Dürfen behinderte Menschen scheitern? – Transkript

Lesezeit ca. 19 Minuten

Die Neue Norm: Eine Sehbehinderung, zwei Rollstühle, drei Journalist*innen

Judyta Smykowski, Jonas Karpa und Raul Krauthausen sprechen über Behinderung, Inklusion und Gesellschaft.

Folge 4: Dürfen Menschen mit Behinderung scheitern?

Judyta:
Raul, sag mal, woran bist du eigentlich zum letzten Mal gescheitert?

Raul:
Oh, ich hab das letzte Mal mit meinen Mitbewohnerinnen Stadt-Land-Fluss gespielt, und ich habe gemerkt, wie schlecht ich in Geografie bin. Und du, liebe Judyta?

Judyta:
An meiner daily routine – mit Sport, die man ja jetzt so haben soll.

Raul:
Aber das finde ich halt auch total interessant in dieser Corona-Zeit, das jetzt irgendwie alle immer meinen, irgendwelche Projekte machen zu müssen. Und da bin ich auch sehr gut im Scheitern drin. Ich habe noch keine Sprache gelernt. Ich habe kein Marie Kondo gemacht.

Judyta – lacht:
Aber was hast du denn gedacht?

Raul: Das frage ich mich auch… eine Million Interviews gegeben zum Thema Risikogruppe.

Jonas:
Herzlich Willkommen zu „Die Neue Norm“ dem Podcast.
Vielleicht hört ihr es etwas: Wir sind immer noch im Homeoffice und nehmen diese Podcastfolge auf. Und ich bin verbunden mit Judyta Smykowski und Raul Krauthausen.

Judyta, Raul: Hallo… Moin….

Jonas:
Mein Name ist Jonas Karpa. Wir möchten heute über das Thema Scheitern sprechen. Dürfen Menschen mit Behinderung scheitern und haben sie die Chance, überhaupt aus ihren Fehlern zu lernen? Darüber geht es heute in der Folge „Die Neue Norm“. Aber natürlich möchten wir auch etwas auf die Corona-Krise gucken, die uns ja immer noch tagtäglich beschäftigt. Und in der letzten Podcastfolge vor einem Monat haben wir noch über Solidarität gesprochen, über die Risikogruppe und wie man diese Risikogruppe etwas schützen muss. Und aktuell haben sich die Themen etwas verschoben. Jetzt auf einmal ist eines der Hauptthemen, was uns so ein bisschen beschäftigt, die Triage. Heißt also, wenn es weniger Beatmungsgeräte zum Beispiel gibt als Menschen, die beatmet werden müssen, dann müssen Entscheidungen getroffen werden. Und da gibt es ein Papier, was verschiedene Fachverbände herausgegeben haben, um Ärzten eine Empfehlung zu geben. Was auf große Kritik stößt.

Raul:
Genau. Die große Sorge, die Menschen mit Behinderung haben, also zum Beispiel Menschen, die im Rollstuhl sitzen, ist, dass sie von Anfang an in dieser Berechnung, wer dieses Beatmungsgerät bekommen soll oder nicht, den Kürzeren ziehen. Weil dabei eine sogenannte Skala herangezogen wird, die sogenannte Gebrechlichkeits-Skala, wo von vorneherein letztendlich die Gefahr besteht, dass vermutet wird, dass jemand, der eine Behinderung hat, schlechtere Genesungschancen hat, als jemand ohne Behinderung. Und dass es dann letztendlich zu einer Diskriminierung in einer Notsituation kommt. Viele andere Organisationen, zum Beispiel Abilitywatch oder auch der Interessensverband Selbstbestimmt Leben und auch Verfassungsrechtler haben sich kritisch zu diesem Vorschlag der DIVI – so heißt die Organisation der Fachgemeinschaft, die diese Triage-Empfehlung herausgegeben haben. Die haben sich kritisch dazu geäußert. Und was ich auch interessant finde: Die Gegenvorschläge, die gemacht werden. Ein Gegenvorschlag ist zum Beispiel, dass das Los entscheiden soll, wer das Beatmungsgerät bekommt. Da ich aber keine Verfassungsrechtler bin, trau ich mir da auch jetzt momentan relativ wenig Eigenurteil zu. Interessant finde ich auch, dass es Menschen mit Behinderung gibt, die zu Recht sagen: Alleine die Tatsache, dass sowas in der Öffentlichkeit diskutiert wird, ist eigentlich schon so gefährlich, dass sie sich weigern, das zu diskutieren. Und das, denk ich, sollte man auch ernst nehmen, dass man nicht alles diskutieren sollte, was diskutiert wird.

Judyta:
Ja, aber auch Lose, also zu losen, welches Menschenleben irgendwie Glück hat – da wird mir irgendwie auch ganz anders. Es sieht aber so aus, dass wir dieser Triage so ein bisschen entkommen. Trotzdem sollten wir natürlich darüber sprechen, also auch nach diesem ganzen Corona-Gebilde. Dass, wenn wir das alles durchgestanden haben, dass wir dann auf jeden Fall dann noch mal darüber reden, dass wir da besser vorbereitet sind das nächste Mal. Aber jetzt kommen wir ja von der Triage sogar zu den Lockerungen, thematisch auch. Und da habe ich auch ein bisschen Angst, wie es da mit der Solidarität aussieht. Wir werden wahrscheinlich als behinderte Menschen vorsichtiger sein müssen, langsamer in den Alltag zurückkehren dürfen. Und das finde ich auch nicht so gut.

Raul:
Ja, wo dann die Risikogruppe neu definiert wird. Wo dann gesagt wird, es geht nicht mehr darum, dass sie ein Risiko haben zu erkranken, sondern es geht jetzt darum, dass die Risikogruppe ein Risiko für die Rückkehr in die Normalität darstellt. Und da müssen wir aufpassen, dass behinderte Menschen oder gebrechliche Menschen, alte Menschen nicht gezwungen werden, zuhause zu bleiben, damit die sogenannten nicht-gebrechlichen Menschen weiterhin in der Normalität leben können.

Jonas:
Du siehst also die Gefahr einer Zweiklassengesellschaft? Dass nicht-behinderte Menschen Menschen mit Behinderung dafür verantwortlich machen, dass diese ganzen Einschränkungen, beziehungsweise Maßnahmen von Kontaktverbot, Maskengebot, dass das aktuell das non plus ultra quasi ist?

Raul:
Genau. Und ich frage mich auch, wie das verfassungsrechtlich zu begründen sein sollte. Da würde ja dann letztlich ein Teil der Bevölkerung gegen einen anderen Teil der Bevölkerung gestellt werden, was mit der Verfassung nicht vereinbar ist. Und dann auch noch einmal die Definition: Was ist eigentlich eine Risikogruppe? Wenn man das nämlich ganz genau nimmt, dann wäre das die Hälfte der Bevölkerung, die betroffen ist. Nämlich Menschen ab 50, Raucher*innen, mit erhöhtem Blutdruck und so weiter. Da sind wir ganz schnell bei 39 Millionen Menschen.

Jonas:
Wenn wir jetzt gucken, die Risikogruppe, du hast sie ja angesprochen. Da geht es immer um die Gefahr der Ansteckung. Gleichzeitig habe ich aber auch das Gefühl, dass man Menschen viel mehr in den Vordergrund auch rücken muss, die vielleicht die ganze Situation belastet – Heißt also: Menschen, die Depressionen haben, Menschen mit Angststörungen oder Zwangserkrankungen, Leute, die Hypochonder sind, die glauben, am Virus erkrankt zu sein. Dass das einfach eine Situation ist, eine Ausnahmesituation, die noch keiner von uns allen überhaupt mal erlebt hat, dass die einfach sehr, sehr belastend ist, dass ja, diese in Anführungsstrichen „Risikogruppe“ nicht vergessen wird.

Judyta:
Ja, ich habe aber auch mitbekommen von Autistinnen, dass sie auch sagen: Jetzt können wir mal ein bisschen durchschnaufen. Also, jetzt ist es auch erlaubt, zuhause zu bleiben. Jetzt muss man nicht die ganze Zeit in soziale Kontakte treten. Und das ist quasi auch eine Erholung für sie. Oder auch Menschen mit chronischen Schmerzen, die dann einfach mal ein bisschen ruhiger im Homeoffice den Alltag leben können. Und das ist auch etwas, was ich bei mir merke, dass diese Ruhe, die man hat, irgendwie auch der Arbeit sehr gut tut. Und auch meine Erfahrung ist, die jetzt nicht nur Schlechtes hat.

Jonas:
Habt ihr denn Sorge, dass das zur Folge hat, dass wir Rückschritte in der Inklusion erleben? Heißt also quasi, dass das dazu führt – über das, über was wir eigentlich ja vorher gesprochen haben, wie inklusive Schulbildung aussehen kann – dass alle Menschen gemeinsam Sachen erleben können und wie jetzt, wie wir es eben angesprochen haben, durch eine Zweiklassengesellschaft wieder eine Art Aufteilung passiert? Von ja Risikogruppe, Nicht-Risikogruppe, wenn man so unterteilen möchte, dass wir jetzt auf einmal viel mehr wieder aufteilen und uns auf unsere Unterschiede besinnen, anstatt irgendwelche Sachen gemeinsam zu leben. Und dass das auf einmal dazu führt, dass wir nach der Krise viel rückschrittiger sind, also wir das davor waren.

Judyta:
Ja, auf jeden Fall. Also, grade wie du sagst, die Unterschiede sind wieder größer. Es führt eben nur teilweise leider zu der Solidarität, zu der Einsicht, dass wir aufeinander aufpassen müssen, sondern jeder kämpft wieder für sich allein. Und dann, das heißt halt, wie gesagt, für die Leute, die schwächer sind, dass die eher zuhause bleiben müssen. Das find ich schon nicht gut. Auf jeden Fall.

Raul:
Dann auch das Thema Homeschooling. Es ist ja auch nicht so einfach ohne Schulhelfer. Wenn vielleicht sogar die Onlinelernen-Software nicht barrierefrei ist, da entstehen ja auch wieder ganz neue Formen von Ausschlüssen. Und das ist, glaube ich, alles jetzt wirklich für total viele Menschen ein erstes Mal und für sicherlich viele…

Judyta:

Auch der Feminismus…

Raul:
Genau!

Judyta:
…der erlebt auch gerade wieder Rückschritte, weil die Frauen dann wieder zuhause doch das in die Hand nehmen und sich dann doch öfter in die Küche stellen, und da den Haushalt sozusagen machen und die Familie versorgen. Das ist auch eine sehr bedenkliche Entwicklung.

Jonas:
Jetzt haben wir durch die Corona-Krise eben diesen Sonderfall, dass Menschen mit Behinderung so ein bisschen in Watte gepackt wird, also, dass man sehr, sehr vorsichtig und sehr, sehr behutsam mit ihnen umgeht, dass Menschen mit Behinderung noch mehr umsorgt und betüddelt werden und dem Risiko des Scheiterns oder des Erkrankens oder auch das Risiko, wenn man es jetzt mal ganz böse ausdrückt, das Risiko des Sterbens noch weniger ausgesetzt werden.

Judyta:
Ja, das ist ja erst mal eine gute Sache. Na also, wie gesagt, wenn sich die Leute daran halten würden…

Jonas:
Sterben?

Judyta:
Nein, das schützen der Leute. Es ist eine gute Sache. Aber wie gesagt, daran hält sich die Bevölkerung nicht meiner Meinung nach, weil der Drang zur Normalität zurückzukehren, ist verständlicherweise größer.

Raul:
Ich finde die Frage, welche Resilienzen und welche Ressourcen stecken eigentlich in Menschen mit Behinderung, die schon immer das Gefühl hatten, sie können nicht das machen, was sie eigentlich wollen. Für sie ist das normal, zuhause zu sein, einen Großteil ihres Lebens wenig Sozialkontakte zu haben und die vielleicht auch mehr gelernt haben, wie es ist alleine oder mit sich zu sein. Ob da vielleicht auch ein Potenzial liegt, etwas von Menschen mit Behinderung zu lernen und nicht immer nur als die Gruppe zu sehen, die bemitleidenswert ist.

Jonas:

Wenn man jetzt schaut, dass Menschen mit Behinderung in Werkstätten arbeiten, dass sie in andere Sondereinrichtungen gesteckt werden, wo es eigene Ansprüche gibt von dem, was sie dort tun, wie sie ihre Freizeit erleben, wie sie arbeiten. Gibt es dort überhaupt die Möglichkeit von Menschen mit Behinderung das Gefühl des Scheiterns, beziehungsweise dass etwas auszuprobieren, etwas wagen, was dann vielleicht nicht funktioniert? Also, mir wurde früher immer quasi gesagt, aus Fehlern lernt man. In der Schulzeit war es so: Die Lehrer, die am strengsten waren, die man vielleicht auch am unsympathischsten fand, wo es wirklich viele Hausaufgaben gab, mit denen man nicht viel anfangen konnte, dass es die waren, von denen man im Nachhinein am meisten gelernt hat. Also durch Fehler, durch hinfallen und wieder aufstehen -um dieses Wort mal zu benutzen oder diese Symbolik zu benutzen- haben Menschen mit Behinderung, in den Einrichtungen oder in ihrem Leben dort die Chance?

Raul:
Ich mache die Beobachtung, dass Menschen mit Behinderungen, die, sagen wir mal, eine Schul-Karriere durchlaufen haben und dann in Förderschulen gewesen sind, immer vermittelt bekommen haben, dass sie in dieser Fördereinrichtungen, in der sie sind, es am besten haben, besser als draußen in der gefährlichen Welt. Und diese Annahme, dass die Welt da draußen gefährlich ist und sie in dieser Förderwelt geschützt sind, führt dann eben auch dazu, dass Menschen mit Behinderungen in diesen Einrichtungen nur gefördert, aber wenig gefordert wurden. Und dann letztendlich auch nicht gelernt haben, mit neuen Herausforderungen umzugehen, neue Situation zu erleben. So wie das erste Mal alleine mit dem Bus fahren oder das erste Mal jemanden um Hilfe bitten, jemand Fremdes. So dass sie dann mit zunehmendem Alter sich auch selbst immer weniger zugetraut haben, weil sie einfach schon von Kindesbeinen auf nicht gelernt haben, wie es ist, an Grenzen zu kommen.

Und in diesen Förderschulen folgt dann in der Regel die Werkstatt. Und da ist es dann ähnlich, dass dann das gemacht wird, wovon angenommen wird, dass das alle können. Relativ niedrigschwellige Arbeit, die dann aber schon auch im Akkord stattfinden soll, zu einer super geringen und schlechten Bezahlung. Und dass diese Bezahlung auch nicht korreliert mit der Leistung und dass die Leistung dann aber nicht die Leistung ist, die jemand vollbringen kann, wenn er die richtigen Ressourcen hätte, sondern die Leistung ist, die die Werkstatt von der Person erwartet. Also, wir müssen heute tausend Warndreiecke verpacken, ja, das ist dann die Aufgabe. Und dann geht es nicht darum, dass jemand an seinen Ressourcen wächst, sondern es geht darum, dass diese tausend Warndreiecke verpackt sind. Und da dann Ausstiegs- und Entwicklungschancen zu sehen und zu entwickeln, ist, glaube ich, nicht vorgesehen.

Judyta:
Na ja, aber es ist ja auch nicht immer so, dass man gefördert wird. Also überall. Es hängt ja auch an einem selber quasi, ob man das einfordert. Und klar, Menschen in der Werkstatt haben da schon per se schlechtere Karten Entwicklung einzufordern. Ich finde es aber auch problematisch, wenn man dann auch sagt, die Beratungsstellen, die es gibt für Eltern von behinderten Kindern oder für behinderte junge Erwachsene, dass, wenn die dann auch nur den Weg des geringsten Widerstands beraten. Also: ‚Geh lieber in die Werkstatt, da ist es wahrscheinlich einfacher für dich.‘ Und wenn ich mir vorstelle, ich habe so ein Kind, und ich habe mich schon so als Mutter auch eingesetzt und habe diese Stelle gefunden und lasse mich beraten, das ist ja auch schon mal irgendwie etwas, was nicht viele vielleicht auch machen. Dann auch diese Skepsis beizubehalten, das stelle ich mir schwierig vor, da sich auch umzugucken. Was wären denn sonst die Lösungen? Weil, wenn jeder dir sagt auf deinem Weg: Das ist die Lösung. Dann ist es ja auch schwer, da skeptisch zu bleiben.

Raul:
Dann wird man schnell der Querulant der Elternteil.

Jonas:
Wobei ich mich dann immer frage: Diese Beratungsstellen empfehlen sie den Weg des geringsten Widerstandes deshalb, weil sie Sorge haben, dass das Kind, der Mensch mit Behinderung im Leben scheitert? Oder geben sie die Hinweise darauf, weil sie nicht möchten, dass nach vier Wochen oder in einem halben Jahr die Person dann da wieder steht und sie sagt mir „Das, was Sie empfohlen haben, hat nicht geklappt. Jetzt bin ich frustriert. Was soll ich jetzt machen?“ Und dass du dann quasi schon wieder vermittlungsbedürftig bist.

Raul:
Ich denke, da ist es wichtig zu gucken, wer dieser Beratungsstelle betreibt. Also, wenn es Beratungsstellen der Arbeitsagenturen sind oder der Behörden, ist die Wahrscheinlichkeit relativ groß, dass sie eher in die Strukturen beraten, die -sagen wir mal- gut geölt sind, die funktionieren, also Werkstätten und so weiter. Wenn es aber eine unabhängige Beratungsstelle ist – und davon gibt es auch einige- zum Beispiel ein guter Anlaufpunkt ist immer die EUTB, die Ergänzende Unabhängige Teilhabeberatung. Da wird dann oft auch versucht, zu vermitteln, zu Menschen, die es anders gemacht haben, als vielleicht der vermeintliche klassische Weg ist. Und dann auch zu lernen, wie es andere gemacht haben.

Judyta:
Und das sind auch behinderte Menschen selber in dieser Teilhabeberatung und das ich finde ich halt…

Raul:
Oft, ja.

Judyta:

…so toll. Also, bei mir war nämlich die Erfahrung, als ich dann Abitur gemacht habe und dann bei einer Beratung war, dann war das natürlich eine nicht-behinderte Amtsperson, die nicht viel mit mir anfangen konnte. Die sich natürlich auch nicht gut reinversetzen konnte in die Lage von mir und deswegen die Beratung einfach nicht fruchtbar war. Und deswegen finde ich das toll, dass es das gibt jetzt.

Raul:
Ich finde auch total wichtig, dass man als Mensch mit Behinderung lernt, was gut war und was nicht gut war von dem, was man selber gemacht hat. Weil ich schon auch manchmal das Gefühl hatte, als ich jugendlich war, dass grundsätzlich erst mal alles toll war, was ich gemacht habe. Und ich aber wusste, dass das kann nicht sein kann, weil ich wusste, was meine Klassenkamerad*innen alles tolles gemacht haben und mich selber gar nicht so toll fand. Und da ehrliches Feedback zu bekommen, ist, glaube ich, gerade als Mensch mit Behinderung, gar nicht so einfach. Wie habt ihr das denn erlebt?

Judyta:
Ja, ich habe oft den Spruch bekommen „Du musst besser sein als nichtbehinderte Menschen.“ Also, eher dieses doppelte Anstrengen. Es reicht nicht, gleicht zu sein, sozusagen mit den nicht-behinderten Menschen. Ich finde einen Mittelweg wahrscheinlich gut. Also, das Selbstbewusstsein zu stärken, die Beispiele zu suchen, die es jetzt halt mehr gibt, in den Medien zum Beispiel. Dass man sich selbst auch sieht als rollstuhlfahrende Person. Dass man etwas machen kann, weil es zum Beispiel jemanden gibt, der Schauspieler ist oder Schauspielerin oder so. Also, diese Vorbilder gibt es, glaube ich, heute mehr, als wir klein waren… Raul und ich. Ich glaube also, wir sind jetzt noch nicht so alt, aber…

Raul:
Klein bin ich immer noch!

Judyta – lacht:
Ich auch…

Jonas:
Nein, aber man landet natürlich auch häufig in dieser Klischeefalle, dass man etwas meistert, dass man dann das, was man macht, vielleicht auch gut macht, aber macht es dann trotz seiner Behinderung. Was bloß dazu führt, dass die Behinderung immer mit thematisiert wird. Und dass es immer darauf bezogen wird, dass man das beurteilt immer mit der Behinderung dazu in einem Atemzug.

Judyta:
Ja, das ist ein Vokabular auch der nicht behinderten Menschen. Also, etwas trotz der Behinderung zu machen oder das zu meistern, da ist eine Bewunderung, schwingt da mit drin. Auch etwas von… „Ich habe das so nicht erwartet… es überrascht mich. Es passt nicht in mein Bild von einem Menschen mit Behinderung.“ Also, das ist ganz klar die Sicht der nicht-behinderten Menschen, die wir auch sehr viel in den Medien sehen. Und da appellieren wir ja auch immer in unserer Arbeit als Journalist*innen, da sich auf diesen anderen Blick einzulassen und nicht immer alles in dieses Oho-Aha-Erlebnis in Relation zu setzen, dass dieser Mensch jetzt doch was geschafft hat, sondern auch, wenn er Künstler*in, Schauspieler*in ist -was auch immer- dass man da einen Weg findet, eine Rezension zu schreiben, in der vielleicht die Behinderung keine Rolle spielt. Oder wenn die in der Performance eine Rolle spielt, dann auch die gleichen Maßstäbe anzusetzen wie bei einer nicht-behinderten Künstlerin.

Jonas:
Tipps für einen klischeefreie Berichterstattung gibt es übrigens auf Leidmedien.de. Diese Seite und noch andere Links zum Thema Scheitern werden wir euch in unseren Shownotes auf www.dieneuenorm.de bereitstellen.

Raul:
Jonas, du hast das mal irgendwie so gut verglichen mit der Miniplaybackshow.

Jonas:
Ja.

Raul:
Was war da der Vergleich?

Jonas:
Also, ich bin natürlich auch in den Neunzigerjahren groß geworden und hab‘s damals sehr gerne geguckt.

Judyta:
Wirklich groß!

Jonas:
Ja, das kam damals die Miniplaybackshow mit Marijke Amado aus Holland. Wo Kinder sich halt verkleidet haben, wie ihre großen Musikvorbilder und dann Playback ein Lied dazu performed haben, also quasi getanzt, so getan, als würden sie singen. Und ganz am Ende kamen sie vor eine dreiköpfige Jury – damals noch prominenten Menschen -, die den Auftritt dann bewertet haben. Und am Ende hat dann ein Kind gewonnen. Aber es hieß… ganz am Ende wurde dann auch immer dieses Lied gesungen „Alle waren Sieger, auch wenn einer nur gewinnen kann“. Und mich hat damals schon als Kind immer sehr gewundert, dass da teilweise Kinder dabei waren, die nicht wirklich gut tanzen konnten, sich nicht wirklich gut bewegen konnten zu der Musik. Sie hatten noch nicht mal den Songtext drauf. Also dieser Anspruch, von etwas Playback zu singen… also, die Lippen waren nicht synchron zu der Musik. Aber gleichzeitig kam immer die Jury an und sagte, wie wunderbar die das gemacht haben. Und die wurden in den Himmel gelobt. Wo ich mich immer gefragt habe: Nein, das war doch jetzt total schlecht und doof. Ja, und ich habe mich da immer so gefragt, warum gibt es dort keine ehrliche Bewertung? Und das hat man nicht nur in den Neunzigerjahren bei der Miniplayback Show, das hat man ja gefühlt überall, wo Kinder etwas vorführen. Das hat man heute auch bei The Voice Kids, bei der Castingshow, auch immer. Wenn dort ein Kind nicht so gut singt, wird immer gelobt, dass der Ansatz schon okay ist, dass es sich weiterentwickeln kann, sollte vielleicht im nächsten Jahr noch mal wiederkommen…

Judyta:
Aber Jonas, du kannst doch eine Kinderseele nicht zerstören!

Jonas:
Nein, natürlich nicht, aber ich hatte trotzdem – um diesen Bogen hin zu Menschen mit Behinderungen zu spannen – Dass ich häufig das Gefühl habe, wenn erwachsene Menschen mit Behinderung irgendetwas aufführen, sei es jetzt zum Beispiel im Theater etwas spielen, oder wenn man jetzt auch vom Sport ausgeht, dass es manchmal vielleicht schwerfällt, eine ehrliche Kritik abzugeben oder eine Rezension darüber zu schreiben und wirklich zu sagen „Okay, das Stück, das hat die Schauspielerin mit Behinderung einfach scheiße gespielt.“ Und ich habe das Gefühl, dass es da selten ehrliche Kritik gibt. So, Raul, wie du’s auch eben gesagt hast, dass du das Gefühl, dass es in deiner Jugend, dass du für alles das, was du gemacht hast, erstmal gelobt wurde. Und du selber auch das Gefühl: Nee, das kann eigentlich so nicht stimmen.

Judyta:
Da ist aber auch viel Unsicherheit dabei.

Raul:
Genau.

Judyta:
Das ist leider so.

Raul:
Die Frage, die ich mir halt dann immer gestellt habe ist, was das mit so einem Kind macht, wenn es dann glaubt, es war gut, aber in Wirklichkeit gar nicht gut war. Man muss ja auch nicht in allem gut sein, aber irgendwann wird das Kind es ja erfahren. Und ich frage mich, wer in der Verantwortung ist, wie ist es dann einem Menschen klarzumachen, das hier an der oder der Stelle vielleicht doch etwas anders oder besser gemacht werden könnte, ohne dass immer nur weggelobt wird.

Judyta:
Ich finde, es fehlt auch einfach an Gesangslehrer*innen oder Choreograf*innen, die schon Erfahrung haben mit Menschen mit Behinderung. Also es wird immer mehr. Aber, wie wichtig es auch ist, eine Lehrkraft zu haben, die das wirklich auch beurteilen kann. Also, die nicht nur sagen kann „Okay, das ist jetzt ein besonderes Kind.“ So werden ja manchmal auch Menschen mit Behinderung oder auch Kinder mit Behinderungen genannt, sondern dass sie auch wirklich sagen „Ja, da hast du deine Möglichkeiten nicht ausgeschöpft.“ Also, das wünsche ich mir sehr, dass man dieses ehrliche Feedback – auch ein Riesenthema heutzutage – auch wirklich ehrliches, gutes Feedback zu bekommen. Und bei Menschen mit Behinderung ist es halt noch schwerer, glaube ich, wie für nicht-behinderte Menschen.

Raul:
Woran seid ihr denn gewachsen? Was hat euch -sagen wir mal- lernen lassen, wachsen lassen, damit ihr gut seid in dem, was sie tut?

Jonas:

Also ich habe für mich gemerkt, dass, wenn man vor Herausforderungen gestellt wird und es ausprobieren muss und vielleicht auch ein bisschen dorthin getrieben wird, es mal auszuprobieren. Also, wenn man irgendwie sagt: „Okay, ich kann das nicht, oder ich mache das nicht, weil ich das zum Beispiel eh nicht sehe oder eh nicht erkenne, wo ich dann quasi schon vorher resigniert habe und gesagt habe, ich gehe diese Herausforderung erst gar nicht an. Und wenn man dann dorthin getrieben wird zu sagen: „Probier es doch mal aus, versuch’s doch mal.“ Und ich dann vielleicht sogar auch gemerkt habe: „Okay, das war vielleicht anstrengend, und es hat Überwindung gekostet, seine Komfortzone da mal zu verlassen, aber es hat funktioniert!“ Und das ist dann ein schönes Gefühl. Manche Sachen haben natürlich auch nicht funktioniert. Aber dann hatte man wenigstens die Erkenntnis gewonnen und hat es auf jeden Fall erst mal ausprobiert.

Judyta:
Ja, also, ich glaube auch, diese Komfortzone zu verlassen, wie Du sagst, Jonas, finde ich sehr, sehr wichtig. Ich versuche, das auch von mir selber zu verlangen. Trotzdem da auf mich zu achten und nicht zu sagen, ich kann jetzt irgendwie trotzdem den Marathon laufen, mit irgendwie einer Gehbehinderung. Also, das so im Rahmen zu halten, also auch die Erwartungen von außen und von sich selber oder an sich selber so im Gleichgewicht zu halten. Und bei dir, Raul?

Raul:
Ich glaube, bei mir waren das meine Eltern, die mir immer gesagt haben: „Ruh dich nicht auf deiner Behinderung aus.“ Und die dann auch gesagt haben: „Naja, also das ist jetzt nicht besonders schön geworden, dein Bild.“ Oder: „Kann es sein, dass du ein bisschen faul bist?“ oder so… Das glaub ich, habe ich schon von meinen Eltern mitgenommen. Und dann gute Freunde. Gute Freunde, die dann einfach auch gesagt haben: „Alter, das ist jetzt vielleicht mal nicht dein Spezialgebiet im Moment, try harder oder mach was Anderes. Aber das war jetzt eher so mittelmäßig.“ Mir wurde auch mal nahegelegt, kein Musikinstrument zu lernen, weil ich hatte mal anderthalb Jahre Keyboard. Und dann meinte der Keyboardlehrer: „Also ja, ich sehe, dass du dich bemühst. Aber vielleicht ist das auch nicht dein Instrument.“

Jonas:
Spielst du jetzt ein Instrument?

Raul:
Nee

Jonas:
Schade.

Raul:
Du?

Jonas:
Nicht mehr, nicht mehr. Aber früher. Aber…

Raul:
Was denn? Triangel oder was?

Jonas:
Nee, aber früher habe ich ein Klavier und Schlagzeug gespielt. Das war aber noch vor meiner Behinderung und hab dann quasi nicht wegen meiner Behinderung aufgehört, sondern einfach weil dann kam das Studium und einfach wenig Zeit.

Judyta:

Ja, ich habe ja mal Geige gespielt. Also Jonas, die Band, die sollten wir mal machen…

Jonas:
Das auf jeden Fall. Wenn man jetzt guckt, dass wir aktuell ja in einer Leistungsgesellschaft leben. Ob das jetzt so wunderbar ist oder nicht, dass kann jeder für sich selbst entscheiden. Ja, wo alles und jeder bewertet wird. Gleichzeitig ist aber auch so, dass dieser Trend des gebrochenen Lebenslaufs, dass nicht alles aalglatt gelaufen ist, sondern dass man mal auch eine Lücke hat, dass man etwas abgebrochen hat. Es ist ja irgendwie – habe ich zumindest das Gefühl – es ist fast schon modern, sowas zu haben.

Judyta:
Soll ich mich jetzt als Studiums-Abbrecherin outen? Ich habe zwei Semester Germanistik gemacht und abgebrochen.

Jonas:
Ja, du bist voll im Trend, ist doch super.

Judyta:
Ich bin gescheitert.

Jonas:
Ja, aber dass quasi Menschen mit Behinderungen gar nicht dieses try-and-error-System für sich erleben können.

Raul:
Genau weil, dann wird dann gleich gesagt: „Na ja, vielleicht ist studieren gar nichts für dich.“ Oder „Ja, jetzt haben wir ganz umsonst die Unterstützungsleistungen für dich bezahlt. Wieso kannst du jetzt garantieren, dass es bei dem anderen Studium besser wird?“

Judyta:
Hand hoch: Wer hatte von euch eine Gymnasialempfehlung?

Jonas:
Wir sehen uns ja nicht, wir sind ja immer noch im Homeoffice!

Raul:
Aber, ich war auf einer Gesamtschule, da hatte gefühlt jeder eine Gymnasialempfehlung.

Judyta:
Ja, ich hatte erst nach der sechsten Klasse eine, also nach der Grundschule nicht. Aber ich bin trotzdem aufs Gymnasium gegangen. Und du, Jonas?

Jonas:
Ich bin auch aufs Gymnasium gegangen, aber ich bin ja nicht in der Gang der Geburts-Behinderten.

Judyta:
Aber hattest du eine Empfehlung?

Jonas:
Ja, ja…

Judyta:
Streber!

Jonas:
Wenn ihr euch über Werkstätten mit Behinderungen, beziehungsweise den Weg aus den Werkstätten heraus auf den ersten Arbeitsmarkt informieren möchtet, dann legen wir euch das Sozialhilfeprojekt Jobinklusive.org ans Herz. Das werden wir auch noch mal verlinken in unseren Shownotes zu unserem Podcast auf www.dieneuenorm.de. Dort gibt es viele wichtige und spannende Informationen über das Thema Arbeitsmarkt und Menschen mit Behinderung.

Ja, was bleibt ganz am Ende unserer Podcastfolge über das Scheitern? Man kann eigentlich zusammenfassen, dass man aus Fehlern lernt, dass man durch das Scheitern, beziehungsweise das Ausprobieren, die Komfortzone verlassen, das Unbekannte mal sich etwas näherbringen, eigentlich sehr vorankommt, oder?

Raul:
Genau, dass das unglaubliche Kräfte freisetzen kann und das je früher und je öfter man scheitert, desto größer und desto auch weniger schmerzvoll ist der Lernerfolg. Wichtig ist halt, dass die Leute beim Scheitern nicht alleine gelassen werden, sondern ihnen dann geholfen wird, die Krone zu richten und wieder aufzustehen und weiterzumachen und neue Herausforderungen anzunehmen.

Jonas:
Glaubt ihr denn, wenn wir jetzt auch gerade in der Corona-Krise sind, dass wir durch diese, durch dieses Scheitern vielleicht auch etwas positives herausziehen können? Gibt es etwas, was ihr hofft, wie sich jetzt die Gesellschaft verändert, wenn wir das Ganze überstanden haben, was sich verbessert hat?

Judyta:
Ich hoffe, die Solidarität scheitert nicht. Das ist meine große Hoffnung.

Raul:
Ich hoffe, wir lernen durch Corona, dass wir dann doch alle verwundbar sind und dadurch vielleicht auch mehr aufeinander achtgeben.

Jonas:
Das wäre wirklich wünschenswert. Wir hoffen, dass wir bei der nächsten Podcastfolge wieder an einem Tisch sitzen und nicht noch weiter im Homeoffice sind. Wir haben uns ja dazu entschlossen, nicht Gesundheit zu wünschen, sondern passt einfach weiter auf euch auf. Lest die Artikel, die wir noch weiter verlinkt haben auf www.dieneuenorm.de und wir hören uns dann bei unserer nächsten Podcastfolge wieder. Bis dahin.

Judyta, Raul, Jonas: Tschüss

 

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Eine Antwort

  1. Ich finde es als Mutter eines körperbehinderten Kindes unfassbar schwer, das richtige Maß zwischen rückenstärkendem Lob und ehrlicher, vielleicht weiterbringender Kritik zu finden. Einerseits denke ich bei jedem gemalten Bild: ausbaufähig, gleichzeitig sehe ich wie schwer es meinem Kind fällt überhaupt Blatt und Stift zu managen und habe das Bedürfnis zu applaudieren. Je wichtiger die Außenwelt für Kinder wird, desto eher sehen sie sich selbst ja auch aus der Außenperspektive und vergleichen sich mit Gleichaltrigen. Wie kann da ein inflationäres, auch leider immer wieder von Mitleid geleitetes Lob von uns Eltern mithalten? Vielleicht sollte bei jedem Kind der Maßstab für elterliches Lob und Kritik an ihm selbst, seinen individuellen Bedingungen und Zielen angelegt werden. Was hast Du bis hierhin erreicht und wo möchtest Du hin? Der Vergleich mit „außen“ und das Gefühl des „Scheiterns“ ergibt sich – zumindest bei Kindern, die sich in Regeleinrichtungen zurecht finden müssen – von allein.

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