Stigma, Leid und psychische Erkrankung

Das Logo von die neue Norm auf hellblauem Grund. Rechts davon steht: Die Neue Kolumne. Unten steht: Von Nadine Rokstein.
Lesezeit ca. 3 Minuten

Es gibt gute Gründe, warum ich lange zu dem Thema psychische Erkrankung geschwiegen habe: Einer davon ist, dass ich in dem Bereich arbeite. Ich bin gleichzeitig Betroffene und Fachkraft. Eigentlich ein Vorteil. Ich merkte aber immer mehr, dass ich die Arbeit in diesem Bereich selbst nicht mehr schaffe, da sie mir ebenso nicht guttut.

Der nächste Grund kam unerwartet: Mein Therapeut warnte mich davor, Kolleg*innen von meiner Erkrankung zu erzählen, was Druck in mir erzeugte. Auch das soziale Umfeld solle von meiner psychischen Erkrankung wenig mitbekommen, weshalb mir stationäre Einrichtungen empfohlen wurden, die nicht in meiner Umgebung sind. Meine Behandlung sollte nicht auffallen und Nachbar*innen sollten keine Angst vor mir bekommen. Dass psychisch erkrankte Menschen gefährlich seien, ist ein Stigma, mit dem ich so erstmalig in meinem echten Leben, außerhalb der Medien, konfrontiert wurde. Durch diese Erfahrung gerade im medizinischen Kontext fühlte ich mich wenig empowered, sondern hatte den Eindruck, Stigmatisierungen würden aktiv aufrechterhalten werden.  

 Oft gab es die Annahme, dass ich psychisch erkrankt sei, weil ich blind bin. Dass Menschen mit Behinderungen auch Erfahrungen machen, die nicht auf ihre Behinderung zurückzuführen sind, schien unvorstellbar. Dabei kann ich nicht abstreiten, dass einige Erfahrungen, die man als behinderte Person macht, wie schmerzhafte Diskriminierungserfahrungen, mit hineinspielen: Beispielsweise der Kampf mit Ämtern, das sich Beweisen und Rechtfertigen müssen, die ständigen Telefonate, die man mit Institutionen führen muss und die mit der eigenen Stadt, um die Barrierefreiheit und Teilhabe zu erkämpfen, die eigentlich selbstverständlich sein sollte. Vieles braucht viel Planung und Nerven – von Spontanität und Flexibilität kaum eine Spur. Und dann zusätzlich noch oft der Ausschluss aufgrund der Behinderung. Es fühlt sich an, wie ein Kampf sein Leben leben zu dürfen. 

Dabei handelt es sich um Rechte. Rechte, die man als behinderte Person hat. Und es ist immer wieder ein Faustschlag in die Magengrube, wenn man das Gefühl hat, dass diese nicht beachtet werden. Während man viele Privilegien von nicht-behinderten Menschen sieht, versteht man kaum, warum man weniger wert sein soll oder Selbstverständlichkeiten wie Studium, Arbeiten, Flexibilität einem nicht zustehen sollten. 

Es ist kein Kampf, zu dem man sich entschieden hat, es ist einer, den man kämpfen muss. Und manchmal reicht die Kraft nicht. Es ist ermüdend, kraft- und nervenraubend. Es macht wütend, es macht traurig, es macht fassungslos. 

Oft heißt es, wir leiden an unseren Diagnosen, so dass schnell der Eindruck entsteht, dass dies der Grund für die psychische Erkrankung wäre. Aber Leiden ist ein sehr starkes und mächtiges Wort. Es hat eine so große Bedeutung, dass man dessen Kraft unterschätzt. Leiden ist eine Eigenschaft, die oft Menschen mit Behinderung zugeschrieben wird. Man geht davon aus, dass sie unter ihrer Behinderung leiden, unglücklich sind und begegnet ihnen mit Mitleid.
Bestärkt wird dieses Denken sehr häufig auch durch die Aussage „Person XY leidet an …“ diese suggeriert bereits, dass die Person unter ihrer Behinderung oder chronischen Erkrankung leiden müsse. In diesem Moment macht man sich wahrscheinlich kaum Gedanken, dass „leidet an“ und „hat die Diagnose XY“ einen großen Unterschied macht. Dabei ist Sprache ein so mächtiges und entscheidendes Instrument, mit dem wir so viel ausdrücken können und deshalb umso bedachter umgehen müssten.

Denn Leiden führt automatisch dazu, dass ich von fremden Menschen für meine Behinderung, mein Leben, bemitleidet werde. Das ihre ersten Gedanken, ihre ersten Worte meist lauten: “Oh, das tut mir leid.” Unbedacht bleibt, dass mir dadurch immer vermittelt wird, dass etwas mit mir falsch wäre und kaputt. Dabei leide ich nicht. Ich bin nicht unglücklich – nicht traurig aufgrund meiner Behinderung. Mein Leben ist nicht weniger wert oder weniger gut. Den Stempel des leidenden Menschen aufgedrückt zu bekommen und dass das eigene Leben von fremden Menschen bewertet wird, ist stigmatisierend und hinderlich für ein diverses Miteinander.

