Marlee Matlin gewann als einzige taube Hauptdarstellerin den Oscar, spielte in unzähligen Fernsehserien mit und hat einen Stern am Hollywood Boulevard. Bengi Nutz von der Deutschen Gehörlosenzeitung mit einem Porträt einer Schauspielerin, die kürzlich 55 wurde.
Der Altersrekord ist bis heute ungebrochen. 1987 erhielt Marlee Beth Matlin den Oscar für ihre Filmrolle in Gottes vergessene Kinder – als jüngste Hauptdarstellerin mit 21 Jahren. Ein Jahr zuvor kam der Liebesfilm in die US-Kinos, wurde ein Kassenschlager und erhielt gute Kritiken. Neben der Nominierung für die beste Hauptdarstellerin wurde der Film in vier weiteren Oscar-Kategorien nominiert. Matlin, die bereits zwei Monate zuvor einen Golden Globe bekam, wurde mit einem Schlag weltberühmt.
Direkt nach der Verleihung des Golden Globe ging sie in eine Drogen-Rehabilitation. Bereits vor ihrer kometenhaften Karriere hatte sie mit Drogen- und Alkoholproblemen zu kämpfen. Da Matlin dies jedoch vor der Öffentlichkeit zunächst fernhalten wollte, gab sie in einem Interview nur an, später zu schreien. Diesen Satz nahm sie als Titel für ihre Autobiografie I’ll Scream Later (engl.: Ich werde später schreien), welche im Jahr 2009 erschien.
Seit dem Drogenentzug vor 33 Jahren ist Marlee Matlin bis heute clean (= drogenfrei) geblieben. Den Tag, an dem sie für immer clean wurde, feiert sie jedes Jahr wie einen zweiten Geburtstag: der 10. Januar 1987. In diesem Jahr schrieb sie auf Instagram: „Ich fühle mich wirklich dankbar, gesegnet und sicher.“
In ihrem Buch unterstellt Matlin ihrem damaligen Lebensgefährten, William Hurt, sie tätlich angegriffen und damit ihre Drogensucht gefördert zu haben. Hurt übernahm die männliche Hauptrolle in Gottes vergessene Kinder, er spielte ihren Geliebten. Wie im Film hatten die beiden auch in der Realität ein Liebesverhältnis, welches zwei Jahre lang andauerte. Offen geht Matlin auch mit ihren schlimmen Erfahrungen als Heranwachsende um. Mit elf Jahren hatte ein 16-jähriger Babysitter sie vergewaltigt. An der Highschool wurde sie neben anderen Schülerinnen fast ein ganzes Schuljahr lang von einem Lehrer sexuell ausgenutzt. Außerdem geriet sie während ihrer Highschool-Zeit – auch durch ihre erste Jugendliebe – in Abhängigkeit mehrerer Drogen, vor allem von Kokain und Marihuana.
Geboren am 24. August 1965 wuchs Marlee Matlin mit ihren Eltern und zwei Brüdern in einem Vorort von Chicago auf. Sie ist seit ihrer frühen Kindheit aufgrund einer Erkrankung gehörlos. Ihre Eltern seien voller Liebe und Hingebung für sie da gewesen und setzten sich für ihre Bildung ein. Jedoch konnte die Oscar-Preisträgerin ihr Leben lang nicht mit ihrer Mutter über emotionale Bedürfnisse oder schwierige Entscheidungen sprechen. Auch war anscheinend das Verhältnis zwischen beiden Eltern schon immer etwas getrübt.
Im Kindesalter lernte die kleine Marlee, zuerst unter Protest, Lippenlesen und Sprechen und dann mit fünf Jahren voller Begeisterung die American Sign Language (ASL). Später wurde sie durchgehend fast jährlich an einer anderen Schule in speziellen Integrationsklassen beschult. Trotz der Schwierigkeiten ließ sie sich nicht unterkriegen. „Ich lebe mein Leben wie jeder andere. Jeder hat seine eigenen Hindernisse. Meines ist Taubheit“, sagte sie später. Bereits seit ihrer Kindheit zeichnete sich ihre Begabung ab, Beziehungen zu pflegen. Sie hatte durchgehend ein breites soziales Netzwerk und viele langjährige Freundschaften – etwa mit ihrem Gebärdensprachdolmetscher Jack Jason. Schon bei der Golden-Globe-Auszeichnung 1987 stand Jason an ihrer Seite und wurde später ihr Manager. Bis heute gibt es kaum ein Interview, kaum einen öffentlichen Termin, bei dem sie nicht von ihm begleitet wird.
"Jeder hat seine eigenen Hindernisse. Meines ist die Taubheit."
Marlee Matlin
Schon als Siebenjährige spielte sie voller Leidenschaft in einem Kindertheater für gehörlose Kinder die Rolle der Dorothy im Theaterstück Der Zauberer von Oz. An diesem Theater nahm sie an weiteren Projekten teil. Im Alter von zwölf Jahren wurde Marlee Matlin vom US-Schauspieler Henry Winkler entdeckt. Er machte ihr Mut, Schauspielerin zu werden – trotz starker Bedenken ihrer Mutter. Seither verbindet Matlin mit Winkler eine enge Freundschaft. Vor fast jedem Projekt, das sie in Angriff nahm, hatte sie Winkler um Rat gefragt. Als sie im Oktober 1987 aufgrund ihrer Hollywood-Karriere nach Los Angeles zog, wohnte sie zwei Jahre lang im Poolhaus (= Gartenhaus) der Familie Winkler.
