„Wer will schon normal sein?“ – Rezension zur Serie „Simple“ und dem dazugehörigen Roman „Leichte Sprache“ von Cristina Morales

Vier Frauen mit Behinderung sitzen nebeneinander.
Die vier WG-Bewohnerinnen Marga (Natalia de Molina, l.), Àngels (Coria Castillo, 2.v.l.), Nati (Anna Castillo, 2.v.r.) und Patri (Anna Marchessi, r.) genießen einen gemeinsamen Tag am Strand. Foto: Daniel Escale/zdf
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Basierend auf dem Roman „Leichte Sprache“ der spanischen Schriftstellerin Cristina Morales geht es in der Serie „Simple“ um die Frage des autonomen Lebens, um Freiheit und darum, was Normalität bedeutet. Dabei geht die thematische Auseinandersetzung in der Serie und im Roman jedoch weit auseinander. Eine vergleichende Rezension von unserer Autorin Andrea Schöne. 

Worum geht es in der Serie und Buch?

Erzählt wird der Lebensweg Ángels, Nati, Marga und Patri, vier junge Frauen, bei denen Lernschwierigkeiten und verschiedene andere Behinderungen diagnostiziert wurden. Die vier Frauen, die auch miteinander verwandt sind, leben zusammen in einer Wohngemeinschaft in Barcelona, nachdem sie es geschafft haben, den Behinderteneinrichtungen zu entkommen. In der Einrichtung, von ihnen als „Behindertenknast“ bezeichnet, mussten sie jahrelang unter kompletter Kontrolle durch Sozialarbeiter*innen leben. Keine von ihnen will dorthin je wieder zurückkehren. In der Wohngemeinschaft können sie zum ersten Mal eigene Entscheidungen treffen, werden aber immer noch wahllos durch Sozialarbeiter*innen in ihrer Wohnung kontrolliert und in ihrem Leben eingeschränkt. Hier steht besonders die Frage, ob Marga, die nach der Meinung der Sozialarbeiter*innen zu viel Sex hat, zwangssterilisiert werden soll, im Raum.

Wo sind die Unterschiede zwischen Roman und Serie?

Überraschenderweise hat die Verfilmung von „Leichte Sprache“ mit der ursprünglichen Handlung des Romans nicht mehr viel zu tun. Zentral für die Handlung der Serie ist die Frage: Werden es die jungen Frauen schaffen, ihre Wohnung behalten zu dürfen? Dabei werden Nebenfiguren eingeführt, die im Roman gar nicht vorkommen, aber für die Fortentwicklung der Handlung in der Serie eine entscheidende Rolle spielen. So beispielsweise der minderjährige Sohn des Vermieters, mit dem Marga Sex hat. Daraufhin will dessen Vater die vier jungen Frauen aus der Wohnung rausschmeißen. Dieser Handlungsstrang kommt im Roman nicht vor. 

Patri, welche im Roman nur eine Nebenrolle einnimmt und über die wir nicht viel hinsichtlich ihres Lebens und ihrer Entscheidungen erfahren, führt in der Serie eine Beziehung zu einem anderen jungen Mann mit Behinderung, dessen Familie im Umgang mit seiner Behinderung teils sehr ableistisch umgeht. 

Dafür wird ein Großteil der Handlung des Romans in der Serie gar nicht erzählt, die aber für die Entwicklung der Charaktere entscheidend sind. Während Marga in der Serie als sexsüchtig dargestellt wird, wird im Roman ihre persönliche Verarbeitung ihrer Ausgrenzungserfahrungen von der Gesellschaft aufgrund ihres Andersseins als Erklärung für ihren starken Sexualtrieb thematisiert. Zusätzlich tritt Marga hier selbst für sich ein, indem sie sich der Okupa-Szene anschließt und selbst ein Haus besetzt. Damit entzieht sie sich gezielt den Kontrollen durch die Behindertenhilfe.

In der Serie wird angedeutet, dass Nati ihre Behinderung erworben hat, etwa durch Gespräche mit ehemaligen Freund*innen aus der Universität. Zudem hat sie eine professionelle Tanzausbildung absolviert. Ihre Wutausbrüche, in denen sie insbesondere die Sozialarbeiter*innen als „Faschos“ beschimpft, werden in der Serie nicht näher eingeordnet und klingen eher wie wirres Gerede, während im Roman Nati verschiedene Philosoph*innen und politische Denkweisen erläutert, etwa den Bastardismus, dem sie sich zugehörig fühlt und den sie selbst als Konzept entwickelt hat. Dieses Konzept erklärt und verteidigt sie öffentlich sowohl während eines integrativen Tanzkurses, als auch ihren Verwandten und in der Okupa-Szene. Herausragend daran ist, dass Nati als behinderte Frau, die mit Lernschwierigkeiten diagnostiziert wurde, gezielt eigene akademische Konzepte aufstellt, was gerade Menschen mit Lernschwierigkeiten abgesprochen wird. Damit bricht sie auf großartige Weise Denkweisen von Nichtbehinderten auf. Hier sind insbesondere im akademischen Rahmen behinderte Menschen ausschließlich ein „Forschungsobjekt“ von Nichtbehinderten. Unter Bastardismus versteht Nati beispielsweise den Genuss als etwas Politisches anzusehen, so etwa Margas sehr lebhaftes Sexualleben.

