Mehr Fragen als Antworten – Eine Rezension zu Mareice Kaiser’s Buch „Ich weiß es doch auch nicht. 101 entlastende Antworten auf existenzielle Fragen“

Das Buchcover „Ich weiß es doch auch nicht. 101 entlastende Antworten auf existenzielle Fragen.“ von Mareice Kaiser ist mittig vor einem grellen rosa Hintergrund zu sehen. Neben dem Cover ist eine Grafik eines dreidimensionalen Fragezeichens zu sehen, das fast so groß ist wie das Cover und ebenfalls in einem kräftigen Rosa.
Wie gehen wir mit den großen und kleinen Fragen des Lebens um und ist Nichtwissen vielleicht manchmal befreiend? Cover: Penguin Books. Foto: Die Neue Norm.
Lesezeit ca. 4 Minuten

Wer auf 101 existenzielle Fragen klare, endgültige Antworten erwartet, wird bei Mareice Kaiser nicht fündig. „Ich weiß es doch auch nicht“ ist kein Ratgeber, kein Manifest, keine Anleitung zum Glücklichsein. Stattdessen lädt Kaiser dazu ein, sich mitten ins Nichtwissen zu setzen – und dort etwas zu entdecken, das oft übersehen wird: Verbindung, Entspannung und eine gute Prise Humor. Eine Rezension von unserer Redakteurin Carolin Schmidt.

Mareice Kaiser: Eine Stimme gegen Diskriminierung

Mareice Kaiser ist als Journalistin und Autorin bekannt für ihre feministischen und diskriminierungskritischen Positionen. Sie startete mit dem Blog Kaiserinnenreich, der aus der Elternperspektive über die Erfahrungen mit Kindern mit Behinderung schreibt (und heute von Anne Mendel, Bárbara Zimmermann und Simone Rouchi geführt wird), schrieb in ihrem Buch „Das Unwohlsein der modernen Mutter“ (2021) über Mutterideale oder in „Wie viel – was wir mit Geld machen und was Geld mit uns macht“ (2022) über Klassismus. 

Nun hat Kaiser sich Fragen zugewandt, die ihr Follower*innen auf Instagram gestellt haben. In „Ich weiß es doch auch nicht. 101 entlastende Antworten auf existenzielle Fragen“ begegnen wir nicht den perfekten Antworten, sondern einer Ansammlung an Gedanken, die klug, nahbar und unterhaltsam sind. Ein Mehrgewinn ist, wie auch in dem Ratgeber „Bist du behindert, oder was? Kinder inklusiv stärken und ableismussensibel begleiten”, den sie gemeinsam mit Rebecca Maskos geschrieben hat, die Zeichnungen von Slinga, die den Text nicht nur begleiten, sondern oft auch humorvoll erweitern oder zuspitzen. 

Die Zeichnung zeigt einen weißer Hund auf einem rosafarbenen Klo, hinter ihm ist eine gekachelte Wand angedeutet, neben ihm ist eine leere Klopapierrolle an einer Halterung. Aus einer Sprechblase über dem Hund steht „KACKE!“, darüber der Schriftzug: „Solidarität fängt beim Klopapier an!“
Solidarität fängt beim Klopapier an. Foto: Slinga

Gedanken zwischen Alltag und großer Lebenskunst

Die kurzen Texte sind sehr eingängig geschrieben – Kaiser schreibt pointiert und humorvoll, ohne jemandem ihre Sicht der Dinge aufdrücken zu wollen. Einige Weisheiten habe ich so oder so ähnlich auch schon einmal gedacht, gelesen, gehört: Etwa „Gönnen können“ bei der Frage nach dem „sich Vergleichen“. Oder – ganz im Sinne der bedürfnisorientierten Erziehung – „Ich bin da, wenn du es nicht schaffst!”, oder: „Wir finden einen Weg, wenn du es nicht schaffst.“ anstelle eines Motivationsspruchs wie „Du schaffst das!“. Im Falle vom Imposter-Syndrom empfiehlt Kaiser, sich klarzumachen, dass wir in einer Gesellschaft leben, „die von weißen cis Männern für weiße cis Männer gemacht wurde.“ Das Problem sei das System, nicht wir. Darum sollten wir das System verändern, nicht uns. Diese Forderung wiederholt sie bei der Frage, wie wir mit Stress umgehen können. Soweit, so gut. Aber wie ändern wir nun das System?

