Als Überlebender sexualisierter Gewalt

Das Logo von die neue Norm auf orangem Grund. Rechts davon steht: Die Neue Kolumne. Unten steht: Von Malte Sandbach.
Lesezeit ca. 5 Minuten

Triggerwarnung

In dieser Kolumne geht es um die Themen sexualisierte Gewalt, Ernährungsstörung und Depressionen.

Während uns Behinderten von der Mehrheitsgesellschaft oft unsere Sexualität abgesprochen wird, überleben viele von uns sexualisierte Gewalt oder gehen daran zugrunde.

Ich habe keine Ahnung, wie jung ich damals war, und werde es auch nicht erfahren. Keine Ahnung, was das sollte, worum es ging, in diesem „Mann-und-Frau-Spiel“ meiner 5 Jahre älteren Schwester. Mit „erwachsenerer“ Sexualität konnte ich als Kleinkind selbstverständlich gar nichts anfangen und wusste nichts darüber. Aber ich fand dieses „Spiel“, zu dem ich gezwungen wurde, unangenehm und eklig.

Heute weiß ich, es handelte sich um sexualisierte Gewalt. Zu einer Zeit, an der die Welt noch völliges Neuland für mich war, und die Weichen für das spätere Leben gestellt wurden.

Es war Folter. Sie gehört zu meinen frühesten Erinnerungen und hat Narben auf meiner Seele hinterlassen. Besser gesagt, offene Wunden, durch die ich mich wieder und wieder „infizierte“. Zum Beispiel, weil ich nicht richtig lernte, im Umgang mit meinem Körper Grenzen zu ziehen und Albträume, Ängste, Ernährungsstörungen (Appetitlosigkeit) und anderes durchlitt. Im Verlauf meines Lebens wurde ich immer wieder krank. Ja, sexueller Missbrauch kann auch dazu führen.

Dazu kommt, dass Körper mit Behinderungen zu „Objekten“ von medizinischen Behandlungen und Abwertungen gemacht werden, die den eigenen Zugang zu sich selbst, ein positives Verhältnis zum eigenen Körper und zur Lust erschweren. Auch das ist eine Form von Missbrauch, auf einen „Defekt“ reduziert zu werden und als Neutrum behandelt zu werden. Wer gelernt hat, bei den verschiedensten Arten von Behandlungen Schmerz, Bloßstellung und andere Grenzüberschreitungen klaglos über sich ergehen zu lassen, wehrt sich bei anderen Grenzüberschreitungen oft nicht mehr automatisch. Einen positiveren Weg zu mir zu erlernen war (und ist) schwere Arbeit, so lange blieb ich anfällig für Misshandlungen. Eine Retraumatisierung wartete oft schon an der nächsten Ecke.

Meine Behinderung wurde diagnostiziert, als ich bereits sechs Jahre alt war. Spürbar war sie früher, aber stellte anscheinend kein großes Problem dar. Damals waren ihre Auswirkung noch gering, im Rollstuhl sitze ich erst seit meinen 20ern. Ohne die Erfahrungen in meiner Kindheit wäre ich sehr viel später oder auch gar nicht in den Rollstuhl gekommen, und meine Psyche wäre wahrscheinlich gesund.

Ich war bereits als Junge depressiv verstimmt oder war, als ich etwas älter wurde, ganz in die Depressionen gerutscht, in denen ich nicht mehr leben wollte. Nichts an mir mochte ich. An Selbstwertgefühl war praktisch nichts da. Die Art, auf die ich als behinderter Mensch behandelt wurde, tat ihr Übriges. Mein ganzes Leben lang werde ich von Depressionen und Unsicherheit begleitet.

Den jungen Begriff „Ableismus“ gab es damals nicht, den Terror schon. Und die positiven und negativen Klischees über Behinderte, die der Begriff umfasst ebenso. Es lohnt, sich im Netz zu diesem Thema zu informieren, ich gehe an dieser Stelle nicht weiter darauf ein.

Ein gutes Leben mit Behinderung ist fast immer möglich, wird aber sehr oft unmöglich gemacht, und die schädigenden Folgen daraus wurden auf mich und meine Behinderung geschoben. Besonders wenn ich psychisch verletzt war, sollte es an der Behinderung liegen. Auf ihr wurde ständig herumgeritten. Aber andersherum spielte meine Behinderung meist plötzlich keine Rolle mehr, wenn ich völlig erschöpft war und Erholung brauchte. Danke auch!

Groß geworden bin ich in den 70ern, im letzten Jahrtausend. Es war nicht unüblich, dass Kinder in der Familie geschlagen wurden. Ein gängiges Instrument der Erziehung, etwa bis Mitte der 70er auch an den Schulen. Die Mädchen galten als die Braven. Für Jungs waren und sind andere Stereotypen vorgesehen. Sie werden jedem bekannt sein, genau wie die über Frauen und Mädchen, darum führe ich das ebenfalls nicht weiter aus. In Ansätzen wächst aktuell glücklicherweise das Bewusstsein dafür.

Eine weitere frühe Erinnerung. