Angry Cripple – Transkript

Lesezeit ca. 17 Minuten

Die Neue Norm: Eine Sehbehinderung, zwei Rollstühle, drei Journalist*innen

Judyta Smykowski, Jonas Karpa und Raul Krauthausen sprechen über Behinderung, Inklusion und Gesellschaft

Folge 6: Angry Cripple 

„Entschuldigung, ich sehe, Sie kommen da gerade die Stufen nicht hoch, soll ich Sie da hochtragen?“
„Nein, nein, ich kann das allein!“
„Ja, aber ich wollte Ihnen doch nur helfen. Warum denn nicht?“
„Ahhrrgg…“

Jonas:
Herzlich willkommen bei Die Neue Norm, dem Podcast.
Unsere letzte Folge, die kam ja etwas früher, denn es war Diversity Day. Ein Tag, wo wir die Vielfalt in diesem Land feiern und… ja, hochhalten und zeigen, wie schön und vielfältig und divers unser Land ist. Und ja, es ist nicht so ein wirklicher Tag, um Kritik anzubringen, was vielleicht nicht so klappt. In unserer heutigen Folge möchten wir darüber sprechen, warum Menschen mit Behinderung häufig als die gesehen werden, die sehr wütend, ja, angry sind. Das Thema ist Angry Cripples. Was ist das überhaupt? Und, sind Menschen mit Behinderungen die, die immer den Finger in die Wunde legen, immer sich beschweren und immer alles negativ sehen. Darüber spreche ich mit Judyta Smykowski und Raul Krauthausen.

Judyta & Raul:
Hallo… Hallo

Jonas:
Ich hoffe, Ihr seid nicht ganz so böse… und eher froh darüber, dass wir wieder gemeinsam an einem Tisch sitzen.

Judyta:
Ja…

Jonas:
Aber Gott sei Dank im Mindestabstand, also nicht in Schlagweite zu diesem Thema.

Raul:
In Corona-Reichweite…

Jonas:
Ja,sehr schön! Ja, Angry Cripples – ein Begriff, der erstmal relativ schwer vielleicht zu übersetzen ist, also, wenn man das ins Deutsche übersetzt würde: wütende Krüppel, zornige Krüppel.

Judyta:
Es ist erst einmal das Wort Krüppel, wo wir natürlich vielleicht ein bisschen zusammenzucken, weil es ja ein Wort ist, was man eher nicht benutzen sollte. Aber es ist auch ein sogenanntes Trotzwort, das heißt, die Menschen mit Behinderungen haben es sich angeeignet, benutzen es als Selbstbezeichnung. Und das ist auch ganz wichtig zu sagen. Also, wirklich nur die betroffenen Menschen können es benutzen. Und es geht auch in der Geschichte darauf zurück, dass es ein sogenanntes Krüppel-Tribunal gab und auch eine Krüppel-Bewegung. Also, es ist auch ein politischer Begriff. Natürlich vorher jahrhundertelang als ein Schimpfwort benutzt, als etwas zu definieren, was irgendwie schlechter ist, was nicht so gut ist, was es natürlich heute immer noch ist. Es ist es auch ein Schimpfwort. Aber wir meinen hier die politische Dimension. Und das mit dem angry, das hat Raul recherchiert.

Raul:
Ja, ich würde sagen, Angry Cripples könnte man vielleicht auch so ein bisschen übersetzen mit „der verbitterte Behinderte“ oder „der verbitterte Krüppel“, der ja oft auch medial gezeichnet wird. Oder wie ich öfter mal erzählt bekomme von Menschen ohne Behinderung, dass sie überrascht sind, wie fröhlich ich sei, im Vergleich zu vielen anderen Menschen mit Behinderungen, die sie mal so getroffen hätten. Und ich habe mir die Frage gestellt, was meint eigentlich diese Verbitterung? Wo kommt es her? Was bedeutet diese angryness, also die Wut? Oder was bedeutet angryness oder angry? Und habe dabei festgestellt, dass man unterscheiden kann zwischen zwei Zuständen: Also, anger kann sowohl Wut bedeuten, aber auch Zorn. Und der Angry Krüppel ist vielleicht eher jemand, der wütend ist, also dessen Frustration eine… ja, eine ungerichtete Kraft sein kann, die einfach zu einer Art von Verbitterung führen kann. Wohingegen der Zorn natürlich nachvollziehbar ist, beziehungsweise auch die Wut dahinter, die Motive dahinter. Und beim Zorn ist es so, dass man dann sagt, okay, ich versuche, gegen die Missstände, die mir tagtäglich begegnen, anzukämpfen und dann letztendlich dann auch zu richten die Wut, die ich habe gegen einen bestimmten Missstand, wie zum Beispiel Barrieren im Alltag. Aber wir reden ja heute über den Begriff Angry Cripple und wollten einfach mal so ein bisschen auch aufzeigen, was so die Ursachen sein können für diese Verbitterung oder angryness.