Dieses Stigma hält sich trotzdem hartnäckig. Nicht nur Begrifflichkeiten, die negativ behaftet sind, bestätigen es, sondern auch diverse Filme und Medien. Filme, die beispielsweise eine Behinderung als ein so tragisches Schicksal darstellen und so wenig lebenswert, dass der einzige Ausweg der Freitod zu sein scheint.
Die Sätze „oh das tut mir aber leid“ oder „tragisches Schicksal“ verletzen mich dennoch.
Ich brauche kein Mitleid und will es auch nicht.
Menschen mit Behinderung sind keine tragisch bemitleidenswerten Menschen, sondern Menschen. Menschen mit Behinderung.
Behinderung und Leid sind keine Synonyme.

Wir entscheiden, wie wir uns mit unserer Behinderung sehen und wie wir zu ihr stehen. 

Mehr zu diesem Thema: Leidmedien.de

Das waren starke Zeilen? Dann gerne teilen!

Eine Antwort

  1. Gratuliere, Frau Rokstein, freue mich total dass sie hier schreiben, sich dazu durchgerungen haben! Ja überlegen Sie sich sehr sehr sehr genau wem sie das wissen lassen ich meine die psychische Erkrankung. Meine Offenheit hat mein Leben ruiniert ich habe lange dagegen angekämpft mit allen Mitteln aber ich wurde aus dem ersten Arbeitsmarkt raus genommen und geradezu gedrängt, in Rente zu gehen. Nach zwei oder drei Jahren Kampf mit Fortbildung und Attesten und Bewerbungen und Bescheinigungen wo ich überall arbeiten kann habe ich letztlich aufgegeben. Das war allerdings in den Achtzigern. Ich habe dann zu Hause gearbeitet und hatte noch einen PKW also konnte ich auch Nachhilfe und Betreuungen und alles was sich ergab, auch Brötchen verkaufen und putzen, machen. So richtig befriedigend ist das alles nicht, war das alles nicht, denn der Stachel sitzt doch gern sehr tief einfach mal so abserviert zu werden weil irgendwelche Bestimmungen so und so sind oder weil sie einen loswerden wollen das damalige Arbeitsamt wollte mich loswerden die Krankenkasse wollte mich loswerden und so richtig begeistert war die Rentenkasse ja auch nicht. Das fördert das Selbstbewusstsein natürlich ungemein. Jetzt gehe ich stramm auf die 70 zu, bin psychisch natürlich immer noch mit dieser gleichen Diagnose behaftet, stigmatisiert und auf eine darauf reduziert, arbeite zu Hause weil die Rente durch dieses frühe abschieben sehr sehr niedrig ausfällt, schlichtweg nicht reicht, und das nicht erst seit Putin völlig durchgedreht ist undalle Preise steigen– sehen Sie andere sind psychisch so krank und dazu gefährlich, also psychopathisch oder soziopathisch im Gegensatz zu Ihnen und zu mir – und werden Präsident mit der Option zum Lebensende gleich mal ein paar 1000 oder auch alle mitzunehmen. Der hat ja auch keine Diagnose! Meine dagegen landete damals sogar beim Arbeitsamt und jetzt ist das System noch durchlässiger durchs Internet. Machen Sie bitte weiter so, bitte bitte bleiben Sie mutig, es lohnt sich. Ich war im Vorstand der Psychatrie erfahrenen und ging in die Öffentlichkeit (auch Zeitung) mit vollem Namen. Manchmal schützt Öffentlichkeit und in die Offensive zu gehen ist alle mal ungleich besser als durch liebe Kollegen, Kolleginnen oder eine Freundin mit der sie sich zerstreiten mit anschließendem Getratsche in der Defensive zu sein. KraftI wünsche ich Ihnen auf jeden Fall von Herzen, von ganzem Herzen! Mit vielen Grüßen aus dem Taunus, Lissi Bettina Köchling

    Gerne können Sie mich kontaktieren ich habe sogar WhatsApp auch wenn ich mit dieser Technik immer noch Schwierigkeiten habe und ich fürchte das bleibt so schließlich bin ich Ende 60 und könnte Ihnen einen VW Käfer tunen aber kriege es zum Beispiel nicht hin auf meinem Mini Mac oder dem ollen Huaweimobil Telefon die Möglichkeit von SMS zu installieren… Noch nie eine Excel Tabelle gemacht kann meine Dateien nicht sortieren aber ehrlich gesagt: so richtig fehlen tut es mir nicht. Wir können uns gerne austauschen wenn Sie möchten. Auch sporadisch einfach etwas mitteilen oder fragen, wie Sie wollen. Wenn Fehler in meinen Schreiben sind bitte um Nachsicht das war ich nicht das war Siri 🙂 denn altersgemäß machen meine Augen nicht mehr mit wie viele andere Teile des Körpers auch nicht, ist halt so.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert