Hier dürfen blinde Frauen hauen – Wie ich zur Selbstverteidigung kam

Das Logo von die neue Norm auf blassrotem Grund. Rechts davon steht: Die Neue Kolumne. Unten steht: Von Jennifer Sonntag.
Lesezeit ca. 9 Minuten

Triggerwarnung: körperliche und seelische Gewalt, sexuelle Übergriffe, Stalking

Als ich vor einigen Jahren meinen Blindenführhund beantragte, entschloss ich mich parallel dazu, ein weiteres wichtiges Thema zu mehr Selbstbestimmung anzugehen: Selbstbehauptung und Selbstverteidigung. Ich befand mich in einem neuen Erblindungsschub und wünschte mir mehr Mobilität und Kontrolle in meinem Leben, gerade in fremdbestimmten und beängstigenden Situationen. 

Schon als sehbehindertes Mädchen erlebte ich Übergriffe, denen ich mich schwer entziehen konnte. Wer schlecht sieht, ist auf Führen und Berühren angewiesen, wird geschoben und gebogen, da können die Übergänge zur Grenzüberschreitung fließend sein. In unserer damaligen „Sonderschule“ gab es so etwas wie einen Selbststärkungskurs für sehbehinderte Mädchen noch nicht. Aber es schwang etwas anderes, für mich seinerzeit noch wenig Besprech- aber Spürbares im Bewusstsein des Erziehungspersonals mit, nämlich das Wissen um die Wahrscheinlichkeit sexueller Übergriffe an behinderten Mädchen. Es wurde nur nichts daraus gemacht, was Schülerinnen im Sinne einer Empowerment-Strategie geholfen hätte. Ich persönlich wurde diesbezüglich zur Verschwiegenheit erzogen und hatte nicht einmal meinen Eltern davon erzählt, dass ein Pädagoge in unserer Schule sexuell übergriffig geworden war. Sie erfuhren es aus der Zeitung. Stattdessen wurde ich manchmal für etwas, was ich wirklich nicht gemacht hatte, zur Strafe in einen dunklen Raum gesperrt. Ich war ein stilles und schüchternes Mädchen, war schon damals nachtblind und in mir schwelte eine subtile Erblindungsangst, was der dunkle Raum nicht besser machte. Obwohl die Täterschaft beim Erwachsenen, nicht beim Kind lag, prägte sich wegen solcher Mechanismen ein chronisch schlechtes Gewissen bei mir aus. Heute nennt man das Victim blaming. 

Auch wenn sich meine Augen zunehmend verschlechterten und ich mich aus unangenehmen Situationen schwerer durch optische Kontrolle lösen konnte, wollte ich mich gerade nicht in Sack und Asche hüllen oder im stillen Kämmerlein verkriechen. Grenzüberschreitungen durch andere sahen, meinen Lebensabschnitten entsprechend, immer etwas anders aus. So hatte ich mich auf meine Zeit an einer Regelschule wahnsinnig gefreut. Ich hatte nicht geahnt, dass ich dort als komisches Mädchen mit der dicken Brille, als „Halbblinde“ verspottet, das perfekte Versuchsobjekt zum Beinestellen, Beschmeißen mit ekligen Dingen, Einkesseln und Schikanieren werden würde. Ein „Integrationsexperiment“ mit fragwürdigen Akteuren, von denen die harmlosesten nur unvorbereitet, andere jedoch schlichtweg für ihre Aufgabe ungeeignet waren. Letztlich förderte das nicht meine Potenziale, sondern crashte meinen Notendurchschnitt. Das Gymnasium wurde von einer Lehrerin unserer Sehbehindertenschule beraten, die mich einmal so heftig in den Hintern getreten hatte, dass ich in die Ecke fiel. Sie war eine kräftige Frau und ich hatte ihr nichts entgegenzusetzen.

Ich sollte später auch in anderen Kontexten immer wieder von Menschen getreten werden und fallen, kann aber erst heute mit 43, angemessene Gefühle zu diesen Umgangsformen entwickeln. Ich traute mich nur selten, meinen Eltern so etwas zu erzählen, denn das hätte ich dann in der Schule doppelt zu spüren bekommen und die betreffende Lehrerin hatte sogar einmal gesagt, sie wolle mir Zyankali ins Getränk mixen. Klar, sie hätte das nicht gemacht. Aber warum überhaupt gedacht und warum fand ich das alles damals so normal von einer so genannten „Vertrauenslehrerin“? 

Beim Fach-Abi endlich lief es dann besser, dort wollten alle in soziale Berufe und ich war inzwischen Punkerin, fühlte mich stark mit den bunten Jungs und Mädels, die ich nachmittags in der City traf. Aber hier kam es zu einer neuen Art von Übergriffen: Nazis! Damals habe ich als junges, dürres Ding leider ordentlich einstecken müssen und fand mich manchmal bespuckt, getreten, mit angebrannten Haaren und mit zerfetzter Kleidung am Boden wieder. Durch die Sehbehinderung konnte ich, besonders im Dunkeln, nicht so schnell weglaufen wie die anderen und wie froh war ich, wenn ich die Hand meiner Freundin spürte, die mich im richtigen Moment aus der Gefahrenzone riss. Oft vergingen sich auch Männer an uns jungen Punkerinnen und auch hier war ich sofort in den alten Mustern: Wir waren selbst schuld, was liefen wir auch mit bunten Haaren rum? – Das klingt unlogisch?  Finde ich heute auch. 

Heute macht es mich extrem wütend, dass „Mann“ mir das plausibel machen konnte. Auch einer meiner ersten Partner war gewalttätig, sodass großflächige Hämatome eine lange Zeit in meinem jungen Leben eine merkwürdige Selbstverständlichkeit waren. Und natürlich ist kein Mensch nur böse und ich habe ihm damals das eigentlich Unverzeihliche verziehen, weil der größte Teil an ihm einfach toll war und alle ihn mochten und und und… Nein, keine Entschuldigung, das weiß ich heute und gleiches gilt auch für seelische Gewalt! 

All das konnte ich nie gut verarbeiten und bekam mit zunehmender Erblindung immer mehr Angst, jemandem oder etwas hilflos ausgeliefert zu sein. Manchmal konnten, manchmal wollten andere keine Zivilcourage zeigen. Wegen meiner Augen erkannte ich Gefahren oft auch zu spät und befand mich dann inmitten eines heiklen Szenarios. So hielt mir z.B. in meiner Punkzeit einmal ein durchgeknallter Jugendlicher eine Waffe an den Kopf und dirigierte mich damit durch den Halleschen Hauptbahnhof. Todesangst!

Ich begab mich dennoch lebenshungrig in die Welt, ging nach dem Studium Beruf und Berufung nach und ja, ich versteckte meinen Körper nun nicht mehr in wilden Punkklamotten, sondern trug jetzt von der Gothic-Szene inspirierte Röcke und Kleider. Nein, keine Einladung, ich trug sie nicht als Aufforderung! Es gab Taxifahrer, die das nicht begriffen, ich hatte einen widerlichen Stalker am Arbeitsplatz und „falsche Engel“, die mir nicht nur über die Straße, sondern gern auch gleich direkt ins Schlafzimmer helfen wollten. Manchmal rief mich meine Mutter an – meine Eltern wohnen eine Straße weiter – und warnte mich vor Typen, die sich nicht wieder von meiner Haustür entfernten. Ich bekomme heute noch Gänsehaut beim Gedanken daran, dass da jemand um meinen Balkon schlich und in meine Fenster spähte. Hier wünschte ich mir oft mein Augenlicht zurück, um die Lage selber checken zu können.

Ich wollte mich wappnen, suchte schließlich Angebote für Frauen mit Gewalterfahrung in meiner Region und fühlte mich von einer Frauenberatungsstelle im Internet sofort angesprochen. Als ich jedoch dort anrief, sagte man mir, dass man mit blinden Frauen keine Erfahrung habe und bei so etwas Speziellem nicht weiterhelfen könne. Der Anruf bei der kooperierenden Selbstverteidigungs-Trainerin ergab dasselbe. Man ließ mich mit der Aussage zurück, dass der geplante Blindenführhund mich ja dann auch beschützen könne. Dass ein Blindenführhund nicht zur Selbstverteidigung dient, wollte der Dame am anderen Ende leider nicht in ihren Vertröstungsversuch passen. Dabei sprach ich doch mit Frauen, von denen ich glaubte, sie könnten meine Lage gut nachvollziehen. Frau plus Gewalterfahrung, dafür gab es viel Mitgefühl. Frau plus Gewalterfahrung plus blind, das war zu viel Schlimmes auf einmal. Aber genau das erlebe ich so oft bei Fachstellen. Gerade behinderte Ratsuchende sind ja besonders gefährdet, was Statistiken im Falle der Gewalterfahrung eindeutig belegen. Und diese Betroffenen fallen dann doppelt hinten runter. Zum Glück kommt aufgrund aktueller Debatten hier zunehmend mehr in Bewegung. Besonders barrierefreie und niedrigschwellige Soforthilfen und Angebote am Wohnort sind mir wichtig.

 

Jennifer Sonntag im schwarzen Outfit hält ihren Blindenstock hoch in einer Abwehrhaltung. Schräg vor ihr sitzt ihr Blindenführhund.

 

Mein Blindenführhund war längst an meiner Seite, als ich von einem Aktionstag in Halle hörte, an dem auch Selbstverteidigung im Rollstuhl gezeigt wurde. Das ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich telefonierte mit dem zuständigen Verband und bekam die Nummer des Trainers. Raik John, seines Zeichens Präventionslehrer, konnte sich vorstellen, auch mit erblindeten Frauen zu arbeiten. So stellte ich ihn der Leiterin unserer Selbsthilfegruppe „SeH-Blick“ vor und unser Kurs war geboren. Ich schrieb ein Konzept und wir konnten Förderer für unseren Selbstverteidigungskurs gewinnen, da es für blinde Menschen, insbesondere Frauen, in unserer Nähe kein derartiges Angebot gab. 

Seit September 2020 treffen wir uns nun regelmäßig und tasten uns mit großer Begeisterung an die von unserem Trainer vorbereiteten Themeneinheiten heran, die er auf unsere Wünsche und Bedürfnisse abstimmt. Unsere Sinnesbehinderung erfordert beim Training ein besonderes Herangehen. Jede von uns sieht anders, wir vereinen also Frauen in unterschiedlichen Stadien der Sehbehinderung oder Erblindung. Wir sind unterschiedlichen Alters und haben mal ganz ähnliche, aber teilweise auch sehr verschiedene Erfahrungen mit Grenzüberschreitungen gemacht. Auch haben wir Gewalterfahrungen sehr unterschiedlich verarbeitet. Von der ersten Stunde an konnte sich unser Trainer darauf einstellen und eben gerade das herausarbeiten, was für jede von uns am besten funktioniert. 

Das Training hat so viel in mir geheilt und mit jeder neuen Kurseinheit schließt sich für mich eine alte Wunde. Für mich ist Raik als männlicher Trainer hilfreich, denn gerade durch ihn kann ich männliche Übergriffe aufarbeiten. Ich kann aber auch verstehen, dass andere Frauengruppen Trainerinnen bevorzugen, da Männer ja auch immer Traumata triggern können. 

Auch in der Corona-Pandemie stärkte mich mein Training dabei, eigene Grenzen zu behaupten. Sensibilisierungsübungen halfen mir, ein Gefühl für meinen persönlichen Schutzraum zu entwickeln und wahrzunehmen, wann jemand zu nah herankam. Da ich in vielen Alltagssituationen auf Körperkontakt mit Begleitpersonen und auf das Ertasten von Gegenständen angewiesen war, ich mich aber auch gleichzeitig vor einer Ansteckung schützen wollte, lebte ich in ständiger Balance zwischen: Grenzen kommunizieren, Abstand erspüren, Ruhe bewahren, positiv denken, Gefahren möglichst realistisch einschätzen lernen, Hilfe erbitten und der Situation angemessene Entscheidungen treffen. Andererseits beugte unser regelmäßiges Zusammenkommen und die Arbeit an unseren Kraftquellen, immer wenn es die Auflagen erlaubten, sozialer Isolation, Mutlosigkeit, Immobilität und einer sich weiter verstärkenden Opferhaltung vor. 

Einige im Kurs haben durch das schlechter werdende Sehen mit starken Gleichgewichtsschwankungen zu kämpfen. Deshalb ist es uns sehr wichtig, auch an der Vermeidung von Stürzen zu arbeiten oder zu lernen, „richtig“ zu fallen. Blind kann Frau sich das Nasenbein leider nicht nur durch einen menschlichen Angreifer brechen. Aber wir üben auch konkrete Übergriffe abzuwehren, wenn uns z.B. jemand die Handtasche wegreißen will. Dabei wechseln sich Kommunikation und praktische Einheiten ab. Der Präventionsgedanke und eine selbstwirksame Haltung spielen für uns eine entscheidende Rolle. 