Jonas:
Aber ich finde es sehr schön, dass du auch gesagt hast, dass es häufig so auch als lebensfroh gesehen wird. Ist das vielleicht auch der Gegenpol, dass man ja auch häufiger über Menschen mit Behinderungen sagt, auf der einen Seite, sie sind so lebensfroh und auf der anderen Seite, werden sie halt dargestellt als die, die immer herummeckern und für die immer so viel gemacht werden muss und die so die Gesellschaft belasten. Und ja, also voll mit negativen Aspekten.

Raul:
Also, ich glaube, dass gerade bei Menschen mit z.B. Trisomie 21, denen ja nachgesagt wird, dass sie ja so fröhlich seien und so glücklich und so ehrlich. Das sind sicherlich Vorurteile, die ja auch aus einer gewissen Unbeholfenheit herauskommen. Menschen mit Glasknochen unterstellt man aber auch oft, dass sie so niedlich sind. Und mit der Niedlichkeit steckt dann natürlich auch eine gewisse Fröhlichkeit zusammen. Und wenn dann einmal jemand, der niedliche aussieht lacht, dann wirkt das wahrscheinlich doppelt stark, wie wenn jemand, der nicht so niedlich aussieht lacht.

Jonas:
Auch so knuffig, ne…

Judyta:
Aber ich kann das Wort Lebensfreude auch nicht mehr… oder, ja, lebensfroh, nicht mehr leiden. Weil es ist auch so ein verbrauchtes Wort, ein Wort auch von nicht behinderten Menschen, die das immer anlegen an die behinderten Menschen. Was auch wieder die Erwartungen sozusagen wiederspricht, so, man hat wahrscheinlich das Bild von jemandem, also eines behinderten Menschen, was, ja, nicht so fröhlich ist, der die ganze Zeit leidet. Und deswegen sagt man das wahrscheinlich eher.

Raul:
Aber wie sind denn z.B. eure Erfahrungen im Bereich Verbitterung? Also, wann hatten ihr das letzte Mal so richtig das Gefühl… Alter Vatter, jetzt reicht es aber!

Judyta:
Bei mir war es so, als ich meinen Führerschein gemacht habe, habe ich das natürlich mit Handgas gemacht, weil ich ja die Füße dazu nicht benutzen kann. Und da musste ich vorher zum Arzt und eine Eignung mir abholen – dafür auch bezahlen – also ein Attest bezahlen, das mir irgendwie so eine gewisse Fahreignung attestiert. Und dieses Attest oder das Gespräch mit dem Arzt hat nur fünf Minuten gedauert, was irgendwie eine komische medizinische Untersuchung ist, wenn es nur fünf Minuten dauert und dass ich das überhaupt machen musste. Sozusagen, dass ich irgendwie einen Wisch haben musste, der sagt, ich darf mein Führerschein machen.

Jonas:
Ist das dann eher psychologisch gewesen oder… Also, ich meine, dass man irgendwie, wenn es jetzt wirklich darum geht, wie man gewisse Gliedmaßen bewegen kann, ist ja das eine. Aber…

Judyta:
Na, das ist ja klar, dass ich mit meinen Füßen nicht das Gaspedal betätigen werde, sondern mit den Händen fahren werde. Und deswegen war es eher auch psychisch, ja.

