Barrieren im Kopf

Das Logo von die neue Norm auf hellgrünem Grund. Rechts davon steht: Die Neue Kolumne. Unten steht: Von Katja Lüke.
Lesezeit ca. 3 Minuten

Welche Barrieren sollten zuerst oder mit der höchsten Priorität abgebaut werden? 

Die baulichen Barrieren? Dann könnten z.B. mobilitätsbeeinträchtigte Menschen den Friseur oder Arzt in ihrer Nähe aufsuchen und nicht erst den nächstgelegenen der zufällig oder mit Absicht barrierefrei erreichbar ist. 

Die digitalen Barrieren? Das wäre nicht nur in Zeiten einer Pandemie besonders wichtig und so könnten z. B. blinde und sehbehinderte Menschen ihre Lebensmittel oder andere Dinge ohne Hürden online einkaufen. 

Die kommunikativen Barrieren? Selbstverständliche Dolmetschung von Nachrichten und Beiträgen durch Schrift- und Gebärdensprachdolmetscher*innen? Es wäre längst Zeit, dass alle Menschen zur gleichen Zeit Informationen erhalten können oder einen Film oder Wettbewerb verfolgen können. Als weiterer Aspekt der kommunikativen Barrieren: Umfassende Informationen zum Coronavirus in Leichter Sprache sind lediglich einer engagierten Eigeninitiative zu verdanken. 

Wer soll das entscheiden? Hat doch jeder Abbau von Barrieren eine wichtige Berechtigung. Oft wird in Diskussionen an dieser Stelle gesagt: Lasst uns doch erst einmal bei den Barrieren in den Köpfen beginnen. – NEIN! Bitte lasst uns nicht bei den Barrieren in den Köpfen beginnen. 

Was sind denn eigentlich die Barrieren im Kopf? Sind es die Berührungsängste? Angst, etwas falsch zu machen? Oder sind es nicht auch Vorurteile und sogar Diskriminierungen? Was kann man tun gegen Ängste und Vorurteile? Kann Bewusstseinsbildung helfen?

Bis vor einigen Jahren war Artikel 8 der UN-Behindertenrechtskonvention zur Bewusstseinsbildung mein Lieblingsartikel. Er besagt, dass es Ziel sei, „in der Gesellschaft das Bewusstsein für Menschen mit Behinderungen zu schärfen und die Achtung ihrer Rechte und ihrer Würde zu fördern.“

Mit viel Elan habe ich mit verschiedenen Aktivitäten daran mitgearbeitet, Artikel 8 umzusetzen. Ich habe Plakate und Postkarten zum Thema Inklusion erarbeitet, ich war Mitglied einer Arbeitsgruppe zur Bewusstseinsbildung und war immer bereit zum Austausch über mein Leben und über die Barrieren als Frau im Rollstuhl zu berichten. Schließlich, so dachte ich, ist das „richtige“ Bewusstsein und Sensibilisierung der Mehrheitsgesellschaft wichtig für die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit ihren verschiedenen Behinderungen. 

Wer schon in der Schule (nicht nur in der Grundschule!) Menschen mit Behinderungen kennengelernt hat, weiß, die können nett oder arrogant, schüchtern oder aufdringlich, laut oder leise sein. Wie alle anderen Menschen auch. Wer durch den Arbeitsplatz Menschen mit Behinderungen als Kolleg*innen kennt, weiß, Menschen mit Behinderungen können fleißig oder bequem sein, teamfähig oder unkollegial, Chef*in oder Praktikant*in. Wie alle anderen Menschen auch. Wer in der Nachbarschaft Menschen mit Behinderungen hat, weiß, die können mal nach Unterstützung fragen oder sehr selbständig agieren, die Blumen der Nachbarn mitgießen oder an Nachbarschaftshilfe nicht interessiert sein, sich gemeinsam für das Viertel engagieren oder zurückgezogen sein wollen. Wie alle anderen Menschen auch. 