Zwischen Entlastung und dem Wunsch nach mehr Tiefe

Bei diesen Fragen fehlt mir eine tiefere Auseinandersetzung. Es wird schnell klar, dass das nicht das Format des Buches ist, aber gerade wenn man die anderen Publikationen von Mareice Kaiser kennt, möchte man doch etwas tiefer einsteigen oder hat geradezu das Gefühl, dass einem wichtige Informationen vorenthalten werden. Man möchte ihr empfehlen, einen Podcast zum Buch zu machen (die ersten 101 Themen sind sozusagen schon gesetzt) und sich weitere kluge Menschen dazuzuladen, mit denen sie diese Themen wälzen kann. Etwa eine*n Krankenpfleger*in im Schichtdienst, der*die Auskunft darüber geben kann, wie Faulsein in ihrem*seinen Beruf aussehen kann im Vergleich zum Faulsein bei einer/einem Schriftsteller*in. Oder ein Gespräch mit einer von Diskriminierung betroffenen Person zur Frage, was man noch sagen darf (Kaiser’s Antwort: So ziemlich alles. Aber es gibt möglicherweise ein Feedback, mit dem man nicht gerechnet hat).

Eine mit einfachen Strichen gezeichnete Person mit rosa Oberteil liegt mit dem Kopf auf dem Arm gestützt da, darüber der Schriftzug „Faulsein ist wunderschön.“
Faulsein ist wunderschön. Foto: Slinga

Irgendwann denkt man, jetzt geht es wieder, das Herz ist wieder leichter, das Atmen auch. Man geht hüpfend um die Ecke – und wird von einem riesengroßen Schatten erschlagen. Und Repeat.

Große Themen brauchen große Diskussionen

Auch bei der Frage „Wie macht man weiter, wenn die tollste Person einfach stirbt?“, steckt so viel Gefühl und Weisheit in den wenigen Worten: „Man macht einfach weiter. Atmet ein und atmet aus (wenn auch schwerer, wenn auch nicht so tief). Man steht auf und legt sich hin (wenn auch später, wenn auch schwerer). (…) Irgendwann denkt man, jetzt geht es wieder, das Herz ist wieder leichter, das Atmen auch. Man geht hüpfend um die Ecke – und wird von einem riesengroßen Schatten erschlagen. Und Repeat. Bis der Schatten keine Angst mehr macht, bis er kleiner geworden ist und sich in eine Rock- oder Hosentasche stecken lässt. Oder eine Jackentasche, an der Brust. Ohne diese Tasche würde etwas fehlen.“

Sofort tauchen bei mir neue Fragen auf: Wie verändert sich das Gewicht des Schattens – oder verändern wir uns mit der Zeit? Ist der Schmerz weniger geworden – oder nur vertrauter? Was bleibt, wenn der Schatten geht? Wie spricht man mit jemandem, den man nicht mehr sieht, aber noch spürt? Wann ist das „Wieder“ ein Fortschritt – und wann nur eine Wiederholung? Was wäre, wenn wir über den Tod so selbstverständlich sprechen würden wie über das Wetter?

Wut, Widerstand und das „Fuck-you-Alter“

Manchmal hätte ich mir etwas mehr Wut und Aktivismus gewünscht. Es geht um große Themen: Diskriminierung, soziale Ungleichheit, Kapitalismus. Kaiser klingt sehr reflektiert, im Einklang mit sich und den eigenen Grenzen. Aber wo bleibt der Widerstand gegen die äußeren Bedingungen? Ein wenig scheint er durch bei der Frage, welches Alter das Beste sei: „Und dann, irgendwann, passiert es: Man denkt sich immer öfter, »fuck you«. Ein Chef, der sexistisch ist? Fuck you. Ein Job mit Arbeitszeiten, die es unmöglich machen, Freund*innen zu haben? Fuck you. Eine Jeans, in der man nur stehen kann? Fuck you. Ein Freund, der mehr schlechte als gute Gefühle macht? Fuck you! Man kommt ins Fuck-you-Alter.“ Und dieses Alter möchte man allen weiblich gelesenen, queeren, behinderten Menschen sogleich empfehlen.

Die Zeichnung zeigt eine weiß gelesene Person mit pinkten, fliegenden Haaren und einem kleinen pinken Hund auf dem einen Arm und einem ausgestreckten Mittelfinger an der anderen Hand. Die Person trägt eine gelbe Hose und schwarze Stiefel mit Absatz. Die Person lacht. Darüber steht der rosa Schriftzug „fuck you“ mit einem Herzchen.
fuck you ♥. Foto: Slinga

Fazit: Fragen, die weiterführen

Kaiser sensibilisiert dafür, dass die Antworten, je nach eigener Lebenssituation, Diskriminierungserfahrungen oder Körper anders ausfallen: „Es kann nämlich gar nicht ohne Hindernisse laufen, wenn du zum Beispiel in einer Welt lebst, die von Männern für Männer gemacht wurde und du zufällig kein Mann bist. Oder wenn du in einer Welt lebst, die für nichtbehinderte Körper gemacht wurde, du aber zufällig in einem behinderten Körper lebst.“

Zwischen Prokrastination und Mut zur Faulheit, zwischen einem Haftbefehl und einem Hannah Arendt-Zitat wird klar, worin der größte Gewinn dieses Büchleins besteht – die Suche nach den eigenen Antworten und 101 neuen, existenziellen Fragen, die daraus entstehen.

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