Armut – Transkript

Lesezeit ca. 27 Minuten

Die Neue Norm: Eine Sehbehinderung, ein Rollstuhl, eine chronische Erkrankung. Oder: drei Journalist*innen. Jonas Karpa, Raul Krauthausen und Karina Sturm sprechen über Behinderung, Inklusion und Gesellschaft.

Folge 43: „Armut“

Jonas:

In Vorbereitung zu diesem Podcast ist mir irgendwie ein Spruch ins Gedächtnis gekommen. Kennt ihr den noch: „Lieber arm dran als Arm ab?“

Karina:

lacht, Oh Gott.

Raul: 

War das nicht: „Lieber Arm ab als arm dran“?

Karina:

Ist das nicht ein bisschen ableistisch?

Raul:

Total, aber es ist ein guter Einstieg in unser Thema.

Jonas:

Herzlich willkommen zu „die Neue Norm“, dem Podcast. Seit eh und je zu hören in der ARD Audiothek. Auch seit eh und je sind Menschen in unserer Gesellschaft von Armut betroffen. Es ist kein neues Thema, aber es ist leider immer noch ein Thema, über das viel zu selten öffentlich gesprochen wird. In dieser Folge sprechen wir darüber, wie sehr Menschen mit Behinderung vom Thema Armut betroffen sind. Was sind die Gründe? Und an welchen Stellschrauben muss man drehen, um diesen Missstand zu beheben? Darüber sprechen wir mit Karina Sturm und Raul Krauthausen. 

Karina:

Hallo.

Raul:

Grüezi.

Jonas:

Mein Name ist Jonas Karpa. Ich finde immer in den Medien wird selten – denke ich – das Thema Armut gedropt, so als Begriff. Häufig wird von “sozial schwachen” Menschen gesprochen, was ich ein bisschen problematisch finde, weil was heißt sozial schwach? Also wenn Menschen kein Geld haben, sagt das ja nichts über ihre Sozialisierung aus. Was ist denn die Definition von Armut?

Karina:

Laut der Bundeszentrale für politische Bildung gibt es die objektive Armut, also das ist die wirtschaftliche Situation von einer Person oder von einer Gruppe von Menschen, die nicht aus eigener Kraft den als angemessen bezeichneten Lebensunterhalt bestreiten können. Und dann gibt es auf der anderen Seite noch die subjektive Armut. Das ist, wenn die Personen ihre materielle Lage selbst als einen Mangel empfinden. Was allerdings als angemessener Lebensunterhalt gilt, hängt von kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Faktoren ab. Deswegen spricht man international eigentlich auch eher von absoluter Armut, also wenn jemand ein sehr niedriges Pro-Kopf-Einkommen hat. Oder von relativer Armut – die steht dann quasi im Verhältnis oder im Vergleich zur Bevölkerung vom Land. Das ist die eine Definition und dann gibt es noch die vom Statistischen Bundesamt. Und das sagt, dass Menschen armutsgefährdet sind, wenn ihr Einkommen weniger als 60 Prozent vom mittleren Einkommen beträgt. Da werden aber auch noch andere Faktoren mit einbezogen, also zum Beispiel wie das Alter und die Anzahl von anderen Menschen im selben Haushalt. Und die unterscheiden auch noch zwischen materiellen und sozialen Entbehrungen, die man auch messen kann. Aber da geht es eher um die Selbsteinschätzung der Lebensbedingungen von der Person selbst.

Raul:

Aber bei dem Thema Selbsteinschätzung, das führt dann auf der anderen Seite auch zu Aussagen, wie, dass Friedrich Merz sagt, er ist ja Normalverdiener. 

Karina:

lacht

Jonas:

Ja.

Raul:

Er schätzt sich wahrscheinlich selbst ärmer ein, als er tatsächlich ist.

Karina:

Ja. 

Jonas:

War das nicht so Thema Mittelschicht?

Raul:

Genau, gehobene Mittelschicht nannte er das.

Karina:

Ja, es kommt wahrscheinlich immer ein bisschen darauf an, was man so gewöhnt ist als Lebensstandard. Aber da muss man vielleicht auch ein bisschen seine Privilegien checken.

Jonas:

Generell ist es ja so, dass ja schon lange Thema ist, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander geht. Und Menschen, die von Armut betroffen sind, sind häufig auch Menschen, die aus marginalisierten Gruppen kommen oder gar auch diskriminiert werden. Nicht nur aufgrund der Tatsache, dass sie vielleicht auch arm sind, sondern eben auch schon andere Diskriminierungserfahrungen haben. Menschen mit Behinderung sind eine solche Gruppe und Menschen mit Behinderungen sind eben auch explizit von Armut betroffen und das nicht zu knapp.

Karina:

Ja, also insgesamt sind es 20 Prozent der Menschen mit Behinderungen, die von Armut betroffen sind und je jünger, desto mehr. Und es wird auch nicht besser, sondern eigentlich von Jahr zu Jahr schlechter.

Jonas:

Das finde ich irgendwie spannend. Also das passt so ein bisschen zu diesem Bild der Schere, die immer weiter auseinandergeht, dass da nicht gegengesteuert wird, sondern dass es, wenn man sich die Zahlen anguckt, ja wie du gesagt hast, eigentlich immer schlimmer wird und dass du eigentlich als Menschen mit Behinderung dann auch mit sehr großen Schritten auf Altersarmut irgendwie zu gehst.

Karina:

Ja, was ich ganz krass finde ist, dass der Anteil am höchsten ist bei jungen Menschen mit Behinderungen. Also das ist gemessen worden im paritätischen Teilhabebericht. Und es sind um die 30 Prozent bei den zwischen 26 und 49-jährigen Menschen mit Behinderung. Die haben allerdings Einkommensarmut gemessen anhand von anerkannter Behinderung beziehungsweise Erwerbsminderung. Also da sind die Leute noch gar nicht inkludiert, die chronisch krank sind oder behindert und eine Alltagseinschränkungen haben, aber die eben keine amtlich anerkannte Behinderung haben. Und die Zahlen sind quasi konstant gestiegen, also von 2000 waren es irgendwie noch 12,1 Prozent der behinderten erwachsenen Menschen, die arm waren und 2018 waren es dann schon fast 20 Prozent. 

Raul:

Ach krass.

Karina:

Im Vergleich dazu sind es aber nur 2000 10,6 Prozent und 2018 13,2 Prozent von den Nichtbehinderten gewesen. Also das ist schon eine große Lücke.

Raul:

Also wächst unter den Behinderten die Armut schneller?

Karina:

Ja, und es ist auch so, dass bei den Menschen ohne Behinderung der Prozentsatz seit 2006 relativ stabil gewesen oder geblieben ist und bei den Menschen mit Behinderungen steigt er kontinuierlich an.

Raul:

Und zählen dazu auch Beschäftigte in Werkstätten? Die netten Menschen, die ja weniger als Mindestlohn verdienen und dann mit Grundsicherung oder Bürgergeld aufstocken?

Karina :

Gute Frage, müsste ich nachlesen.

Raul:

Das müsste man zu den 60 Prozent des Durchschnittseinkommens, naja, gegenhalten wahrscheinlich?

Jonas:

Aber es ist ja dann noch die Frage… die Grundsicherung ist ja dann auch nicht viel. Also, das.. 

Raul:

Anders gefragt: Sind Menschen, die Grundsicherung beziehen, offiziell arm?

Jonas:

Ich würde… also, wenn man es jetzt so subjektiv betrachtet und im Vergleich zu dem, was vielleicht sonst verdient wird, im Schnitt, würde ich schon vielleicht eher sagen, ärmer. Aber ja, muss man ja auch ganz klar sagen, dass wir hier aus einer sehr privilegierten Perspektive über dieses Thema sprechen.

Raul:

Hier steht, dass 2014 60 Prozent des mittleren Einkommens 987 Euro betrug. Ab dann, da drunter gilt man als arm oder es ist jetzt ein bisschen höher aufgrund der Inflation. Aber da könnte ich mir sehr, sehr, sehr viele Menschen auch in unserem Bekannten- und Freundeskreis darunter vorstellen, die offiziell dann als arm gelten.

Karina:

Die meisten Leute, die eine Erwerbsminderungsrente haben, sind wahrscheinlich ganz knapp an dieser Grenze.

Jonas:

Es ist auch immer dann natürlich im Vergleich zu dem, wie so der ja nicht Lebensstandard ist, aber quasi wie die Situation ist, wo man gerade lebt. Aber mit 987 Euro in den Großstädten wie Berlin, München, Köln, Hamburg, eine Wohnung zu finden zu dem Preis… also allein, nur wenn du das ganze Geld für die Miete aufbringst, überhaupt gar keine Chance.

Karina:

Ja. Und dann darfst du auch nicht vergessen, wie viel Mehrkosten viele chronisch kranke Menschen oder mit Behinderung haben, einfach nur aufgrund von Behinderung oder der Krankheit.

Jonas:

Also man redet ja häufig auch im Bezug auf Menschen mit Behinderungen von zum einen der „Crip Time“ – hatten wir auch schon mal in mehreren Podcast-Folgen besprochen, also wörtlich übersetzt der sogenannten Krüppel-Zeit. Das ist ein Begriff aus der Behindertenrechtsbewegung, die die Zeit beschreibt, die Menschen mit Behinderungen extra benötigen, um gewisse Dinge zu erledigen, oder zum Beispiel im Bereich des öffentlichen Personennahverkehrs unterwegs sind, weil man einfach längere Zeit benötigt, zum Umsteigen oder eine Station weiterfahren muss, weil an der Station, wo man aussteigen würde, vielleicht der Aufzug kaputt ist und man Umwege fahren muss. Und analog dazu gibt es eben auch die sogenannten „Crip costs“. Das beschreibt wiederum einfach den  finanziellen Mehraufwand, den Menschen mit Behinderungen aufbringen müssen, um ihren Lebensalltag zu bewerkstelligen. Also das können verschiedene Hilfsmittel sein, die man selber bezahlen muss, die vielleicht…

Raul:

So wie einen Rollstuhl.

Jonas:

…genau, die die Krankenkasse nicht übernimmt oder solche.

Raul:

Stromkosten.

 Jonas:

Stromkosten? Ich meine Raul, hast du eine E-Rolli-Ladestation bei dir vor der Haustür?

Raul:

lacht Ne, ich hab zuhause so einen Steckdosenadapter. Da schließe ich meinen E-Rolli an. Man kann einen Teil der Kosten von der Krankenkasse übernehmen lassen, aber die sind sozusagen nach oben hin gedeckelt. Ich habe aber viele Hilfsmittel, die alle irgendwie relativ viel Strom brauchen. Das deckt auf jeden Fall nicht die Kosten, also die Kasse deckt nicht alle Kosten.

Jonas:

Ich mein, du bist ja auch sehr technisch unterwegs. 

Raul:

Aber auch gesundheitlich gezwungenermaßen.

Jonas:

Ja.

Raul:

Ich habe einen – wie heißt das? – Cough Assist, ein Ding, was mir beim Husten hilft. Ich habe eine Atemmaske, die ich nachts trage, die hier auch Strom braucht. Deswegen ist es gar nicht so wenig. Was mir gerade beim Lesen dieses Textes auffällt: das Wort armutsgefährdet ist für mich auch schon fast euphe- was heißt fast. Es ist doch Euphemismus, oder? Also armutsgefährdet,  also das ist doch arm. Wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens hat, der ist doch arm. Also armutsgefährdet klingt so: streng dich halt an.

Jonas:

Es legt so ein bisschen den Fokus darauf, dass man selber etwas ändern könnte.

Raul:

Ja, genau.

Jonas:

Und die meisten Leute rutschen aber halt eben einfach in Situationen rein, wo sie vielleicht schon alles Erdenkliche tun oder das, was sie tun können, machen und trotzdem nicht aus dieser finanziellen Notlage irgendwie rauskommen.

Raul :

Im Übrigen habe ich neulich erst mitbekommen, arm sein kostet auch Geld. Also wenn du zum Beispiel Schufa-Einträge hast oder wenn du einen Kredit aufnehmen musst, dann zahlst du natürlich auch Zinsen. Oder wenn du einen Schufa-Eintrag hast, dann bekommst du eben nicht die super-mega Sonderangebote, die vielleicht andere bekommen. Und dadurch wird quasi armen Menschen erst recht wieder das Geld abgezogen.

Karina:

zustimmend, Mhm.

Jonas:

Gerade eben mit Hilfsmitteln, das sind ja auch teilweise Sachen, die das Label Hilfsmittel haben, die erst einmal per se irgendwie teurer sind, habe ich manchmal das Gefühl. Also für mich zum Beispiel ist es ganz ganz hilfreich, wenn ich in der Küche eine Küchenwaage habe, die eine Audio-Ausgabe hat, beziehungsweise die einem laut sagt, wie viel Gramm da gerade gewogen werden. So eine Küchenwaage an sich, keine Ahnung, kostet sieben Euro, sieben acht Euro. Oder was auch immer. Es gibt schon auf dem freien Markt Küchenwagen, die so etwas können. Die sind dann, weiß nicht, 40, 50, Euro ungefähr. Aber wenn man jetzt quasi ins Sanitätshaus gehen würde oder generell so etwas kaufen würde, was wirklich das Label Hilfsmittel hat, dann ist man schon schnell irgendwie im dreistelligen Bereich. Wo ich eigentlich sagen könnte, jede Person, die vielleicht jemanden kennt, der gut mit dem Lötkolben umgehen könnte, der bastelt dir da einen Lautsprecher dran, der das dir vorliest, sogar dann noch in der Stimme deiner Wahl. Keine Ahnung.

Raul:

Tim Mälzer. 

Jonas:

Ja zum Beispiel. Das ist dann die Frage, ob du dann daran Spaß hast, wenn du quasi jedes Mal das von Tim Mälzer vorgelesen bekommst wie viel du da abwiegst, oder dass das die Waage sogar noch erkennt. Also quasi, wenn du Butter abwiegst, das ist ein Horst Lichter zum Beispiel.

Karina:

lacht

Jonas:

Das fände ich irgendwie sehr charmant in dem Sinne. Aber es ist so ähnlich… Bei Hilfsmitteln habe ich manchmal das Gefühl, das ist so wie beim Heiraten: ein normaler Blumenstrauß kostet Summe X. Aber wenn es ein ‚Hochzeitsstrauß’ ist, dann zahlt man nochmal extra obendrauf. Also das, was wir auch in unserer Podcast-Folge schon mal besprochen haben, als es ums Heiraten mit Behinderung ging.

Karina:

Ich meine, teilweise wirst du aber auch vor unmögliche Entscheidungen gestellt. Also ich habe zum Beispiel ein Schmerzmittel, das eigentlich essentiell für mich ist, um irgendwie einigermaßen im Alltag funktionieren zu können. Das zahlt aber auch die Kasse nicht, weil es relativ neu und alternativ ist und da zahle ich auch so 200 alle paar Monate. Und dann muss ich halt gucken, auf was ich sonst verzichte. Oder die Krankenkasse, die plötzlich die qualitativ hochwertigen Bandagen, die ich eigentlich immer brauche, nicht mehr bezahlt und ich dann entscheiden muss, ob ich halt entweder die nehme, die für mich schlechter sind oder ob ich den anderen Teil halt einfach selbst bezahle.

Jonas:

Nimmst du diesen Podcast gerade unter Einnahme von Schmerzmitteln auf?

Karina:

Ich bin im unter Drogen. lacht, Heute sowieso.

(Anmerkung der Redaktion: Karina scherzt und ist heute außerdem stark erkältet.)

Raul:

Aber wenn ich das so sagen darf, ist jemand hier bei uns in der Runde armutsgefährdet?

Karina:

Nein.

Jonas:

Nein, also es gibt immer Höhen und Tiefen. Und das, was eben so Thema war, als du gesagt hast, dass arm sein auch ärmer macht… Oder dass man quasi wenn man in diese Spirale reinkommt… Ich finde es schon manchmal erstaunlich… Wenn man mal weiß, wie es ist, wenn man bei seinem Konto im Dispo war und dann merkt, wie viel Zinsen man zahlen muss und was man eigentlich dann noch mehr an Geld reinstecken muss, um wieder ins Positive zu kommen, ist das total schwierig. Und zeigt, wie schwer es ist, da wieder aus dieser Armutsgefährdung – auch wenn es nur temporär ist – wieder rauszukommen.

Karina:

Ja, also was viele Menschen auch nicht wissen, ist, dass man in Deutschland auch als chronisch kranke Personen durch das System fallen kann. Also als ich damals akut ziemlich schwer erkrankt bin und ganz plötzlich meinen Job aufgeben musste und sich quasi die Behörden um die Zuständigkeit gestritten haben, habe ich quasi kein Arbeitslosengeld mehr bekommen und der Rentenantrag war im Klageverfahren und lief noch für Jahre, also fünf Jahre insgesamt. Und wer-

Raul:

Das heißt, man fällt in so ein Loch rein?

Karina:

Genau, und finanziell hatte ich keinen Anspruch auf irgendetwas, musste meine Krankenversicherungsbeiträge selbst bezahlen, ansonsten wäre ich nicht mehr krankenversichert gewesen. Und in der Zeit war halt meine einzige Option, dass meine Eltern mich hier bei sich wohnen haben lassen und halt für alle meine Kosten aufkommen. Und dadurch war ich okay. Aber wenn ich das nicht gehabt hätte, ich weiß nicht, wie meine Situation ausgesehen hätte.

Raul:

Aber hättest du das Geld rückwirkend bekommen?

Karina:

Ja, aber dann halt fünf Jahre später und das bringt dir halt in der Situation fünf Jahre vorher nicht ganz so viel. Und so geht’s vielen Leuten.

Raul:

Mein Gedanke ist jetzt vielleicht auch sehr persönlich. Aber ich bin jetzt 43 Jahre alt und ich merke, dass ich auch körperlich abbaue und nicht mehr der Fitteste bin und mir schon anders wird zu wissen: Ich muss bis 67 arbeiten, theoretisch, um irgendetwas von der Rente zu sehen und habe große Zweifel, ob ich das körperlich überhaupt schaffe. Und das würde ja bedeuten, dass wenn ich es nicht schaffe und dann früher in Rente gehe, ich natürlich erstens einen geringeren Rentenanspruch habe und bedingt dadurch, dass ich auf Assistenz angewiesen bin – vom Sozialamt werden ja die Kosten übernommen – sowieso nicht sparen darf aufs Alter hin, kein Vermögen aufbauen. Ich darf das Einkommen gar nicht überschreiten. Und…

Jonas:

Gibt’s da eine Grenze? Also gibt es da einen Punkt, wo gesagt wird, okay, wenn du jetzt, sage ich mal über Summe X auf dem Konto hast, kommt das Sozialamt an und sagt: “Wir übernehmen deine Assistenz nicht mehr; du hast ja so viel Geld, du kannst sie selber bezahlen”?

Raul:

Also ja, die sagen, ich darf maximal 50.000 Euro sparen, solange ich berufstätig bin und alles, was darüber hinausgeht, würde der Staat quasi einziehen. 50.000 klingt nach viel Geld. Aber es ist halt ein Auto oder die Tür oder der Flur einer Wohnung – also noch nicht mal die ganze Wohnung. Und das ist ja auch letztendlich Altersvorsorge, im Sinne von Bausparvertrag oder Lebensversicherung oder für die Kinder. Das heißt, ich darf darüber sowieso nicht hinaus. Und egal wie, ich werde in Altersarmut leben. Ich will eigentlich jetzt die beste Zeit meines Lebens haben. Und das macht mir Angst.

Karina:

Ja, da bin ich mit an Bord. Selbe Situation.

Jonas:

Und Karina, du hast ja eben auch gesagt, wie gut es ist, auch so einen familiären Rückhalt in dem Sinne zu haben. Das was du Raul gerade gesagt hast und ich auch interessant finde ist, dass ja auch Leute, die dann zu deiner Familie gehören, also Partner*innen,  jetzt nicht im Sinne von Ehefrau eins, zwei und drei…

Karina:

lacht

Jonas:

…aber auch genauso dafür bürgen. Das war ja auch kurzzeitig Thema bei unserem Podcast, wo wir ums Heiraten gesprochen haben, dass du als Mensch mit Behinderung, der vom Sozialamt die Assistenz bezahlt bekommen hat, eine in Anführungsstrichen sehr sehr schlechte Partie bist. Weil wenn deine Frau Millionärin ist und dich heiratet, dann kommt das Amt an und sagt: „Ah ist ja interessant. Sie haben ja als Lebensgemeinschaft dann doch etwas Geld.“

Raul:

Wobei sich jetzt mit dem Bundesteilhabegesetz vor ein paar Jahren die Rechtsprechung für genau diese Partner*innen geändert hat. Die müssen nicht mehr haften mit ihrem Einkommen und Vermögen. Aber letztendlich sind sie ja dann doch mit arm. Und das darf man einfach auch nicht vergessen, vielleicht nennt man das dann „Co-Armut“ oder so, dass das diese Menschen dann auch schneller treffen kann. Du kannst deiner Frau zum Beispiel keinen Bugatti kaufen. 

Karina:

lacht

Raul: 

Beziehungsweise was heißt Bugatti. Aber es ist schon.. Also sie hat mal zu mir gesagt, dass sie eigentlich – sie ist jünger als ich – davon ausgeht, dass sie später unser Leben finanziert.

Jonas:

Ja.

Raul:

Und das hat mich schon traurig gemacht.

Karina:

Und das sagte übrigens auch der Parallelbericht der Monitoringstelle der UN-BRK, dass die Regelungen vom Bundesteilhabegesetz zur Altersarmut beitragen. Also obwohl die Vermögensanrechnung mittlerweile großzügiger ist. Es ist trotzdem noch zu streng, sodass es eigentlich kaum möglich ist, irgendwelche Rücklagen zu bilden fürs Alter.

Raul:

Und ich frage mich manchmal, was ist eigentlich die Idee dahinter? Es gibt auch Studien, die sagen, dieser ganze Prüf-Wahnsinn, den die Behörden ja machen, um zu gucken, ob behinderte Menschen zu viel Vermögen haben und so weiter, dass diese Prüfung teurer ist als das, was sie finden. Und da kann man es ja auch lassen. Oder haben wir einfach Angst, dass demnächst die Menschen, die viel Geld haben, in Zukunft Assistenz beantragen, weil sie berechtigt wären und das deswegen nicht tun? Also, da gibt es irgendwie… Ich frage mich wirklich manchmal, was in diesen Hinterzimmern besprochen und diskutiert wird, warum man permanent armen Menschen solche Daumenschrauben anlegt. Wovor haben die wirklich Angst? Und was würden die niemals vor der Kamera sagen? Aber was ist wirklich in deren Köpfen los?

Jonas:

Also generell, was du alles einreichen musst, an Unterlagen und an Beweisen.

Raul:

Absurd, völlig absurd. Und auch diese Argumentation, die wir jetzt immer häufiger von CDU und FDP hören, wenn sie sagen, ja wir dürften jetzt aber das Bürgergeld aber nicht so hoch machen, weil das wäre dann unfair gegenüber den Menschen, die arbeiten gehen, wo ich denke ja vielleicht ist das Problem, dass die anderen so wenig verdienen. Also warum? Warum framen wir das die ganze Zeit so, auch medial?

Karina:

Warum geht man die ganze Zeit davon aus, dass jeder lügt und betrügt und irgendwie auf Kosten vom Staat leben will? Das macht auch nicht so viel Sinn. Also ich gehe zum Beispiel eigentlich sehr gerne arbeiten. Warum würde ich das aufgeben wollen? Für irgendwie einen Bruchteil von dem Geld für Rente, von dem keiner leben kann, wirklich? 

Jonas:

Ja oder die Tatsache, Raul hast du ja auch schon mal erzählt, dass in regelmäßigen Abständen noch geguckt wird, ob du noch Assistenzbedarf hast.

Karina:

zustimmend, Mhm.

Raul:

Genau das. Also bei meiner Behinderung wäre es absurd, zu glauben, dass ich irgendwann keine Behinderungen mehr habe. 

Jonas:

Hast du die mal gefragt, also ich meine, da kommen ja Leute hin, die dann..

Raul:

Ja klar, und die sagen dann ja, wir müssen das machen. Die sind alle Opfer des Systems. Also das ist denen auch mega unangenehm, oft vor allem die neueren Leute, die diese Aufgaben machen, oft jüngere Leute, die offensichtlich sehen, dass die ganzen Fragebögen, die die haben für ältere Menschen entwickelt wurden und nicht für Menschen, die chronisch krank oder schon lange behindert sind. Wo man dann teilweise auch so erniedrigende Fragen gestellt bekommt, ja wo ich das Ganze am liebsten sofort beenden würde und die Leute aus meiner Wohnung schmeißen würde. Aber..

Jonas:

Aber du brauchst es ja. Das ist eben diese Abhängigkeit. Also weil die Unterstützung ist ja wichtig und nötig und auch in dem Sinne gut. Und man hat uns…

Raul:

Sonst wäre ich nicht hier. Ohne die Assistenz wäre ich nicht in diesem Raum. 

Jonas:

Man sitzt ja nicht am längeren Hebel.

Raul:

Es gibt ja dann oft so die Antwort von Leuten, die sich mit dem Thema Armut beschäftigen: Deswegen brauchen wir ein bedingungsloses Grundeinkommen. Ich finde das auch einen sehr interessanten Gedankengang, also wo ja auch so die Idee ist, wenn der Staat schon so viel Sozialabgaben hat, könnte man das nicht irgendwie an alle Menschen gleichermaßen verteilen. Und dann einfach so eine gewisse Grundlage schaffen, damit niemand in Armut leben muss. Und da gibt es dann einige Menschen mit Behinderung, die Sorge haben, dass damit dann aber letztendlich auch die Kostenübernahme für die Assistenz wegfällt, weil das ist ja eine dieser Sozialleistungen. Aber so wie ich die Expertinnen und Experten der bedingungslosen Grundeinkommen-Bewegungen verstanden habe, sagen die Nein, das sind dann noch einmal Extragelder, die man bekäme, weil Assistenz ist nun mal nicht von Grundeinkommen finanzierbar.

Jonas:

Ja eben. Ich wollte es gerade sagen. Also, wenn das so wäre, im Sinne von, dass du fähig wärst, mit deinem Grundeinkommen deine Assistenz zu bezahlen und dann noch Geld zu haben für den Alltag und so weiter, dieses Grundeinkommen hätte ich auch gerne.

Karina:

lacht, Ja, ich auch. 

Jonas:

Können wir gerne darüber reden. Aber wäre natürlich eine interessante und charmante Lösung, also jetzt nicht das so hohe Grundeinkommen, sondern das Grundeinkommen generell. 

Raul:

Ja.

Jonas:

Aber ich finde, selbst wenn man ja vielleicht auch einen Job hat und ein angemessenes Gehalt, ist es ja auch trotzdem so, dass manche Menschen mit Behinderungen, die vielleicht eine chronische Erkrankung haben, gar nicht voll arbeiten könnten. Also selbst wenn sie vielleicht auch sogar die Möglichkeit hätten, das dann aber einfach auch ja aufgrund ihrer Erkrankung nicht können.

Karina:

Ja, ich meine, darüber mache ich mir irgendwie schon seit ganz vielen Jahren Gedanken, wie ich irgendwie an den Punkt kommen kann, wo ich mit einem Teilzeitjob mein Leben finanzieren kann. Und es geht halt einfach nicht, weil ich nicht genug Stunden hinkriege. Also mal unabhängig von einer chronischen Krankheit selber und dem Mangel an Energie oder halt die Energie, die du bräuchtest, um mehr machen zu können, ist auch der Alltag teilweise so extrem voller mit medizinischen Dingen. Na, also ich habe irgendwie teilweise Monate im Jahr, wo ich wirklich jede Woche zwei Tage quer durch Deutschland reise, um irgendwelche Arzttermine wahrzunehmen. Mit welchem Job wäre das vereinbar, außer wenn ich mir irgendwie Urlaub nehme für Arzttermine und sonst für nichts. Also es ist halt teilweise auch einfach, um meine Lebensqualität möglichst hoch zu halten, muss ich gewisse medizinische Termine wahrnehmen. Und die sind nicht vereinbar mit irgendwelchen regulären Jobs.

Jonas:

Du könntest natürlich, wenn es die Möglichkeit gäbe, aus dem Homeoffice arbeiten. Und dann die Meetings aus dem Wartezimmer heraus, also…

Karina:

lacht, Ja das wäre nett. Mit den Ärzten im Hintergrund.

Jonas:

Natürlich. Beziehungsweise…

Raul:

Aber selbst wenn du eine*n Arbeitgeber*in fändest, die das quasi mitmacht, wie sähe denn die Begrenzung von Staatsseite aus, was dann maximal Vermögen oder Einkommen angeht?

Karina:

Ja, du hast halt je nachdem, welche Art von Erwerbsminderungsrente du hast, einen gewissen Freibetrag. Der ist jetzt seit diesem Jahr, wenn ich mich nicht täusche, deutlich angehoben worden. Also jetzt darf man ein bisschen mehr verdienen. Aber das ist trotzdem halt zur Rente auch einfach nicht genug, um wirklich eigenständig zu leben für die meisten Leute. Und wenn du da halt drüber kommst oder auch nur irgendwie den Anschein machst, als wärst du nicht krank genug, kommt sofort jemand und droht dir damit, das Geld zu streichen. Und das ist halt immer dieses: auf der einen Seite will man ja irgendwie produktiv sein und was mit seinem Leben machen und auf der anderen Seite musst du aber sofort Angst haben, dass dir irgendwer die finanzielle Lebensgrundlage wegnimmt.

Jonas:

Hm, ich habe neulich, weiß nicht wie viele Wochen oder Monate her, den Brief bekommen, wo quasi die eigene Rente kalkuliert wird und dann das Thema ist, wenn ich jetzt so weiterarbeiten würde wie bisher bis zum potenziellen Renteneintrittsalter, also die Zahl, die dort rauskommt, ist ja… also Raul, wie du gesagt hast, altersarmutsmäßig und einfach, so das innerliche Gefühl „Scheiße, ich muss noch mehr arbeiten” oder beziehungsweise “ich muss mehr verdienen, weiterverdienen noch mehr irgendwie tun und machen, um irgendwie die da diesen Zahlenwert zu erhöhen.“ Das ist dann ja auch grundsätzlich, wenn man das Bewusstsein für dieses Thema hat, beziehungsweise einem das einfach generell nur bewusst wird, ein immenser Druck. 

Raul:

Total. 

Karina:

Ja, es macht wahnsinnig Angst. Aber ich glaube, ich verdränge das relativ viel, weil ich gar nicht weiß, was denn nach 60 überhaupt kommt für mich. Beziehungsweise weil ich überhaupt nicht weiß, ob ich bis 60 komme. Aber das ist durchaus schon, also gerade auch, wenn man irgendwie keine Kinder hat und auch sonst vielleicht nicht super viel Familie und irgendjemand, wo man später vielleicht Support findet, sehr angsteinflößend.

Jonas:

zustimmende Geräusche

Grundsätzlich ist mein Gefühl auch, was ich ja anfangs schon gesagt habe, dass dieses Thema eben überhaupt nicht neu ist. Also, über Finanzen redet die Menschheit ja schon seit eh und je und über das Thema Armut aber eher selten. Also es wird irgendwie gesagt, es gibt Armut, aber es ist irgendwie so ein Tabuthema trotz alledem, weil niemand will ja arm sein. Und ich finde irgendwie seltsam, dass es wie so ein Damoklesschwert über allen hängt. Und alle haben irgendwie das so im Kopf ja Altersarmut und Rente ist die sicher? Aber so angegangen wird das eher selten in der Berichterstattung.

Karina:

Ich glaube, es ist ein Thema, das auch mit ganz viel Scham verbunden ist. Also, weil gerade, dass.. Man bekleckert sich jetzt nicht unbedingt mit Ruhm, wenn man sich mit Mitte 30 hinstellt und sagt: “Und ich kriege übrigens Rente, weil ich chronisch krank bin.” Die meisten reagieren da ziemlich nicht so toll drauf und dann auf der anderen Seite ist es aber auch, dass das Framing von Armut, wie du gerade gesagt hast, auch in der Berichterstattung furchtbar schlimm ist. Also, dass es immer dieses “die schwachen Personen, die gerettet werden müssen” ist. Ich weiß nicht, ob ihr das gesehen habt, aber da war die letzten Wochen auf LinkedIn und auf Twitter so ein Video unterwegs, in dem ein blinder Mann in so einem Park auf einer Decke mit einem Schild neben sich saß. Und es hat halt kaum jemand was in seinen Becher geworfen, also kaum Geld reingeworfen. Und dann kam irgendwie so ein Mädchen und hat dann irgendetwas, was man also den kompletten Film durch nicht sehen konnte, auf sein Schild geschrieben. Und auf einmal haben die Leute ganz, ganz viel Geld in seinen Becher geworfen. Und dann war die Auflösung quasi, dass sie aufgeschrieben hatte „it’s a beautiful day and I can’t see it“. Und das fanden ganz, ganz viele Leute super inspirierend. Und  die Community von Menschen mit Behinderungen hat das natürlich komplett zerlegt, als ganz arg ableistisch. Aber das ist halt irgendwie, wie Behinderung und Armut dargestellt wird.

Jonas:

Es ist keine… Aber es ist schon so eine Werbekampagne, oder?

Karina:

Ja, ja, das war irgendeine Werbekampagne für Marketing und PR oder so, aber ziemlich misslungen.

Raul:

Und ich muss auch sagen, deshalb bin ich so ein bisschen geärgert in den Kinofilmen, die man so sieht zum Thema Behinderungen. „Ziemlich beste Freunde“ oder auch irgendwie „die Goldfische“ gehört für mich auch dazu, dass Behinderung und Armut eigentlich so gar kein Thema ist. Also gerade bei „Ziemlich beste Freunde“, ist ja der Hauptcharakter, der im Rollstuhl sitzt, Millionär und kann sich dann natürlich seine Assistenz leisten. Und bei „die Goldfische“ ist der verunfallte Rollstuhlfahrer vorher irgendwie auch Millionär gewesen wahrscheinlich und Bänker oder Aktionär. Das Thema Armut lässt viele behinderte Menschen ja erleben, im Alltag auch komplett ausgeklammert zu werden. Wenn man sagt, man ist reich. Du hast diese ganzen Themen gar nicht. Du hast keine Behördengänge, weil du hast ja Geld. 

Jonas:

Du musst in dem Sinne weniger nachweisen natürlich, du wirst nicht, quasi wenn du reich bist, wirst du eben nicht gefragt…

Raul:

Und in den ganzen Talk-Sendungen, wenn über Armut geredet wird, dann ist jemand, der reich ist, auf einem Podium, wie Wissenschaftler und super selten jemand, der selber betroffen ist. Oder wenn, dann erzählt er oder sie eigentlich die Schicksalsgeschichte und die anderen blicken dann betroffen. Und wir reden relativ wenig über Lösungen und über Forderung, die man auch gesellschaftlich stellen muss.

Jonas:

Und ich finde aber auch, dass während wir bei vielen anderen Themen, die wir auch schon in unseren Podcast-Folgen besprochen haben, vielleicht auch ja selber etwas ändern kann. Also quasi vielleicht entdeckt, dass man ein ableistisches Verhalten hat oder diskriminierend agiert, zum Beispiel durch Sprache oder durch den Umgang miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung, finde ich, dass es so bei diesem Thema es ein großes, strukturelles Thema ist und so ein so einen Missstand, den man selbst jetzt quasi als Einzelpersonen gar nicht lösen kann. Es wird einem quasi immer so suggeriert nach dem Motto, dass man das selber in der Hand hat, ob man arm oder reich ist, wie du anfangs schon gesagt hast, das so ja, wenn du wenig Geld hast, dann streng dich mehr an oder geh mehr arbeiten oder geh erstmal arbeiten. Das ist ja auch irgendwie so was, was dann so ein bisschen gerade beim Thema Behinderung so ein bisschen skurril ist, weil viele Unternehmen Menschen mit Behinderungen gar nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt anstellen und man trotzdem aber von außen immer so gesagt bekommt ja „arbeiten gehen und Geld verdienen, das ist die Lösung gegen Altersarmut oder generell gegen Armut.“ Ja, aber dass man so als Einzelperson das komplette Konstrukt natürlich irgendwie nicht ändern kann, sondern es ja auf politischer Ebene angepackt werden muss. Oder?

Karina:

Ja, ich kann hier mal sagen, was in der UN-BRK steht. Zum Beispiel sagt die, dass Menschen mit Behinderung ein Recht auf einen angemessenen Lebensstandard haben und dass der quasi gewährleistet werden muss. Und zwar steht da auch noch drin, dass insbesondere Frauen und Mädchen und auch ältere Menschen mit Behinderungen einen Zugang zu Programmen für sozialen Schutz haben müssen und Programmen zur Armutsbekämpfung und das in Armut lebenden Menschen mit Behinderungen und ihren Familien der Zugang zu staatlicher Hilfe und zu behinderungsbedingten Aufwendungen, was auch Schulungen, Beratungen, finanzielle Unterstützung, Kurzzeitbetreuung betrifft zu sichern ist. Also das ist zumindest, was die UN-BRK fordert, was politisch passieren muss. 

Jonas:

Ist auch interessant im Sinne von der Intersektionalität, dass du dann, also sage ich mal, als Mensch mit Behinderung und als Frau mit Behinderungen doppelt diskriminiert wirst.

Karina:

Ja, da gibt es auch ganz spannende Zahlen aus, zum Beispiel anderen Ländern, also wenn man ein bisschen international guckt. In den USA fällt zum Beispiel auf, dass die staatliche Unterstützung sehr viel niedriger ist und gleichzeitig kostet zum Beispiel alles, was medizinische Behandlung ist, sehr, sehr viel mehr. Das heißt, dass Menschen mit Behinderung oder gerade Leute mit multiplen Diskriminierungsmakern halt einfach der Zugang zum Gesundheitssystem total verwehrt wird. Dadurch werden die kränker, dadurch sind sie häufig ärmer. Und das ist halt ein Teufelskreis, aus dem man irgendwie einfach nicht mehr rauskommt. Da leben Frauen oder behinderte Frauen im Schnitt doppelt so oft in Armut wie Frauen ohne Behinderung. Und da ist jede vierte Frau im arbeitsfähigen Alter von Armut betroffen.

Jonas:

Hm, Wahnsinn. Also, das mag man sich so gar nicht vorstellen.

Karina:

Ja, und jede zehnte sogar trotz Arbeitsverhältnis. Das ist auch eigentlich krass.

Raul:

Und inwieweit, kannst du das sagen, ist das in den Staaten ein Thema? Also wird das diskutiert, gibt es Bestrebungen auch von den Konservativen, das zu ändern? Oder ist jeder ist seines Glückes Schmied?

Karina:

Äh nö, die sind ja eher so, haben eher ein individualistisches System, sodass jeder mehr oder weniger für sich selbst vom Tellerwäscher zum Millionär wird, und so. Also da gibt es jetzt nicht so viel soziales Netzwerk, so wie in Deutschland zum Beispiel.  Also was das angeht, haben wir dann doch durchaus ein paar Privilegien.

Raul:

Das heißt, es wird dann eher schlimmer da drüben.

Karina:

Würde ich sagen. Also mein Eindruck zumindest, meine persönliche Meinung.

Jonas:

Wir haben im Vorfeld dieser Podcast-Aufnahme mit unserem ehemaligen Kollegen und jetzt Mitglied des niedersächsischen Landtages Constantin Grosch gesprochen und haben ihn mal gefragt, was sich denn aus politischer Sicht ändern müsste, was für Stellschrauben gedreht werden müssten, damit Menschen mit Behinderungen weniger von Armut betroffen sind oder von Armut bedroht sind.

Constantin Grosch:

Um Armut für Menschen mit Behinderung möglichst zu vermeiden, ist es aus meiner politischen Perspektive natürlich am wichtigsten, zunächst einmal für Bildungsgerechtigkeit und Teilhabe auf dem Arbeitsmarkt zu sorgen, weil es nach wie vor selbstverständlich die beste Armutsvermeidung ist, wenn man selbst für das eigene Einkommen sorgen kann. Dort haben wir ein enorm großes Defizit in Deutschland. Dazu zählt im Übrigen aber auch das Einkommen, was beispielsweise in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen erarbeitet wird. Auch ein solches muss angemessen sein ohne zusätzlich noch auf weitere staatliche Hilfen wie Grundsicherung beziehungsweise Bürgergeld zurückgreifen zu müssen. Dort brauchen wir auf jeden Fall eine Dynamisierung, nämlich dahingehend, dass auch die Entlohnung in diesen Werkstätten sich nach qualitativen Standards richtet, nämlich den Standards die eine Werkstatt zu erbringen hat. Und auf der anderen Seite eben dynamisch, sich auch an den Inflationsbedingungen, die wir derzeit eben haben, die es immer wieder gibt, auch anpassen zu können. Auf der anderen Seite glaube ich aber auch, dass wir grundsätzlich eine bessere Absicherung brauchen, was die Zugänge in vielen Sozialsystem angeht. Beispielsweise ist es so, dass viele Unterstützungsmöglichkeiten nur dann erhalten werden können, wenn Voraussetzungen erfüllt werden, wie beispielsweise Nachweis, dass es nur eine vorübergehende oder kurzfristige Einschränkung oder Lebenssituationsänderung gibt. Weil immer wieder davon ausgegangen wird, dass bestimmte Hilfen nur dann gezahlt werden sollten staatlicherseits, wenn sie vorübergehend sind. Und das ist natürlich etwas, was gerade für Menschen mit Behinderungen eine sehr große Problematik darstellt, weil ihre Hürden und Barrieren, weswegen sie vermutlich nicht auf ein vernünftiges Einkommen und damit in einer Armutsschieflage geraten, eben nicht vorübergehend sind.

Jonas:

Das, was ich daran so spannend finde, ist, dass das Problem meistens viel, viel früher schon entsteht oder daran liegt – also quasi das Thema Bildung – Zugänge zu guter Ausbildung und dem Bildungsmarkt, spricht Constantin Grosch ja an. Und da haben wir in Deutschland ein Problem, oder?

Raul:

Ganz offensichtlich. Und das hat ja nicht nur den Marker Behinderung, den es betrifft, sondern auch Menschen, die Migrationshintergrund haben und Menschen, die ein geringes oder gar kein Einkommen haben.

Karina:

Ich habe da vor kurzem tatsächlich auch im Rahmen von der Prüfung von der UN-BRK, da wurde sowohl im Parallelbericht, als auch dann im offenen Dialog in Genf ganz viel darüber gesprochen, dass wir immer noch ganz weit weg sind von dem nicht separierenden System also, das vor allem im Bildungsbereich und im Bereich Wohnen halt Menschen mit Behinderungen immer noch in Institutionen gezwungen werden. Also halt irgendwie im Bereich Bildung in Förderschulen und im Bereich Wohnen in stationären Einrichtungen. Und dass das was ist, wo Deutschland eigentlich seit 2009, also seit der Ratifizierung der UN-BRK, keine Fortschritte gemacht hat. Da ist nichts passiert. 

Jonas:

Ja, ist irgendwie erschreckend in dem Sinne. Und ich finde irgendwie, dass wenn sich nicht frühzeitig etwas ändert im System, wenn quasi ein Mensch mit Behinderung keine Ausbildung bekommt beziehungsweise dann älter wird und in gewissen Lebens- und Arbeitssystemen unterwegs ist, dass das quasi immer dann wieder später Konsequenzen hat, die auch dem Staate irgendwie teuer sind. Also wenn ich einen Mensch mit Behinderung auf Förderschulen zwinge, in Werkstätten für Menschen mit Behinderung zwinge, die Menschen dort in den Werkstätten einen Stundenlohn von 1,35 Euro erhalten, dann noch Grundsicherung bekommen und dann quasi später vielleicht in Altersarmut landen und dann  auch dort wieder aufstocken müssen, das kommt dem Staat ja auch nicht zugute. Also warum erhöht man nicht einfach diese Chancengleichheit oder sorgt in dem Sinne für Chancengleichheit?

Karina:

Ich glaube, da mangelt es irgendwie immer noch an Inklusionsverständnis. Und was in diesen ganzen Berichten auch stand, ist, dass da es halt auch irgendwie Interessen von den Leistungserbringern gibt, die von deren Seite her diese Strukturen erhalten. Also, weil da ja natürlich auch irgendwie Geld involviert ist. Und da die alle zum Umdenken anzuregen, ist anscheinend fast unmöglich.

Raul:

Ich habe so ein bisschen das Gefühl, dass die Politik, wenn man es so in Anführungsstrichen sieht, deswegen die UN-Behindertenrechtskonvention, sage ich jetzt mal, ignoriert. Die hat ja sogar ein Statement jetzt die letzten Tage rausgehauen, weil sie gesagt haben „ja ist doch alles super eigentlich“, weil es keine Konsequenzen gibt. Also da wird ja niemand vom aktuellen Regierungsapparat ins Gefängnis gesteckt. Deutschland wird nicht bestraft, muss keine Strafzahlungen zahlen, sondern es ist nur ein Imageverlust vielleicht im Vergleich zu anderen Ländern. Aber es wird quasi nicht vernünftig sanktioniert.

Karina:

Ja, weil es keine internationale Stelle gibt, die das verfolgt und deswegen kriegen eigentlich alle irgendwie nur so ein.. naja halt ein “macht das mal besser”. Und weil das auch so schwammig formuliert ist, weil jeder nur das tun muss, was in deren Rahmen und mit deren Ressourcen möglich ist, kann man sich da halt auch ganz leicht rausreden und sagen: “Naja, das ist halt das, was hier in Deutschland möglich war”, obwohl es offensichtlich Käse ist.

Raul:

Obwohl, wenn ich das richtig verstehe, haben ja UN Konventionen, also UN- Behindertenrechtskonventionen Verfassungsrang. Also ich könnte sie auf Bundesebene einklagen. Aber auch da scheint es auch in der Jura-Welt noch viel Bedarf zu geben, was auch Aufklärung angeht, was genau die UN-BRK sagt und dass Inklusion nicht gleich Integration ist und dass Behinderungen nicht Charity bedeutet. Also da wäre auch noch eine Menge zu tun, in der Fortbildung und Weiterbildung von Anwält*innen und Richter*innen.

Jonas:

zustimmend, Mhm.

Karina:

Es gibt auch Individualbeschwerdeverfahren, also die behinderte Menschen selbst nutzen können, wenn sie einen Verstoß gegen die UN-BRK feststellen, zum Beispiel in Form von Diskriminierung. Da kann man sich an den UN-Ausschuss in Genf wenden, aber nur, wenn man vorher in Deutschland den Rechtsweg ausgeschöpft hat. Was offensichtlich eine sehr große Hürde ist.

Raul:

Und Sternzeichen Aszendent sowieso hat.

Jonas:

Der Rechtsweg kostet natürlich auch wieder Geld. 

Raul:

Guter Punkt und die Sozialrechtsthemen leider auch juristisch viele Anwälte sehr unattraktiv finden, weil man damit relativ wenig Geld verdienen kann. Also wir merken das Thema ist sehr komplex und irgendwie auch so ein bisschen geprägt von Hoffnungslosigkeit. Zumindest ist das ein Gefühl, dass ich gerade habe. Und während ich aber darüber nachdachte, habe ich mich gefragt, vielleicht machen wir mal eine Folge zur Frage: Wie gehen eigentlich andere Länder mit dem Thema Behinderung um? Sind in anderen Ländern behinderte Menschen auch arm, von Armut so stark gefährdet wie in Deutschland? Und ich meine jetzt mit anderen Ländern, die auf ähnlichem Entwicklungslevel wie Deutschland, also Kanada, Schweden, Spanien, Italien. Ist das Thema überall gleich? Und vielleicht auch mal so zu erzählen, was ist anders. Und was können wir von diesen Ländern lernen, um die Situation für alle Menschen besser zu machen?

Jonas :

Absolut. Alles das, was wir heute in dieser Folge besprochen haben, findet ihr natürlich in unseren Shownotes auf www.dieneuenorm.de. Die Folge jederzeit hören könnt ihr in der ARD Audiothek. Und wir freuen uns dann, wenn ihr auch beim nächsten Mal wieder mit dabei seid. Bis dahin, tschüss.

Karina:

Tschüss.

Raul:

Tschüss.

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