Wandelnde Litfaßsäulen

Das Logo von die neue Norm auf grünem Grund. Rechts davon steht: Die Neue Kolumne. Unten steht: Von Lela Finkbeiner.
Lesezeit ca. 4 Minuten

“Du hörst wirklich gar nichts?”

“Kannst du von den Lippen lesen?”

“Ist die Gebärdensprache international?”

“Ich wollte ja schon immer mal die Gebärdensprache lernen, fasziniert mich total.”

“Ich wünschte, dass Gebärdensprachen an allen Schulen unterrichtet wird.”

Manchmal belasten mich die immer gleichen wiederkehrenden Aussagen und Fragen.

Ich habe eine Bekannte, die Schwarze Muslimin ist und einen Hijab trägt. Mir fällt auf, dass sie eine der wenigen Menschen ist, die mir nie Fragen rund um das Thema Gebärdensprachen und mein Taubes Leben stellt. Sie fragt nach meinen Hobbys, was ich am Wochenende gemacht habe, wie es auf der Arbeit läuft. Jedes Mal erfreut es mein Herz, wenn wir uns unterhalten. Endlich, ein Mensch, der in mir nicht nur die Behinderte sieht, denn mein Leben dreht sich nicht nur um meine Behinderungen und chronische Erkrankung. Verwundert frage ich sie, warum sie mir nie Fragen stellt, die ich gefühlt hunderttausend Mal gestellt bekomme. Sie antwortet: “Warum sollte ich dir Fragen stellen, die ich selber auch nicht mag. Zum Beispiel Fragen zu meinem Hijab oder ob ich als Schwarze einen Sonnenbrand bekomme, oder ob sich mein Feminismus mit dem Islam nicht beißen würde. Wir marginalisierten Menschen sind keine wandelnden Litfaßsäulen, die kostenlos Aufklärungsarbeit leisten. Wir sind Persönlichkeiten mit unseren individuellen Vorlieben, Schwächen, Interessen, so wie alle Menschen auch.” Das hat gesessen. 

Sie hat genau das in Worte gefasst, was ich fühle. Wir sind uns einig, dass wir ähnliche Beobachtungen gemacht haben. Im Prinzip erleben alle marginalisierten Menschen Ähnliches: Wir haben das Gefühl, wandelnde Litfaßsäulen zu sein, leisten unermüdlich Aufklärung, ohne dabei strukturelle Veränderungen herbeizuführen. Das ist ermüdend. Es wird erwartet, dass wir geduldig Fragen beantworten, auch die, die die Intimsphäre überschreiten, z.B. wenn Rollstuhlnutzende gefragt werden, ob sie Sex haben könnten. Viele aus den Communitys sind soweit im Laufe ihres Lebens konditioniert worden, dass sie selbstverständlich alle Fragen, auch unangenehme Fragen, beantworten, ohne sich dem zu widersetzen. Andere wiederum hegen mit unermüdlichem Aufklärungsdrang die Hoffnung, dass sie einen Beitrag leisten zu mehr Verständigung. Ein riesiger Kampf gegen Windmühlen. Nicht wenige erleiden ein Burn-Out, da Ergebnisse ihrer Sensibilisierung eher bescheiden ausfallen. 

Die Frage, die sich mir stellt: Geht es hier hauptsächlich um Verständigung? Sollte hier nicht vor allem das Zugestehen von Menschenrechten im Vordergrund stehen? Natürlich steckt oft aufrichtiges Interesse hinter den Fragen, allzu oft entsteht aber der Eindruck, es handle sich um voyeuristische Motivation oder Provokation, um eine Grundsatzdiskussion z.B. zum Thema Inklusion einzuleiten. 

Es sind nicht immer neugierige Fragen, die verletzen können. Die Art der Fragestellungen offenbart eine nicht immer für alle bewusste Haltung: Marginalisierte Menschen werden als anders wahrgenommen. Den Drang, dem Mysterium des Anderssein durch Fragen auf den Grund zu gehen, verspüren einige Menschen ohne Marginalisierungserfahrungen als sehr stark. Das starke Augenmerk auf das Anderssein, dafür gibt es einen Fachbegriff, er nennt sich “Othering”. Ein Begriff, der meist im Kontext von Rassismus zu lesen ist. Othering bezeichnet die Distanzierung von einzelnen Menschen oder einer Gruppe, deren Eigenschaften, Bedürfnisse und Fähigkeiten als besonders hervorgehoben werden. Unabhängig davon, ob die in den Mittelpunkt gerückten Eigenschaften positiv oder negativ gewertet werden, werden sie als abweichend von der Norm interpretiert. Der Euphemismus  “Menschen mit besonderen Bedürfnissen” ist ein bekanntes Beispiel, welches Othering zugeordnet werden kann. 

Was also tun? Behinderten Menschen gar keine Fragen mehr stellen? Sich vielleicht gar nicht mehr unterhalten, vor lauter Angst, was Falsches zu sagen? Die Lösung ist eigentlich gar nicht so schwer. Wie wäre es erstmal mit Smalltalk? Einer beiläufigen Konversation ohne Tiefgang: “Wie geht es dir?”, “Wie gefällt dir die Party hier?” Fragen, die Menschen ohne Behinderungen auch gestellt bekommen. Nicht alle Menschen mögen Smalltalk. Aber aus Smalltalk können sich tiefgreifende Gespräche entwickeln, in denen sich alle Menschen gleichermaßen gesehen fühlen und nicht reduziert auf z.B. ihre Behinderung.

Um Fragen zu Behinderungen zu klären, sollte man den behinderten Aktivist*innen in den sozialen Medien folgen. Sie klären gründlich auf. Sie stehen auch für Vorträge, natürlich gegen Bezahlung, zur Verfügung. Darüber hinaus existieren Vereine, die informieren oder beraten, diese können angeschrieben werden. Gut ausgestattete Bibliotheken führen Literatur und noch viele andere Möglichkeiten existieren. 

Die nachhaltigste Form, um erst gar keine komischen Fragen aufkommen zu lassen und Othering oder Ableismus zu provozieren, ist es, für mehr Diversität an Schulen zu sorgen, in Ausbildungseinrichtungen, im Arbeitsleben, an Unis, in Vereinen, in Politik, einfach überall, vor allem in Leitungspositionen. Gelebte Diversität und Partizipation heisst, dass sich heute gestellte Fragen an behinderte und marginalisierte Menschen, die manche unerträglich finden, wie sie das gehörlose Kind gehörloser Eltern erlebt, morgen gar nicht mehr gestellt werden müssten. Somit die “Andersartigkeit” gar nicht mehr so viel anders gesehen werden würde. Das Ganze nennt sich Inklusion.

Die DGS-Zusammenfassung der Kolumne findet ihr hier:

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