Die Scheu der Anderen

Das Logo von die neue Norm auf grünem Grund. Rechts davon steht: Die Neue Kolumne. Unten steht: Von Kassandra Ruhm.
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In diesem Jahr habe ich eine Broschüre über den Umgang mit Menschen mit unterschiedlichen Lebenshintergründen in der Beratungsarbeit geschrieben. Ich habe sie aus meiner Perspektive als Psychologin und als Mitglied verschiedener sozialer Bewegungen geschrieben. Im dritten Teil der Broschüre habe ich typische Belastungsfaktoren herausgearbeitet, denen Menschen aus verschiedenen Minderheiten ausgesetzt sind. Diese Belastungsfaktoren in Worte zu fassen, kann helfen, sie leichter zu erkennen, sie nicht als unseren persönlichen Fehler anzusehen und sie zu bekämpfen.

In dieser Reihe zu psychologischen Phänomenen erschienen auch:

Das Logo von die neue Norm auf rosa Grund. Rechts davon steht: Die Neue Kolumne. Unten steht: Von Kassandra Ruhm.

Alltägliche Stresssituationen

In ihrer Kolumne klärt Kassandra Ruhm über psychologische Phänomene auf: “Menschen aus Minderheiten leben häufig mit einem erhöhten alltäglichen Stress, weil sie immer wieder, wie in einer Testsituation, vor der Frage stehen, wie das Gegenüber auf ihre ‘Normabweichung’ reagieren wird.”

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Zwar nicht bei allen, aber doch bei einigen benachteiligten Minderheitengruppen kommt es vor, dass andere Menschen im täglichen Umgang mit ihnen Scheu und Berührungsängste zeigen. Das kann unterschiedliche Gründe haben. Mal ist es die Sorge, etwas falsch zu machen oder versehentlich etwas Unpassendes zu sagen. Zum Beispiel gegenüber behinderten oder erkennbar jüdischen Menschen. Mal ist es die Befürchtung, dass dieser schwarze oder muslimische Mann doch gefährlich sein könnte oder dass die Frau mit Kopftuch homophob oder wenig fortschrittlich wäre oder ein anderes negatives Stereotyp. 

Manchmal wird mit Scheu reagiert, weil man ohne darüber nachzudenken in dieser Gesellschaft gelernt hat, Angehörige der besagten Gruppen wären “fremd” und deshalb keinen großen Wunsch hat, mit ihnen Zeit zu verbringen.  

Bevor man das Risiko eingeht, in dem noch ungewohnten Kontakt etwas falsch zu machen, meidet man die entsprechende Person einfach. Für Angehörige der gesellschaftlichen Mehrheiten ist es so einfach, stattdessen mit jemandem mit den eigenen, vertrauten Merkmalen zu reden und nicht in Kontakt mit der Person aus der (mehrfachen) Minderheitengruppe zu treten. 

Je mehr Minderheiten ein Mensch gleichzeitig angehört, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass die anderen ihn als „fremd“ ansehen. Und ihn hin und wieder lieber meiden. In einer Gesellschaft zu leben, in der Andere häufiger mit Scheu auf mich reagieren, hat Auswirkungen auf das eigene Wohlbefinden und belastet die psychische Gesundheit.

Noch mehr trifft dies auf Menschen zu, die mehreren benachteiligten Gruppen gleichzeitig angehören und sich deshalb nicht in eine Subkultur zurückziehen können, in der sie „normal“ und die Mehrheit sind.

Die fehlende sichere Zugehörigkeit zur eigenen Community

Sich in die eigene Community zurückzuziehen, ist eine wichtige, stützende Ressource für Menschen aus marginalisierten Gruppen. Aber Menschen, die gleichzeitig mehreren Minderheitengruppen angehören, haben oft gar keine Community, in der sie die Entlastung genießen können, sich nicht erklären zu müssen, sondern selbstverständlich und wie alle anderen zu sein. Sie sind fast überall “die Anderen”. 

Subkulturen sind oft relativ getrennt voneinander und auf ein einziges Merkmal bezogen. Zum Beispiel gibt es eine Schwulenszene, in die man sich als schwuler Mann zurück ziehen kann, um dort unbehelligt zu feiern und andere kennen zu lernen. Aber wenn man außerdem of Color, behindert oder muslimisch ist, ist man dort wieder eine Minderheit und das kann es anstrengend machen. Selbst dicke oder alte Männer schildern oft schon Probleme, in der Schwulenszene akzeptiert zu werden, Anschluss zu finden und sich fröhlich zu entspannen. Sowohl Body-Shaming, als auch Ageism (Altersdiskriminierung), aber noch stärker Ableismus (Abwertung und Benachteiligung von behinderten Menschen) können zum Außenseiter machen – während man sonst die Subkultur aufsuchen könnte, um sich unter Gleichen zu fühlen und zu regenerieren. 

Schwule Männer of Color berichten manchmal davon, als Sexobjekt erotisiert und exotisiert zu werden. Sie gelten dann zwar als attraktiv (wenn ihr Körper den Merkmalen: jung, schlank, sportlich und nichtbehindert entspricht), aber es geht trotzdem nicht um gleichberechtigte, respektvolle Begegnungen auf Augenhöhe. Auch rassistische Kommentare machen nicht vor der Schwulenszene halt. 

Ein türkisch-deutscher, heterosexueller Bekannter ist in der türkischen Community nicht mehr in erster Linie Türke, seit er einen Rollstuhl braucht. Heute ist er dort, wo er vorher einer unter vielen war und sich zu Hause fühlte, stattdessen “der Behinderte”. 

Eine Reihe von Menschen, die mehreren diskriminierten Gruppen gleichzeitig angehören, lösen diese Spannung, indem sie sich für eines ihrer Identitätsmerkmale entscheiden und versuchen, das andere in den Hintergrund treten zu lassen. 

Manche andere entscheiden sich gegen jede der Subkulturen. 

Aber Subkulturen können einen positiven, stärkenden Einfluss haben und gut für die psychische Gesundheit sein, weil man dort gleich ist, sich gegenseitig unterstützt und Selbstverständlichkeit erfährt. 

Durch das mehrfache Gefühl, nirgendwo richtig dazu zu gehören, geht diese Ressource verloren.  

Was dagegen helfen könnte? 

  1. Das Leben in einer inklusiven Gesellschaft. Durch mehr Erfahrungen im alltäglichen, gemeinsamen Leben und durch einen gleichberechtigten Umgang miteinander, können sowohl die Scheu im Kontakt, als auch das „Othering“ (zu etwas anderem, fremden gemacht zu werden) und die fehlende Zugehörigkeit in Subkulturen immer kleiner werden. Ich weiß, da sind wir noch nicht angekommen. Und wir werden den Abbau von Vorurteilen und Berührungsängsten durch das Leben in einer inklusiven Gesellschaft nicht auf Knopfdruck innerhalb weniger Tage bekommen. Was können wir also in der Zwischenzeit tun?
  2. Wenn wir genug Kraft haben, können wir auf andere zugehen, ihnen freundlich ins Gesicht blicken und mit ihnen reden. Unabhängig davon, ob wir das aus der Position der Minderheit oder der Mehrheit tun. Wie Lela Finkbeiner in ihrer Kolumne von vorletzter Woche empfiehlt, finde auch ich, dass es gut wäre, nicht als Erstes das zu thematisieren, was mein Gegenüber „anders“ macht. Man kann etwas zur aktuellen Situation und zu dem Kontext sagen, in dem man sich trifft. Oder zum Wetter, zum Essen, zu Interessen, Hobbies oder anderen Dingen, die uns verbinden könnten.
    Wenn andere vor uns Scheu haben, können wir auf sie zugehen, um es ihnen leichter zu machen.
  3. Wenn wir keine Kraft mehr haben, auf andere zuzugehen und wenn es zu weh tut, weil wir schon zu oft abgelehnt worden sind, kann es eine gute Idee sein, sich zurückzuziehen und sich mit Menschen zu umgeben, die normal und nicht mit Befremden auf uns reagieren und uns nicht für unser So-Sein abwerten. Ja, die Gesellschaft wird durch so einen Rückzug nicht inklusiver und die Mehrheit gewöhnt sich nicht mehr an uns.
    Es kann eine tägliche Abwägung sein, wie oft es möglich ist, einen Schritt aus der kleinen, gewohnten Welt heraus und auf andere zu zugehen und wie oft wir uns zurückziehen und schonen müssen. Und uns mit wohlgesonnenen Menschen vor Ort oder mit Gleichgesinnten in digitalen Medien umgeben, um uns auszuruhen und zu regenerieren. 
  4. Es kann helfen, sich mit anderen zusammen zu schließen, um gemeinsam gegen Ableismus und andere Diskriminierungsformen aktiv zu werden.
  5. Diejenigen von uns, die „nur“ mit einem negativ bewerteten Merkmal von der Mehrheit abweichen, haben die Möglichkeit, ihre Subkulturen und Communities einfacher zu nutzen. Außerdem können sie versuchen, Menschen, die zusätzlich noch in anderen Punkten vom Mainstream abweichen, aktiv einzubeziehen und ihnen Respekt und Interesse zu zeigen. 
  6. Außerdem glaube ich, dass es erleichternd sein kann, zu wissen, dass es die Scheu vor Menschen aus verschiedenen Minderheiten gibt. Und dass das nicht unbedingt an uns selbst liegt, nicht daran, dass wir zu unattraktiv oder nicht sympathisch genug wären. Sondern einfach an gesellschaftlichen Berührungsängsten und daran, dass wir noch nicht gewohnt sind, dass Menschen mit verschiedensten Identitätsmerkmalen gleichberechtigt und bunt zusammenleben.
Portrait eines herzlich lachenden Mannes mittleren Alters, der direkt in die Kamera blickt.  Sein Text: Ich wünsche mir, dass sich Nichtbehinderte genauso um einen gleichberechtigten, persönlichen Kontakt mit mir bemühen, wie ich umgekehrt! Zur Person: Dr. Elmar H., Wissenschaftlicher Mitarbeiter, schwerhörig, Cochlea-Implantat-Träger, verheiratet, 2 Kinder
Motiv 23 der Poster-Serie „bunt ist schöner" von Kassandra Ruhm.

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