Als blinde Menschen, insbesondere blinde Frauen, sind wir auf den ersten Blick vielleicht die „perfekten Opfer“. Doch ich spreche da auch im Namen meiner Mitstreiterinnen: Das sind wir nicht! Ich habe gelernt, was mich weniger zum Opfer macht, wie ich innerhalb meiner Möglichkeiten und Ressourcen destruktive Situationen bewältigen, Ruhe bewahren und Hilfe aktivieren kann. Im Training helfen mir deshalb auch Entspannungstechniken. Generell ist es mir wichtig, ein positives Körpergefühl und Vertrauen in mich zu entwickeln. Die Auseinandersetzung mit Kopf und Körper, meinen ausgleichenden Sinnespotenzialen und meiner Behinderung im Kontext der Selbstbehauptung und Selbstverteidigung kann sich somit auch positiv auf meine selbstbestimmte Haltung in anderen Alltagssituationen und Lebensbereichen auswirken.

Auch wenn ich als blinde Frau viel für meine Stärke tun kann, heißt das im Umkehrschluss nicht: Wer zum Opfer wird, ist zu schwach und selbst schuld. Wenn ich zum Thema Mobbing und Gewalt aufkläre, gibt es in den sozialen Medien immer wieder Menschen, deren Hass sich auf die geschädigte Person richtet. Hier wünsche ich mir einen Selbstverteidigungskurs für den digitalen Raum, nicht zuletzt auch, weil ich dort eine weitere Form der Übergriffe kennenlernte, die mir arg zusetzt. So schreiben mich in steter Regelmäßigkeit Männer an, die sich „von einer blinden Frau sexuell mehr Anschmiegsamkeit und Dankbarkeit“ erwarten oder „sich danach sehnen, mich zu beobachten“. Das schreiben sie, obwohl sie wissen, dass ich seit Jahren in einer festen Partnerschaft bin und in meinen Kunst- und Literaturprojekten für eine selbstbestimmte Sexualität behinderter Frauen stehe. In solchen Momenten wünsche ich mir statt eines PC-Monitors einen Boxsack auf den Schreibtisch. Oder rolle ich doch besser die Yogamatte aus? Nein, ich schnappe mir Blindenführhund Paul und drehe statt einer Wutrunde eine Mutrunde, weil ich mich nach all den Jahren getraut habe, diesen Text zu schreiben und auch andere behinderte Frauen ermutigen möchte, sich aus der Erstarrung zu lösen. 

Du möchtest dich weiter über das Thema informieren? Ich hoffe, dass dir das folgende Material schon ein bisschen dabei helfen kann, den inneren „Mutmuskel“ zu trainieren und sich weniger als „Häschen in der Grube“ gefangen zu fühlen. 

Jennifer Sonntag und ihr Trainer stehen einander gegenüber und üben Techniken der Selbstverteidigung.

Angebote für Selbstverteidigung

Wer sich erstmal vorsichtig an das Thema Selbstverteidigung herantasten, besser heranlauschen möchte, dem sei der Podcast „Einfach Nein“ empfohlen, von dem auch wir Frauen mit Behinderungen sehr profitieren können. Alle Folgen liegen zusätzlich als Transkripte vor und für sehende Interessierte gibt es unterstützendes Bildmaterial.

Unbedingt erwähnenswert ist die Arbeit von „Suse hilft“, wenn ihr von Gewalt betroffen und auf der Suche nach Unterstützung seid.

Gewalt an Menschen mit Behinderungen ist ein Thema, was auch politisch nicht mehr übersehen werden kann. Deshalb setzen viele Städte nun auch Pläne zur Gewaltprävention um. Hier lohnt sich eine Anfrage bei den Beauftragten für die Belange behinderter Menschen nach regionalen Angeboten zur Selbstverteidigung und auch nach passenden Fördermöglichkeiten für Gruppen.

Auch Verbände der Behindertenselbsthilfe, z.B. die Pro Retina, organisieren Kurse, manchmal in Seminarhotels zu bestimmten Events oder auch regelmäßig in der eigenen Community.

Bundesweit gibt es bereits gut organisierte Netzwerke für behinderte Frauen und eine Initiative zur Selbstverteidigung, die auch behinderte Trainerinnen ausbildet. Wer sich für diese Arbeit interessiert, wird auf den Seiten von Wendo-Marburg fündig. Dort gibt es auch den Leitfaden „Nein heißt Nein!“ für Frauen mit Behinderungen, in verschiedenen barrierefreien Fassungen. 

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