Als junge Erwachsene machte sie weitere Theatererfahrungen in dem Stück Gottes vergessene Kinder, in dem sie eine Nebenrolle spielte. Dabei wurde sie für die weibliche Hauptrolle Sarah Norman der Hollywood-Verfilmung desselben Buches entdeckt. Da Matlin vorher keine Schauspielschule besucht hatte, lernte sie alles Notwendige für eine Filmrolle erst am Set. In ihrem Filmdebüt konnte sie dennoch vor allem aufgrund ihrer hervorragenden Fähigkeit, Emotionen darzustellen, überzeugen.
Der erhoffte große Durchbruch blieb jedoch aus. In den darauffolgenden Jahren nahm sie kleinere Filmrollen an, oft auch in Independent- und Low-Budget-Produktionen (= kleinere Verfilmungen mit geringen Geldmitteln). Sie spielte gehörlose Charaktere oder solche, die gebärdeten oder wenig Text hatten. 1989 hatte sie wieder eine größere Rolle inne: In dem Fernsehfilm Bridge to Silence (engl.: Brücke zur Stille) erhielt ihre Rolle viele Dialogzeilen.
Anfang der Neunzigerjahre wirkte die gebürtige Chicagoerin in der von ihr geschriebenen und erfolgreichen Krimiserie Reasonable Doubts (engl.: Begründete Zweifel) als taube Staatsanwältin mit. Im deutschen Fernsehen wurde die Serie auf VOX ausgestrahlt. In einer Episode der US-amerikanischen Zeichentrickserie Family Guy (engl.: Familienmensch) lieh Matlin einer ebenfalls gehörlosen Figur ihre Stimme.
Bei dem größten Teil ihrer Filmografie (= Auflistung aller Filme, in denen sie mitgespielt hat) handelt es sich um Auftritte in Fernsehserien. Zu den wichtigsten gehören Desperate Housewives (engl.: Verzweifelte Hausfrauen), Quantico und die Queere-Serie The L Word – Wenn Frauen Frauen lieben (in der sie intime Szenen mit ihrer langjährigen Schauspielfreundin Jennifer Beals hatte). Auch in der erfolgreichen TV-Serie mit zahlreichen gehörlosen Darstellern Switched at Birth hatte Matlin eine zentrale Rolle – als Lehrerin.
Neben den Auszeichnungen für ihre Rolle in Gottes vergessene Kinder hat sie es in ihrer gesamten Karriere auf zwei weitere Nominierungen für den Golden Globe und vier Emmy-Nominierungen gebracht. 2009 erhielt sie den begehrten Stern auf dem Hollywood Walk of Fame in Los Angeles. Trotz ihrer anhaltenden Berühmtheit ist Matlin bodenständig geblieben und auch finanziell weiterhin auf neue Projekte angewiesen. Privat ist sie seit 1993 mit einem hörenden Polizisten namens Kevin verheiratet und hat vier Kinder.
Nebenher versuchte sie, sich für Gehörlose einzusetzen, was in der US-Community allerdings nicht immer auf Zustimmung stieß. Vor allem die Verbreitung von Untertiteln in Film und Fernsehen geht auf ihr Engagement zurück. Sie setzte 1993 durch, dass die dafür notwendige Technik in den USA in jedes neu produzierte große Fernsehgerät eingebaut werden musste. 2007 erhielt sie von einer israelisch-amerikanischen Stiftung eine Auszeichnung für ihren Einsatz für Menschen mit Behinderung. Sie engagiert sich auch in karitativen (= wohltätigen) Organisationen, vor allem für aids-kranke Kinder, und für das Amerikanische Rote Kreuz.
2002 veröffentlichte sie das Kinderbuch Deaf Child Crossing, welches sich teilweise an Erlebnisse aus ihrer eigenen Kindheit anlehnt. 2012 gab sie mit Marlee Signs (engl.: Marlee gebärdet) eine eigene App zum Erlernen der ASL heraus. 2008 nahm sie an der TV-Tanzshow Dancing with the Stars teil und kam mit ihrem Tanzpartner in die fünfte Runde. Wie bereits 1993 übersetzte sie 2016 beim 50. Super-Bowl-Finale der American-Football-Profiliga die amerikanische Nationalhymne, gesungen von Lady Gaga, in ASL.
Von der Schauspielerin, die kürzlich 55 Jahre alt wurde, wird die Welt weiterhin zu sehen und lesen bekommen: Matlin ist nach wie vor sehr aktiv in den sozialen Medien (mit insgesamt über 600.000 Followern), insbesondere auf Twitter und auch in Interviews setzt sie regelmäßig politische Statements. Und während der Corona-Pandemie startete sie im vergangenen Mai gemeinsam mit drei anderen tauben Frauen eine Online-Talkshow mit den Namen The Sound Off Ladies (in etwa: Die tonlosen Damen), in der sie taube Persönlichkeiten interviewen. Außerdem ist derzeit eine neue TV-Comedyserie in Arbeit – mit Matlin in der Hauptrolle: Life and Deaf (engl.: Leben und Taubheit) basiert auf dem Leben ihres Leibdolmetschers und Codas Jack Jason.
Dieser Artikel ist zuerst in der Deutschen Gehörlosenzeitung (Ausgabe 10/2020) erschienen.