Immer wieder gibt es Formate, die sehenden Menschen das Thema „Blindheit“ näher bringen sollen. Unsere Autorin Marie Lampe sieht das kritisch, da sie häufig Mitleid oder Othering befördern. Für uns hat sie die neue Realityshow „Licht aus!“ von Amazon Prime besprochen, bei der acht Promis fünf Tage lang völliger Dunkelheit ausgesetzt sind.
Zwischen Neugier und Unverständnis
Ich werde häufig gefragt, was ich denn eigentlich noch sehe. Die einfache Antwort: Nichts.
Nichts? Aber da muss doch irgendetwas sein! Menschen fällt es schwer, sich dieses „Nichts“ vorzustellen. Es macht ihnen Angst, sie wollen wissen, wie sich das anfühlt, wie man zurechtkommt, wenn man nichts sieht. Ein Leben ohne Farben und Licht ist für sie nicht vorstellbar.
Kann man Blindheit für nicht-blinde Menschen erfahrbar machen?
Deshalb gibt es eine Reihe von Versuchen, Blindheit zu simulieren. In vielen Großstädten findet man Dunkelrestaurants, in denen Menschen einen Abend lang in völliger Dunkelheit essen können. Sie versprechen ein intensiveres Geschmackserlebnis durch die Stärkung anderer Sinne und gleichzeitig die Sensibilisierung für das Erleben blinder Menschen. Die Kellner*innen in diesen Restaurants sind häufig selbst blind und zeigen Strategien, damit das Essen unfallfrei gelingt. In der Ausstellung „Dialog im Dunkeln“ im Dialoghaus Hamburg, in dem verschiedene immersive Ausstellungen gezeigt werden, können beispielsweise ebenfalls verschiedene Alltagsaufgaben ohne Licht ausprobiert werden. Auch hier begleiten blinde oder sehbehinderte Guides die Besucher*innen und berichten aus ihrem Alltag.
Neue Show „Licht aus!“
Und seit dem 31. Oktober kann man sich bei Amazon Prime Video anschauen, wie acht Prominente sechs Tage im Dunkeln verbringen. „Licht aus!“ heißt die Show. Das Experiment wird von Steven Gätjen moderiert und von einer Psychologin begleitet. Schließlich fehlt den Teilnehmenden plötzlich ein Sinn, über den sie zuvor 80 Prozent der Informationen aufgenommen haben. Gemeinsam leben sie in einem komplett abgedunkelten Wohnbereich und müssen verschiedene Challenges bewältigen. Meistern sie diese erfolgreich, dürfen sie zur Belohnung in einen Lichtraum gehen, in dem ihnen Videos ihrer Angehörigen gezeigt werden.
Ich stand diesem Experiment kritisch gegenüber, so wie ich auch die vorher genannten Konzepte kritisch betrachte. Ich rechnete mit Szenen, in denen Pietro Lombardi versucht, blind eine Olive aufzuspießen, und alle das unglaublich witzig finden. Oder wie jemand nach zwei Tagen tränenüberströmt das Experiment abbricht. Das hätte mich in meiner Ablehnung solchen Experimenten gegenüber nur weiter bestätigt. Denn besonders wenn sie medienwirksam passieren, fördern sie häufig Mitleid und Othering gegenüber Menschen mit Behinderung.
Weder das Schließen der Augen noch das Tragen einer Augenbinde lassen sich mit völliger Blindheit gleichsetzen.
Blindheit lässt sich nicht simulieren
Okay, das ist nicht ganz richtig. Mit einer Augenbinde, einer dunklen Brille oder einem abgedunkelten Raum lässt sich vollständige Blindheit durchaus simulieren, aber mehr schlecht als recht. Man versetzt sich in diesem Fall in die Situation, von einem Moment auf den anderen zu erblinden. Und das passiert äußerst selten. Ein Verlust der Sehkraft kommt meistens schleichend, beispielsweise durch eine Augenerkrankung. Und er ist in den wenigsten Fällen vollständig. Ein Großteil der gesetzlich blinden Menschen besitzt noch einen Sehrest. Diese Menschen sind trotzdem blind, nehmen aber je nach Art der Sehbehinderung noch Farben, Umrisse oder Licht wahr. Und selbst, wenn nicht: Weder das Schließen der Augen noch das Tragen einer Augenbinde lassen sich mit völliger Blindheit gleichsetzen. Das weiß ich aus eigener Erfahrung.