Eine Frau ohne Behinderung sitzt neben einer Frau mit Down-Syndrom. Beide schauen gemeinsam auf einen Laptop.

#54 Leichte Sprache

Leichte Sprache ist eine eigene Sprache. Sie soll Informationen besser verständlich vermitteln. Doch wer braucht eigentlich Leichte Sprache? Wie schreibt oder spricht man in Leichter Sprache? Und wo ist der Unterschied zwischen Leichter und Einfacher Sprache? Diese Fragen klären wir in unserem Bayern 2 Podcast. Zu Gast sind die Expert*innen für Leichte Sprache Anne Leichtfuß, Natalie Dedreux und Paul Spitzeck.

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Ein großes Manko an der Serie ist, dass die familiären Hintergründe der jungen Frauen kaum beschrieben werden. Alle stammen aus einem kleinen Dorf, aus sehr ärmlichen Verhältnissen. Wichtig ist hier zu erwähnen, dass insbesondere Kinder aus armen Familien in Förderschulen nach wie vor überrepräsentiert sind und häufiger Behinderungen diagnostiziert bekommen. 

Besonders interessant ist die Erzählweise des Romans. Die Haupthandlung wird durch Natis politische Theorien und sowie durch die Erzählung ihres Alltags, etwa durch Besuche im integrativen Tanzkurs, vorangetrieben. Marga spielt hier als Nebenfigur eine Rolle. Patri ist eher eine Nebenfigur, deren Gedanken wir ausschließlich aus den Gerichtsprotokollen zur Anhörung zur Zwangssterilisierung von Marga kennen. Ángels dagegen gibt dem Roman erst den Namen „Leichte Sprache“, indem sie einen eigenen Roman in Leichter Sprache innerhalb des Buches über das Leben der vier Frauen schreibt. Herausragend ist hier ihr persönlicher Entwicklungsprozess. Von Kapitel zu Kapitel äußert sie immer mutiger ihre Gedanken und verfolgt ihren Traum Schriftstellerin zu werden. In der Serie bleibt ihre schriftstellerische Arbeit leider nur eine Nebenhandlung. 

Schwächen der Serie

Während der Roman ganz klar die Vorstellung von „Normalität“ infrage zu stellen, verkürzt „Simple“ die Handlung und überführt sie in eine Art Coming Of Age Geschichte von vier behinderten Frauen, die ihre Wohngemeinschaft halten wollen. Der politische Grundgedanke geht hier verloren. Behindertenhilfe wird viel zu positiv dargestellt, was die Autorin Cristina Morales wiederum stark kritisiert. Morales beschreibt in „Leichte Sprache“, wie die Behindertenhilfe erst dazu führt, dass die vier jungen Frauen fernab von ihrer Familie in einer Behinderteneinrichtung leben, wo sie in jeder Situation ihres Lebens, insbesondere ihrer Sexualität kontrolliert und reguliert werden. Die Sozialarbeiter*innen der Behindertenhilfe sind auch dafür verantwortlich, dass den jungen Frauen zwanghaft Medikamente verabreicht wurden, um sie ruhig zu stellen. Mit Marga passiert dies auch nach wie vor in ihrem kontrollierten Leben in der Wohngemeinschaft in Barcelona. Ebenso müssen die jungen Frauen sogenannte „Kurse der Inklusion“ besuchen, wie Kurse für Leichte Sprache, integrativen Tanz oder der Selbstvertretung. Hier werden die Regeln und Gesprächsthemen jedoch wieder von Nichtbehinderten aufgestellt und zielen darauf ab, dass behinderte Menschen ihrer „anormales Verhalten“ an die Gewohnte- und Gepflogenheiten, die Nichtbehinderte als „Normalität“ empfinden, anpassen sollen. Scheitern die jungen Frauen in den Kursen oder lehnen sich zu sehr auf, riskieren sie, erneut in eine Behinderteneinrichtung zurückgeschickt zu werden.

Nati beschreibt in einem selbst gebastelten Fanzine, welche auch in der Okupa-Szene erstellt werden, die politische und gesellschaftliche Unterdrückung behinderter Menschen durch die Behindertenhilfe – in Barcelona durch das Integrationszentrum La Barceloneta – folgendermaßen:

„In unserem konkreten Falle als Gefangene ist die falsche Interessengemeinschaft das STÄWO La Barceloneta, unsere Kerkermeister nennen es „Gemeinschaft für die Integration“ und sie selbst und wir werden als „Mitglieder einer großen Familie“ betrachtet.“

Ebenso werden die vier jungen Frauen in der Serie sehr stereotyp dargestellt als Menschen mit Lernschwierigkeiten, die in jederlei Hinsicht nicht mit ihrem Leben zurechtkommen und auf die „fürsorgliche Behindertenhilfe“ angewiesen sind. Verwunderlich ist an dieser Stelle auch nicht, dass außer Anna Marchessi, die Patri verkörpert, keine der Schauspielerinnen eine Behinderung hat. Cripping Up, wie das Schauspielern einer Behinderung, in der Fachsprache bezeichnet wird, ist ableistisch. 

Screenshot aus dem Film "Wo ist Fred?". Die Schauspieler Til Schweiger und Christoph Maria Herbst sitzen im Rollstuhl und werden von einem Kamerateam begleitet.

Cripping Up – Warum man Identität nicht spielen sollte

Schauspieler*innen mit Behinderung sind in der Filmbranche deutlich unterrepräsentiert. Das liegt unter anderem daran, weil ihre Rollen immer noch oft mit nicht-behinderten Schauspieler*innen besetzt werden. Jonas Karpa erklärt, warum das ein Problem ist und warum Identität nicht gespielt werden sollte.

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Die Handlung des Romans bleibt nur in Grundzügen erhalten und die emanzipatorische Entwicklung der jungen Frauen, wie etwa Margas Hausbesetzung oder Ángels Schritte, ein eigenes Buch in Leichter Sprache zu schreiben, werden nur angedeutet. 

Dies könnte allerdings auch daran liegen, dass dies die erste Staffel der Serie ist. Es bleibt abzuwarten, ob der Kampf der jungen Frauen, der Behinderteneinrichtung für immer zu entkommen, noch näher erläutert wird. Oder warum Nati ihre Promotion nicht beenden konnte und eine Behinderung erwarb. Besonders fehlt in der Serie eine Erzählstimme, welche den Zuschauer*innen Natis politischen Konzepte näherbringt. Etwa ihre scharfe Kritik am Kapitalismus, am Neoliberalismus und die Frage, wie die Behindertenhilfe darin verstrickt ist. 

Sollte dies nicht passieren, verschenkt die Serie die große Chance und macht aus einem sehr gesellschaftskritischen Roman eine Wohlfühlserie über vermeintliche Inklusion für Nichtbehinderte. 

Fazit

Ich empfehle in jedem Fall, das Buch zu lesen, um einen besseren Eindruck von der Kapitalismuskritik von Cristina Morales zu bekommen. Um sich zu verdeutlichen, wie nichtbehinderte Filmteams, welche von Ableismus und der Gesellschaftskritik hinter diesen großartigen Roman keine Ahnung haben, lohnt es sich aber ebenso die Serie anzuschauen. Ironischerweise wird die Umsetzung der Serie, die auch von der Autorin selbst stark öffentlich kritisiert wurde, selbst zu einer Karikatur wie mit ableismuskritischer Gesellschaftskritik umgegangen wird. Herausragend ist Morales Auffassung von Allyship, die sich dafür stark macht, stets für behinderte Menschen einzutreten und die Behindertenhilfe zu kritisieren. Dazu wechselte Morales sogar den Verlag, als ihren Roman den Wünschen ihres ersten Verlages anzupassen. Gleichzeitig stellt Morales die Fragen: Was ist Normalität? Wer darf mitbestimmen, was normal ist und was nicht? Inwieweit werden Menschen, die sich anders verhalten als behindert diagnostiziert, um sie kontrollieren und beherrschen zu können? 

Um diese Fragen zu diskutieren, eignet sich „Leichte Sprache“ perfekt, egal ob als Schullektüre, für einen Buchclub oder für Gesprächsrunden. Die Serie „Simple“ und deren Machart sollte in diesem Schritt gleichzeitig kritisch hinterfragt und als Produkt gesehen werden, in dem behinderte Menschen gezielt kontrolliert und beherrscht werden sollen.

Link zur Serie: ZDF Mediathek

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