Jonas:
Okay, ich finde es so interessant, weil, wenn du sagst, Führerschein… Bei mir war es damals, als ich den Führerschein gemacht hatte, als ich noch gut sehen konnte, beziehungsweise auf einem Auge war es schon nicht mehr so ganz… Aber das hat man natürlich festgestellt im Rahmen des normal üblichen Sehtests, den man ja vor dem Führerschein hat. Und das wird quasi vermerkt und hatte dann zur Folge, dass ich alle zwei Jahre zur Kontrolle musste und dann auch ein Gutachten erstellt werden musste. Das dauerte dann immer relativ lange, also quasi, ja, fast 40 Minuten. Also nicht nur erkennen, welche Zahlen auf der Tafel sind, sondern auch das räumliche Sehen, es wurde geguckt, ob man Farben erkennen kann. Wie kann man Sachen erkennen bei Gegenlicht und so weiter, also relativ lange. Kostet ja dann auch immer 80/90 Euro – alle zwei Jahre. Wo ich mich dann damals schon aus der Sicht eines Nichtbehinderten, ja, mich immer geärgert habe und mich gefragt habe, okay, wenn ich jetzt gut sehen könnte und dann irgendwann im Laufe meines Lebens passiert irgendetwas, und das kriegt ja kein anderer mit, dann krieg ich den Führerschein. Dann wäre alles in Ordnung. Also, quasi alte Menschen in dem Sinne, wo ja auch noch häufig die Diskussion ist in der Gesellschaft. Warum dürfen ältere Leute mit 90/Mitte 90 noch Auto fahren, ohne dass irgendein Test gemacht wird, fand ich dann schon, ja, sehr komisch. Raul, was war es bei dir?

Raul:
Also, ich hab das Gefühl jetzt nicht auf ein Ereignis in der Vergangenheit liegen, sondern es kommt bei mir wirklich alle drei Monate. Spätestens dann, wenn Behördenpost bei mir im Briefkasten liegt. Wo dann der Puls steigt, wenn das Sozialamt mir geschrieben hat oder die Krankenkasse. Weil ich genau weiß, dass da wieder ein Misstrauen im Anmarsch ist, ich wieder irgendwelche Gehälter offenlegen soll oder irgendwelche Kontoauszüge einreichen soll. Und ich die ganze Zeit das Gefühl habe, man glaubt mir meine Behinderung nicht, beziehungsweise den Unterstützungsbedarf. Und diese Hilflosigkeit, die dann damit verbunden ist, dagegen nie in meinem Leben etwas tun zu können, macht mich wütend und auch traurig und hilflos. Und irgendwie merke ich auch zunehmend die Verbitterung, dass man an diesem Zustand wenig ändern wird und auch wenig ändern kann. Und als ich die „Sozialhelden“ damals mit ein paar Freunden gegründet habe, ich wesentlich naiver war in der Vorstellung, für die Rechte behinderter Menschen einzutreten. Und je älter ich werde, gleichzeitig auch merke, dass ich immer ungeduldiger werde, was die Rechte behinderter Menschen angeht und wie die mit Füßen teilweise noch getreten werden, ständig man eigentlich nur noch Abwehrkämpfe führen muss gegen Verschlechterung. Und das, dass macht mich inzwischen auch… jetzt nicht im massiven Ausmaß, aber schon zunehmend mürbe. Und möchte vielleicht noch anschließen, dass diese Verbitterung weniger damit zu tun hat, dass ich selber eine Behinderung habe, weil mit der komme ich klar. Sondern es geht meistens – und das ist auch das, was ich in meinen Recherchen herausgefunden habe – meistens um Umstände von außen. Also Barrieren, die einem in den Weg gestellt werden. Hürden. Misstrauen. Wieder irgendwo nicht reingelassen zu werden, wieder irgendwo nicht mitmachen zu können. Und wenn man das einfach ein Leben lang erlebt, Menschen unterschiedlich resilient auch mit diesen Situationen umgehen und dann früher oder später eine Verbitterung eintreten kann. Die gibt es ja auch bei Menschen ohne Behinderung, die sogenannten Grumpy Old Men. Das kommt ja auch wahrscheinlich, wenn man zu viel in seinem Leben erlebt hat, an Rückschlägen oder Widerständen, dass man dann vielleicht auch grumpy wird.

