Mediale Sichtbarkeit von Behinderung oder auch: Mangelware vom Discounter

Logo „Die Neue Kolumne“ von Matilda Jelitto auf dunkellila Hintergrund.
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Wie sollen wir imaginieren, wer wir sein können und wollen, wenn wir keine Vorbilder haben? Die Influencerin und Autorin Matilda Jelitto beschreibt entlang zweier Serien, warum Repräsentation von Menschen mit Behinderung in den Medien kein Luxusgut ist, sondern essentiell, um am Alltag teilzuhaben, Zukunftspläne zu schmieden und das Recht auf Teilhabe in einer ableistischen Gesellschaft entschieden einzufordern. 

Neuentdeckung

Also: Ich sitze auf meinem Bett und schaue die zweite Folge der zweiten Staffel von „Die Discounter“. Holt mich ab, aber nicht so wie die erste Staffel. Eine Stromberg Kopie in neuem GenZ-Gewand. Kassenband-Ästhetik und trockene Pointen. Genau mein Humor. Und dann kommt dieser eine Dialog. Mittlerweile liegt der Moment über zwei Jahre zurück, doch ich erinnere mich noch genau an die Szene, die im Anschluss in meinem Zimmer abläuft: Sie drückt hastig auf „Stopp“. Sie springt durch ihr Dachgeschosszimmer. Sie kreischt dabei ein bisschen. Es schaut keiner zu, und doch fühlt es sich an, als würde ich meine Freude mit der ganzen Welt teilen. Mein Mitteilungsbedürfnis kickt, und ich schreibe dem Instagram-Account der Serie eine Direktnachricht. Oskar Belton, einer der Serienmacher, wird mir später mit einer Sprachnachricht antworten. 

Mit 24 ist es das erste Mal für mich, dass ich eine menschliche Figur mit einer Hand, die aussieht wie meine, im Fernsehen sehe. Betonung auf ‚menschlich‘, denn bis dato hatte ich mich an Nemos kleine Flosse festgeklammert. Plötzlich weicht meine überschwängliche Freude einer Schwere. Die fehlende  Repräsentation von Menschen mit einer Handfehlbildung hatte ich eigentlich gar nicht als Defizit in meinem Leben wahrgenommen. Nun ist es, als hätte sich die  Büchse der Pandora geöffnet. In jeder weiteren Serie, jedem Film und jedem Werbespot fallen mir die Hände mit fünf Fingern auf. Die Hände mit ein, zwei, drei  oder vier Fingern, ganz ohne Finger oder mit Doppeldaumen, bleiben unsichtbar. Ganz generell bemerke ich die vielen nicht-behinderten Personen, deren  Geschichten inszeniert werden. Und natürlich die behinderten Charaktere, die viel weniger Charakter haben, dafür aber sehr viel Klischee. 

Superheld*in vs. Opferrolle

Ich könnte an dieser Stelle auf genau diese Figuren eingehen. Ich könnte hier von der Figur mit Behinderung erzählen, die in dieser einen Serie nichts anderes als das Opfer ist. Oder von dem fiktiven Bösewicht, dessen Behinderung im Film eigentlich nur als Requisit dient, um ihn noch ein bisschen gruseliger, noch ein bisschen abartiger und angsteinflößender zu machen. Ich könnte an dieser Stelle die  Superheldengeschichte analysieren – und enthüllen, dass es eigentlich gar keine  Superheldengeschichte ist, wenn eine Figur mit Behinderung den Collegeabschluss schafft. 

Für uns Menschen (Lehrkräfte, Mütter, Aktivisten, Wütende, Leseratten, Feinschmecker:innen, Fußballfans, Backpackerinnen und was wir alles sein können) gibt es so oft nur Storylines, die uns auf einen einzigen Aspekt unserer Identität reduzieren. Eine Storyline so flach wie das scheckkartengroße Label in unserem Geldbeutel, die weder von uns noch für uns geschrieben wurde, sondern die in nicht behinderten Menschen Empathie, Mitleid und Dankbarkeit für ihr nicht-behindertes Leben auslösen soll. Irgendwo klopfen sich Serienmacher*innen auf die Schulter für die Produktion ihrer kathartischen Sensationsfetische. 

Positive Beispiele

Ich möchte an dieser Stelle jedoch lieber auf die positiven Beispiele eingehen – die  Figuren, die wirklich Figuren statt Stereotype sind. Da gibt es Formate, in denen Menschen mit Behinderung tanzen, sich verlieben, erdbändigen und zaubern. Da  verlaufen Storylines nicht geradlinig in eine Sackgasse, sondern führen durch Tunnel, nehmen Abzweigungen oder führen auf die Überholspur.

In der deutschen AppleTV-Produktion „Where’s Wanda“ zum Beispiel. Ole Klatt ist hier einer der vier Hauptcharaktere. Er ist ein Computernerd, verliebt in den coolen und sportlichen Klassenkameraden, viel schlauer als seine Eltern, manchmal auch  ein bisschen hinterlistig. Und gehörlos. 

Aber Letzteres ist eben nur ein Punkt von dem, was Ole ausmacht. Er ist kein Klischee. Da gibt es keinen Subplot, in dem Ole von seiner Mutter getröstet wird, weil  er in der Schule für seine Stimme gemobbt wird. Er erhält vom heißen Fußballer  auch keinen Korb, sondern einen Kuss. Es gibt keine tragische Backstory, in der einer Zuschauerin ein besonders mitleidserregender Ursprung seiner Behinderung  enthüllt wird. Für Ole Klatts Geschichte musste kein hörender Schauspieler mit einer Logopädin die Stimme einer gehörlosen Person trainieren. Hier verkörpert Leo Simon die Rolle, der auch im echten Leben gehörlos ist. 

Ich schaue die vorletzte Folge und denke zurück an die junge Matilda, die mit elf Jahren Hexe für eine realistischere Berufswahl hielt als das Schauspielen. Weil  Hexen vielleicht auch mal ein paar Finger weniger haben dürfen, Schauspielerinnen aber nicht. Die das nicht mal als Barriere betrauert, sondern als Naturgesetz akzeptiert. Ich bin mir sicher, dass sich diese Überzeugung nicht so fest in meinem  Verständnis über mich selbst und die Welt gezurrt hätte, wenn ich eine Figur wie Ole Klatt im schwarzen Kasten unseres Wohnzimmers hätte schwärmen, feiern, zocken, Pläne schmieden und trauern sehen. 

Repräsentation ist keine B-Inklusionsmaßnahme

Wenn ich gefragt werde, was ich mir für die Belange von Menschen mit Behinderung wünsche, antworte ich meistens: „Mehr mediale Repräsentation, mehr echte  Geschichten von und für Behinderte.“ Dann schiebe ich in der Regel noch eine ‚richtige‘ Antwort hinterher: „Differenzierten statt separierten Unterricht, menschenwürdige Bezahlung auf dem zweiten Arbeitsmarkt, das Ende der AfD, regelmäßig gewartete Aufzüge, mehr Rampen.“ Ist Ersteres nicht eigentlich nur eine Cherry on top, ein Nice-to-have? Schließlich leidet ja niemand tatsächlich darunter,  wenn Behinderung im Hollywood-Kosmos ausradiert bleibt. Lass uns lieber erst mal die großen Stellschrauben der Diskriminierungsstrukturen beseitigen. Oder? 

Sich mit jemandem auf der Kinoleinwand identifizieren zu können, ist aber keine B-Inklusionsmaßnahme. Die Version meines Ichs, deren Zukunftsträume in eine Streichholzschachtel passen, rüttelt erst gar nicht an verschlossenen Türen. Dieses Ich lackiert sich nicht die Nägel an der linken Hand, macht keinen Führerschein, bewirbt sich nicht auf den Job und wartet während des Klassenausflugs still neben der Kletterwand, bis die anderen fertig sind. Dieses Ich fordert keine Teilhabe und  Barrierefreiheit. Dieses Ich spricht nicht auf Social Media darüber, warum „behindert“ kein Schimpfwort ist. Dieses Ich beschwert sich nicht. Dieses Wir macht mit in einem System, das von ableistischen Strukturen zusammengehalten wird, und ist dankbar, überhaupt dabei sein zu dürfen. 

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