Inklusion statt Pädagogik
„Licht aus!“ hat glücklicherweise gar nicht den Anspruch, dem Publikum das Thema Blindheit irgendwie näher zu bringen. Das Wort „blind“ fällt in der Show kein einziges Mal. Danke, Prime Video! Trotzdem habe ich mich sehr gefreut, dass mit Timur Turga auch ein blinder Comedian unter den Teilnehmer*innen war. Auch er hat noch einen Sehrest. Mit der Teilnahme an der Show wollte er sich auf ein mögliches Fortschreiten seiner Augenerkrankung vorbereiten. Den Blindenstock musste er vor Showbeginn trotzdem abgeben.
Welchen Mehrwert kann das Experiment haben?
Ich verstehe den Wunsch von nicht-behinderten Menschen, sich in die Lage von Menschen mit Behinderung hineinzuversetzen. Und ich glaube auch, dass wir mehr Sensibilisierung im Alltag brauchen, damit Mitleid und übergriffiges Verhalten irgendwann nicht mehr zur Tagesordnung gehören. Das funktioniert aber nur durch Austausch, Kommunikation und Information. Menschen, die ein paar Stunden oder Tage im Dunkeln verbringen, können nicht nachvollziehen, was blind sein bedeutet. Sie lernen nicht den Umgang mit Hilfsmitteln, der den Alltag erleichtert oder erst möglich macht. Sie erleben vielleicht physische Barrieren, aber sie werden höchstwahrscheinlich keine Diskriminierung wegen ihrer vorübergehenden Behinderung erfahren, sich immer wieder erklären und rechtfertigen müssen. Und sie werden nicht die Erfahrung machen, dass mit ein paar Tricks und dem richtigen Support ein gutes Leben möglich ist. Umso wichtiger ist es, dass solche Experimente von behinderten Menschen begleitet werden.
Man muss nicht selbst im Rollstuhl gesessen oder eine Augenbinde getragen haben, um uns zu verstehen. Man muss uns nur zuhören und glauben.
Selbstvertreter*innen folgen und Zuhören
Wobei sich dann die Frage stellt, ob diese Selbsterfahrung wirklich sein muss. Es muss ja nicht gleich ein Fachvortrag sein. Es gibt genügend Podcasts, Blogs und Erfahrungsberichte von behinderten Menschen mit ganz unterschiedlichen Perspektiven. Es gibt Menschen, die beispielsweise an Schulen aus ihrem Alltag mit Behinderung berichten und sich allen möglichen Fragen stellen. Man muss nicht selbst im Rollstuhl gesessen oder eine Augenbinde getragen haben, um uns zu verstehen. Man muss uns nur zuhören und glauben.
Ein Leben ohne Licht kann auch ganz lustig sein
Bei den Teilnehmenden von „Licht aus!“ hatte gegenseitiger Support einen hohen Stellenwert, so mein Eindruck. Diejenigen, die sich bereits gut im Dunkeln zurecht gefunden hatten, zeigten den Neuankömmlingen den Wohnbereich und wiesen auf mögliche Stolperfallen hin. Trotz des kompetitiven Ansatzes der Show wurden Erfolge gefeiert und es gab kein für Realityshows typisches Mobbing oder Konkurrenzgehabe. Das empfand ich als sehr erfrischend. Als sehende Zuschauerin hätte ich vermutlich mitgenommen, dass ein Leben ohne Licht eigentlich auch ganz lustig sein kann. Und dass es manchmal sehr angenehm ist, nicht von allen beobachtet zu werden, vor allem beim Tanzen.
Zum Thema Simulation von Behinderung empfehle ich auch diesen Artikel der selbst blinden Sozialwissenschaftlerin Dr. Arielle Silverman sowie die erste Folge des Podcasts „Die Neue Norm“ über Rollstuhlexperimente.