Jonas:
Ich finde es ganz interessant, was du gesagt hast, mit dem Misstrauen. Also, als ich meinen Schwerbehindertenausweis dann beantragt habe, wurde ja auch dann… dass du das erste Gutachten brauchst und immer wieder dann die Frage war „Können Sie das Sehen?“ und du sagst „Nein!“… Und dann „Probieren Sie doch noch mal“ und du sagst „Nein, es funktioniert nicht!“ Und ja, dass du irgendwie das Gefühl hast, okay, ich bin doch Experte in eigener Sache! Also, ich weiß doch am besten, was ich kann, was ich nicht kann und wo ich Hilfe benötige. Gleichzeitig finde ich aber… jetzt im Alltag ist häufig auch so, dass einem so… ja, dass man in so Momente kommt, wo man sich eigentlich vielleicht auch aufregen könnte oder wollen würde, aber man ja gerade in einer Position ist, wo man etwas möchte. Heißt also, wenn ich in einem Museum gehe oder irgendwohin und eine Begleitperson mitnehmen möchte, dass dann einfach ohne mich zu fragen… und ich dann den Schwerbehindertenausweis schon einsetzen möchte, um diese Begleitperson mitzunehmen. Dass dann, ohne dass ich gefragt werde, mir dieser Ausweis abgenommen wird, um das zu kontrollieren. In manchen Einrichtungen wird er sogar kopiert für deren Akten, damit die das irgendwie abrechnen können, dass sie eine Freikarte verteilt haben und so… wo ich eigentlich am liebsten auf den Tisch hauen würde und sage „Nein, das geht nicht!“. Aber du möchtest ja etwas von denen, du möchtest in das Museum rein. Also quasi nimmst du dich dann er zurück und sagt eher… ja, also…

Judyta:
Habt ihr eigentlich einen lebenslänglichen Schwerbehindertenausweis, also unbefristet?

Raul:
Yo, Men… ja, meiner ist unbefristet!

Judyta:
Und deiner?

Jonas:
Ja, meiner auch…

Judyta:
Meiner nicht!!!!

Jonas:
Warum nicht?

Judyta:
Oh, mein Gott!

Jonas:
Ja, weil du irgendwann aufstehst und hier aus dem Büro gehst!

Judyta:
Ja, ne? Ja, irgendwann kommt die Heilung…

Raul:
Was mich mal richtig geärgert hat, da war ich im Kino, und da wollten die für die Begleitpersonen eine Unterschrift von mir oder der Begleitperson.

Judyta:
Ja, das hab ich auch schon mal erlebt…

Raul:
Warum? Was macht die dann damit? Wird da jetzt belegt, per Eidesstatt, das die Person wirklich meine Begleitperson ist? Und was wäre, wenn die Person eine andere Unterschrift macht? Was wäre, wenn irgendjemand unterschreibt? Also, was wird denn damit gewährleistet?

Judyta:
Keine Ahnung.

Jonas:
Ja, aber es ist dann wirklich die Frage, okay, in welchen Situationen dürfen sich Menschen mit Behinderung aufregen? Echauffieren? Dürfen sie ein Angry Cripple sein. Und ja, wo ist es wirklich angemessen? Weil ich habe manchmal das Gefühl, dass das von außen gar nicht so verstanden wird, dass man sich eben nicht darüber aufregt, dass man jetzt eine Behinderung hat oder so, sondern dass es quasi um viel mehr geht. Also um die Diskriminierung, um die Barrieren. Ich fand ihn wie ein Beispiel, was mir dort einfällt, dass wir vor einigen Wochen bei uns auf DieNeueNorm.de einen Kommentar veröffentlicht haben zu dem Video Männerwelten von Joko und Klaas. Joko und Klaas haben in einer Show gegen ProSieben, wo sie ein paar Spiele machen – diese Spiele haben sie gewonnen – und haben damit 15 Minuten Sendezeit bekommen und haben diese Sendezeit genutzt, um auf sexualisierte Gewalt gegen Frauen aufmerksam zu machen. Es ist ein wirklich wichtiges Video und auf jeden Fall auch sehenswert in dem Sinne. DieFrauen, die ihre Geschichte erzählen, sind halt jetzt nicht wirklich vielfältig, sind meistens weiße, nicht behinderte Frauen. Und wir haben einen Kommentar veröffentlicht, der das eben auch in Frage stellt. Und wiederum unter unserem Kommentar gab es dann viele Kommentare nach dem Motto „Ey, was habt ihr gegen das Video? Das Video ist doch gut. Warum beschwert ihr euch jetzt auch noch?“

Judyta:
Ja, genau! Aber darum geht es halt nicht. Ja, also, wir haben das Video nicht kritisiert, sondern haben halt kritisiert, dass Frauen halt auch vielfältig sind. Und da mussten wir schon wieder sozusagen sagen: Behinderte Menschen waren schon wieder nicht Teil des Ganzen, Teil dieses Diskurses. Wobei man auch sagen muss, dass Frauen mit Behinderungen noch mal stärker auch betroffen sind von der Gewalt. Das wird dabei halt nicht berücksichtigt.

