Eine Schublade für behinderte Menschen

Das Logo von die neue Norm auf rotem Grund. Rechts davon steht: Die Neue Kolumne. Unten steht: Von Nadine Rokstein.
Lesezeit ca. 3 Minuten

Der Hund einer blinden Person ist nicht automatisch ein Blindenführhund. Doch werde ich als blinde Person mit meinem Hund gesehen, so schließt man von dem Merkmal Blindheit darauf, dass es sich bei meiner Hündin um einen Blindenführhund handeln müsse. Für Außenstehende hat dieser Schluss einen Vorteil: er vereinfacht. Denn von einer Behinderung auf weitere Merkmale zu schließen, ist bequemer, aber auch ableistisch. 

Für mich ist es daher nicht verwunderlich, dass Menschen in eine Abwehrhaltung geraten, wenn sie mit ihren Vorurteilen konfrontiert werden und sich gezwungen sehen, sich nicht nur mit der individuellen Situation auseinandersetzen, sondern auch zu akzeptieren und anzunehmen, dass sie Vorurteile verinnerlicht haben. Diese Erfahrung machte ich, als ich eine Person darüber aufklären wollte, dass es sich bei meiner Hündin nicht um eine Blindenführhündin handele und sie prompt reserviert und beleidigend reagierte. 

Visuelle Kennzeichen, anhand derer man einen Assistenzhund erkennt, werden bei uns ignoriert oder sind nicht bekannt. Denn abgesehen davon, dass meine Hündin nicht gerade groß ist, besitzt sie keine Kennzeichen, die sie als Assistenzhund kennzeichnen würden. Einzig und allein ich bin durch meinen Langstock als blind zu identifizieren. Wir besitzen kein Führgeschirr und auch keine Kenndecke. 

Aber was ist daran so problematisch? Problematisch daran ist, dass viele zwischen einem Haushund und einem Assistenzhund scheinbar nicht unterscheiden können oder wollen. Dies führt vor allem in den Begegnungen zu Problemen. Denn gegenüber Blindenführhunden gelten spezielle Verhaltensweisen, da das Leben einer Person in seiner Verantwortung liegt. Blindenführhunde sollten nicht ungefragt angefasst, gefüttert, angesprochen oder allgemein abgelenkt werden. Es ist vorteilhafter für das Führgespann, wenn man das Team höflich ignoriert. Ansonsten kann die Führarbeit erschwert werden.

Die Annahme über meinen Hund ist kein Einzelfall. Oftmals wird von der Eigenschaft “behindert” auf andere Merkmale geschlossen. Nehme ich nun persönliche Beispiele aus meinen Erfahrungen als blinde Person, so gehen Personen oft davon aus, dass ich besser (zu-)hören könne, dass ich empathischer oder musikalischer sei. Und auch, wenn einiges in der Sichtweise der Personen nett gemeint sein soll, so spricht es mir meine Individualität ab. 

Sie entscheiden nicht nur, welches Merkmal für mich zutreffend ist, sondern auch welche Merkmale nicht zutreffend sein können. So hat mich kaum eine Person mit Fotografie, Arbeit oder alleinlebend assoziiert. 

Plötzlich werden mir Eigenschaften zu- oder abgesprochen. Ich werde in Vorurteile gezwängt, in die ich nicht passe. Umso größer ist dann das Staunen, wenn sich herausstellt, dass ich nicht die Fähigkeiten von Daredevil besitze oder durch mein ADHS manchmal nicht die genaueste Zuhörerin bin. 

Vorurteile, Stigmatisierungen oder auch die strukturelle Diskriminierung von behinderten Menschen nennt sich Ableismus. Wir sind alle ableistisch sozialisiert und haben unreflektiert Vorurteile und Annahmen über behinderte Menschen verinnerlicht . Die Vorurteile sind gesellschaftlich so fest verankert, dass wir mit ihnen aufwachsen. Sie sind verinnerlichte Wahrheiten, die nur durch das Anerkennen der Individualität einer behinderten Person, Inklusion und Reflexion langsam abgebaut werden können.

Natürlich ist es bequem und einfach, eine Person zu kategorisieren. Es geht schnell, erspart eine individuelle Betrachtungsweise und ermöglicht es, eine Gruppe trotz fehlender Begegnungen einzuordnen.

Würden solche Vorurteile fortbestehen, wenn wir mit behinderten Menschen selbstverständlich aufwachsen würden? Wenn sie in Medien selbstverständlich klischeefrei  repräsentiert werden würden? Wenn sie schon immer ein selbstverständlicher Teil unseres Lebens wären, in der Kita, Schule und Arbeitswelt? Wenn es behinderte Lehrer*innen und behinderte Schüler*innen gegeben hätte? Ich denke nicht und glaube, mehr Begegnungen zwischen behinderten und nicht-behinderten Menschen herzustellen, ist sehr wichtig. 

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Eine Antwort

  1. Automatisch zu kategorisieren ist dem menschlichen Gehirn angeboren und hat unser Überleben als Art ermöglicht. Anders gesagt: Wer den Bären erstmal in seiner Individualität wahrnimmt statt sich in Sicherheit zu bringen, wird wahrscheinlich gefressen werden. So konnten genau jene, die schnell kategorisierten zur Fortpflanzung kommen und diese Fähigkeit weitergeben. Mit scheinbarer Diskriminierung, also Ableismus, hat das folglich wenig zu tun. Im Übrigen sollte man, ohne vorher den Menschen am anderen Ende der Leine zu fragen, keinen Hund einfach anfassen oder füttern, egal ob Assistenzhund oder Nurhund.
    Wichtig ist einfach, sich im Klaren zu sein, daß man mitunter mit der zugewiesenen Kategorie daneben liegt und zur Korrektur seiner Annahme bereit ist, wenn man auf normale Weise (ohne Schnappatmung) darauf hingewiesen wird.

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