen sind hilfreich. Mir haben alle Folgen gut gefallen und ich kann damit viel anfangen, auch wenn ich meine Einschränkungen auf einer anderen Ebene habe. Aber ich habe mein Leben bis vor kurzem mit meinem Vater verbracht, der auf Grund einer Polio Erkrankung einen Rollstuhl brauchte und in den letzten Jahren mehr und mehr Hilfe in Anspruch nehmen musste, wider Willen. Die ganze Ambivalenz ist mir bekannt, all das Scheinheilige und das Echte, sowie die Unwegbarkeiten im Alltag. Helfen dürfen und falsch helfen wollen und all das traurige dabei sein weil es ja garnicht wirklich geht, helfen. Nunja, mein Vater war im Krieg gelähmt, 1943 in der Charite in Berlin, er hat sich selbst als Krüppel beschrieben, als jemand, den der Amtsarzt hätte mitnehmen sollen. Also, er selbst hatte am allermeisten Schwierigkeiten mit seinen Lähmungen und hat bis zuletzt gekämpft und war so hart zu sich und uns. Denn wir haben ihn so geliebt.
    Und ich verstehe nicht, warum es auch heute noch so viel komisches Gemauschel gibt rund um das Thema Behinderung.
    Aber eine schöne kurze Geschichte möchte ich erzählen, die mich und meine Geschwister sehr glücklich gemacht hat: Als die 24 Stunden Hilfe, die bei meinem Vater und seiner Frau von ihrem Freund abgeholt wurde, kam dieser Freund im Rollstuhl ins Haus. Darauf war niemand vorbereitet worden, dass dieser Freund im Rollstuhl kommt. Es war ja auch garkein Problem, weil das Haus barrierefrei ist. Am nächsten Morgen sind beide mit dem Auto Richtung Heimat gefahren. Das die Gehbehinderung des Freundes nicht angekündigt worden ist, dass hat uns überrascht. Aber es hat so gut getan, zu erleben, wie normal es ist wenn es als unproblematisch und normal gelebt werden kann.
    Und das ist auch für mich vorbildlich, meine eigenen Schwierigkeiten normal zu nehmen und mich nicht immer entschuldigen zu wollen für etwas, was zu mir gehört, auch wenn es aus dem Rahmen fällt. Danke

  2. Danke für die Info über Sanitätshäuser. Es ist hilfreich zu wissen, dass sie für Menschen mit Behinderungen sind. Ich werde meinem Freund, der eine Behinderung hat, bei der Suche nach einem Sanitätshaus helfen.

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