Raul:
Und ich glaube auch, dass ein Teil der Verbitterung dann berechtigt ist, wenn nicht nur sie wieder vergessen werden, die Menschen mit Behinderung. Bei Videos, bei Entscheidungen, die wichtig sind, die viele Menschen betreffen, sondern auch, wenn über sie gesprochen wird. Also, wenn vermeintliche, selbsternannte Expert*innen, in dem Fall Pfleger*innen, oder Eltern oder Politiker*innen sich das Recht herausnehmen, über Menschen mit Behinderung zu sprechen und zu urteilen und sie dann alle über einen Kamm zu scheren, ohne ein einziges Mal mit einem Experten in eigener Sache – nicht mit irgendeinem Menschen mit Behinderung, sondern mit jemandem, der sich vielleicht auch mit Behinderung in diesem Bereich auskennt – mal gesprochen zu haben. Und das merkt man dann eben sehr häufig. Und im englischen oder amerikanischen Kontext liest man dann eben oft auch die Forderung, dass die sogenannten Betreuenden wirklich mal zur Seite treten sollten und die Menschen mit Behinderung selber sprechen sollten und nicht immer über sie gesprochen werden darf.

Judyta:
Eine andere Sache ist auch die, dass, wenn man diese Hilfssituation hat, auf dem Bahnhof oder wo auch immer und man dann vielleicht schlecht gelaunt ist und die Hilfe eines nicht behinderten Menschen ablehnt und vielleicht ein bisschen forscher ist, ist es gleich so „Oh, die Behinderten sind immer so aggressiv, und die wollen meine Hilfe nicht.“ Und da sind wir wieder in dieser Gruppierung, dass wir immer für eine Gruppe gehalten werden. Und wenn man dann einmal irgendetwas entgegenfaucht, dann hat man sozusagen für alle anderen es verbaut. Das spielt ja auch mit einer Rolle. Aber ich würde mir so sehr wünschen, dass wir da differenzieren, dass jeder mal einen schlechten Tag hat, jedem mal irgendwie eine harsche Antwort entgegenprallen kann.

Raul:
Wo du gerade die Situation „Bahnhof“ erwähnst…

Jonas:
Eine never ending story…

Raul:
Einen eigenen Podcast Bahnhof/Behinderung…

Judyta:
Genau…

Raul:
Aber wo du gerade das Thema Bahnhof erwähnst: Es gibt für mich auch noch einen Anlass der Verbitterung, nämlich dann, wenn so getan wird, dass, jemandem zu helfen, gleichwertig ist, wie etwas selbständig zu tun. Also, wenn ich Hilfe dabei brauche, um in einen Zug einzusteigen, ist das etwas anderes, als wenn ich selbstständig in den Zug einsteigen könnte. Angenommen, der Zug wäre barrierefrei, und ich könnte jederzeit rein und raus waren, wann ich will, ohne vorher eine Hilfeleistung beantragen zu müssen, ohne, dass…

Judyta:
48 Stunden vorher!

Raul:
…jemand dabei hilft oder nicht, das anmelden muss. Das heißt, ich kann nicht spontan sein. Diese Abhängigkeit und diese fehlende Spontanität kann dann eben auch zur Verbitterung führen, wenn andere immer sagen „Aber wieso? Es geht doch!“ Also, ich kann nicht mal eben schnell zur Bahn hechten, wenn ich spät dran bin. Oder ich kann nicht mal eben spontan entscheiden „Hier sieht es schön aus, hier steige ich aus!“. Und das ist, glaube ich auch, wenn Leute sagen, „Naja, stell dich nicht so an, immerhin kannst du Zug fahren!“ – wird es dem nicht gerecht. Und dann kann ich auch Verbitterung oder Wut empfinden. Und das entlädt sich bei mir immer dann, wenn ich das Gefühl habe, man versteht mich nicht.