Eine Möglichkeit, wie es wirklich zur Bewusstseinsbildung kommen kann, ist, über Begegnungen mit Menschen mit Behinderungen. Davon gibt es immer noch zu wenige! Deshalb wünsche ich mir heute mehr Barrierefreiheit. Die Bewusstseinsbildung kann daraus folgen. Denn, wie kommt es zu Bewusstseinsbildungen und Begegnungen? In dem diese überhaupt möglich und ermöglicht werden, und zwar durch Barrierefreiheit. Heute verzichte ich gerne auf Bewusstseinsbildung durch schöne Plakate, motivierende Filme (auch wenn ich gerade einen richtig guten gesehen habe: We The 15) oder gemeinsame Feste einmal im Jahr. Was Menschen mit Behinderungen brauchen, ist Barrierefreiheit, auch durch Gesetze. Dann sorgen Menschen mit Behinderungen für Bewusstseinsbildung. Indem sie teilhaben und dabei sein können. Behinderte helfen Nichtbehinderten.

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7 Antworten

  1. Ich glaube daran: Verschieden normal sein, als eine Grundhaltung, die es ermöglicht, in Beziehung zu sein, sich auf Beziehung einzulassen und den Wert schätzen zu lernen was ist!

  2. Ohhh – meine Antwort geht weiter. (Zeilenumbruch ist nicht beim Kommentar erlaubt.) Meine rein persönliche Meinung: Zur wirklichen Bewusstseinsbildung gehören alle Aspekte und Maßnahmen, die Sie auch beschreiben. Und ja, die Begegnungen sind sehr wichtig. Zum Abbau der realen Barrieren gehört für mich auch der Wille des Menschen (Barrieren im Kopf). Der Wille kann zur Achtung des Menschen (mit Behinderung) führen. Und nicht nur zur Beachtung der Behinderung. Ein großes Hindernis ist für mich, dass viel zu viele Menschen mit Behinderung in Stationären Einrichtungen leben (beschönigend “Komplexeinrichtung”) und kaum mal rauskommen in die Gesellschaft. Und wenn – in geführten Gruppen, was dann Inklusion genannt wird. Für mich wird die Inklusion damit verächtlich gemacht. Wie sollen so Begegnungen stattfinden? Ein großes Hindernis ist auch, dass wir Menschen uns in Deutschland über Leistung definieren. Was ‘leistet’ ein Mensch mit Behinderung? Nach meiner Überzeugung sehr viel. Aber nicht in der Ansicht der allgemeinen Gesellschaft. Es gibt also noch in allen Bereichen viel zu tun. Öffnen wir die Stationären Einrichtungen, lass uns alle Menschen zum Stadtbild gehören, haben wir Mut zur Begegnung. Gehen wir alle einen Schritt aufeinander zu. Liebe Grüße Wolfgang Vogt

    1. …und Danke für Ihren Beitrag, Herr Vogt! Ich stimme Ihnen zu, die stationären Einrichtungen müssen mehr geöffnet werden und deren weiterer Ausbau als Komplexe nicht mehr gefördert werden. Das Stadt- und Dorfbild sollte bunter werden! Es stimmt, dazu gehört der Wille der Menschen in der Politik und natürlich wäre auch der Wille vieler anderer Menschen mindestens schön, teilweise eben leider notwendig. Bei allen anderen möchte ich -und wünsche das auch allen anderen- aber nicht mehr von deren Wille abhängig sein. Wenn ich mal in Würzburg bin besuche ich das Cafe Petit!

  3. Herr Wolfgang Vogt hat es treffend formuliert: “Zum Abbau der realen Barrieren gehört für mich auch der Wille des Menschen (Barrieren im Kopf).”
    Leider haben viele Menschen nicht diesen Willen und sind auch nicht daran interessiert, sich für die Belange Anderer sensibilisieren zu lassen (Bewusstseinsbildung). Damit schließt sich für mich der Kreis: Ohne dem Abbau der tatsächlichen baulichen Barrieren (einschl. Nutzung von Internet etc.) die Priorität einzuräumen, wird es nicht gehen. Der Mensch ist nun mal bequem und möchte von sich aus nichts ändern. Nur Gesetze mit Sanktionen bei Nichtbefolgung können wirksam helfen.

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