Judyta:
Ja, oder beziehungsweise man bevormundet dich vielleicht auch in einer Art und Weise… zum Beispiel, ich würde gerne viel mehr Schlösser besichtigen. Kann es aber nicht aufgrund meines Rollstuhls. Und wenn dann Leute, die ist gut meinen, wirklich, das muss man dazu sagen, sie meinen es wirklich gut, und mir dann Fotos davon zeigen und sagen „Ja, ich war da aber und wir können uns das angucken!“ So, und dann fühlen sie sich besser. Aber ich habe es trotzdem nicht gesehen. Ich war trotzdem nicht da. Ich möchte trotzdem in dieses Schloss.

Raul:
Wir können ja gerne mal in ein Schloss/Schlüsselfachgeschäft gehen und uns Schlösser ansehen…

Judyta und Jonas: lachen

Jonas:
Aber ist es nicht so, dass dies „gut gemeint“ auch häufig eine – was wir eben gesagt habe – ein Sache ist, dass Menschen ohne Behinderung ja glauben, dass sie sehr viel und sehr viel Gutes für Menschen mit Behinderung tun. Es gibt ja extra Schulen, es gibt extra Arbeitsplätze, es gibt extra Fahrdienste, es wird doch… es wird doch soooo viel für Menschen mit Behinderungen gemacht. Warum regen die sich so auf?

Judyta:
Ja, das Problem ist das Wort EXTRA. Ja, ich finde, wir sollten da auch ins Gespräch kommen. Also, wie ich gerade meinte, dass, wenn es nicht böse gemeint ist… trotzdem kann man ja darüber sprechen. Also trotzdem kann man ja ins Gespräch gehen und sagen „Gut gemeint, aber das sind nicht meine Bedürfnisse“ oder „Ich fühle mich hier trotzdem bevormundet.“

Raul:
Na klar, bei dem Wort EXTRA steckt irgendwie auch das Wort Exklusion für mich drin, weil, wenn man sagt, es gibt ja extra Schulen für die Behinderten, dann ist das eben das Gegenteil von dem, was Menschen mit Behinderungen seit Jahrzehnten fordern, nämlich die Teilhabe an der Gesellschaft. Und zwar nicht in EXTRA-Schulen, sondern in den Schulen, in denen alle anderen auch sind und diese ständige Extrawurst eigentlich dazu führt, dass das wieder zu etwas Besonderem gemacht wird, was Menschen mit Behinderung oft gar nicht sein wollen.

Judyta:
Und Nichtbehinderte können sie sich dann wieder ausruhen sozusagen – dass sie eine extra Lösung geschaffen haben.

Raul:
Genau! Und um genau da anzuschließen: Was mich halt an dem Punkt dann auch auf die Palme bringt ist, dass gesagt wird „Na ja, wir haben uns auf den Weg gemacht, was Inklusion angeht. Und was wollt ihr denn noch alles?“ und so weiter. Und dann denke ich so: Alter! Wir leben im 21. Jahrhundert. Wir können Raketen bauen, die zum Mond fliegen und danach wieder zurück und sogar auf dem Wasser landen können. Wir können Dinge tun, wo wir vor 20 Jahren gedacht hätten, dass wird niemals möglich sein. Und beim Thema Behinderung haben wir uns jetzt aber gerade erst auf den Weg gemacht. Und, als ob wir wie aus dem Nichts aus Erdlöchern aufgetaucht wären und jetzt irgendwie plötzlich zu Hunderttausenden an der Gesellschaft teilhaben wollen.

Judyta:
Wie so Erdmännchen.

Raul
Genau!

Jonas:
Auch knuffig!
Raul:
Was passiert ist eigentlich, dass man, wie du sagst, Menschen mit Behinderung gesellschaftlich eher nicht unbedingt im Alltag haben möchte und das auch geht, weil es rechtliche Situationen, Menschen mit Behinderung nicht ermöglicht, ihre Rechte einzuklagen. Ja, wir warten! Es gibt ständig Lippenbekenntnisse von Politiker*innen, die sagen „Ja machen wir irgendwann mal.“ Nach wie vor sind öffentliche, private Gebäude nicht zur Barrierefreiheit verpflichtet.

Jonas:
Wir müssen ja erst die Barrieren in den Köpfen abschaffen.

Raul:
Genau! Diese senken der Barrieren in den Köpfen ist eine völlig grundfalsche Annahme, weil es geht nicht darum, dass mein Nachbar mich mögen muss, ob ich verbittert bin oder nicht. Es geht darum, dass ich das gleiche Recht auf Zugang zur Gesellschaft haben muss, wie mein Nachbar oder meine Nachbarin ohne Behinderung. Und solange das nicht der Fall ist, kann ich nachvollziehen, dass Menschen verbittern und dann zu sogenannten Angry Cripples werden. Aber, um jetzt wieder den Servicecharakter dieser Sendung hoch zu halten… Wie geht man denn jetzt mit Menschen um, die angry sind?

Jonas:
Ich glaube, das Wichtigste ist, erstmal Zuhören. Also quasi verstehen, dass die angryness in dem Sinne ja erstmal dem Zustand geschuldet ist, auf diese Barrieren und auf diese Diskriminierung zu treffen und auf das, dass man es immer wieder gesagt hat und man sehr, sehr lange nicht gehört wurde. Was im geringsten Fall mit der Person zu tun hat, auf die man gerade in dem Moment trifft, sondern auf ein gesamtgesellschaftliches Problem in dem Sinne. Und ja, dass die Leute nicht ihre eigene Behinderung überwinden möchten, sondern eben die Barrieren überwinden möchten und diese Diskriminierung abschaffen möchten. Und dass auch dieser Vorgang an sich jetzt kein wahnsinnig neues Phänomen ist. Also, wenn man guckt, die Frauenbewegung damals ist ja ähnlich gewesen. Wo man auch gesagt hat, nicht jede Frau, die für Frauenrechte eingetreten ist, die den Feminismus hochgehalten hat, ist angry auf Männer oder eine Männerhasserin.

Raul:
Ich denke auch, dass es erst mal darum geht Zuzuhören. Das auszuhalten, dass es Menschen gibt, die einfach mit den Umständen verbittern und dann auch die eigenen Privilegien vielleicht zu sehen, die man als Mensch ohne Behinderung hat, dass man mal eben spontan mit dem Zug fahren kann, dass man mal eben spontan den Tatort gucken kann und auf Untertitel oder Audiodeskription nicht angewiesen ist. Und diese ganzen Privilegien zu sehen, erleichtert dann vielleicht auch zu verstehen, was wäre eigentlich, wenn ich diese Privilegien nicht hätte? Und wie würde ich dann reagieren?

Jonas
Genau! Einfach mal die Perspektive zu wechseln. Also, wie würde ich mich verhalten in einer anderen Situation? Vielleicht etwas schwierig, aber…

Raul:
Und nicht dem Narrativ zu verfallen, immer zu sagen „Wir haben doch alle ein Päckchen zu tragen.“ Oder „Ich hatte auch mal so eine Situation.“ Wenn jemand ein Leben lang oder einen sehr langen Zeitraum eine Behinderung hat und ständig auf Barrieren trifft, ist es schon etwas Anderes, als mal für drei Wochen ein Bein gebrochen zu haben.

Judyta:
Das ist genauso, wie wenn man sagt „Ich sehe keine Hautfarben.“ Also, das ist auch eine sehr privilegierte Sicht, jetzt gerade in der Debatte. Denn wir müssen diese Unterschiede sehen, damit wir halt, wie gesagt, uns unseren Privilegien auch bewusst werden.

Raul:
Genau!

Jonas:
Oder die schöne Aussage „Wir haben doch alle in irgendeiner Art und Weise eine Behinderung.“

Raul:
Aber dann haben wir eine mehr!

Judyta:
Dann müssen wir jetzt anfangen, Bullshit-Bingo zu spielen.

Alle lachen

Jonas:
Wir könnten jetzt eigentlich einen typischen Mic Drop machen und unsere Mikros umschmeißen und einfach gehen, weil wir, glaube ich, alles gesagt haben.
Aber ja, das wäre nicht so schön… Wir trinken jetzt einen schönen Beruhigungstee.
Kommen wieder runter und freuen uns, wenn ihr das nächste Mal wieder mit dabei seid.
Die Texte, über die wir heute gesprochen haben und noch weitere Informationen findet ihr auf www.dieneuenorm.de in unseren Shownotes und ihr könnt uns auch gerne auf Twitter und auf Instagram folgen. Und auf Facebook natürlich, um weitere Informationen zu bekommen. Bis zum nächsten Mal!

Alle:
Tschüss!

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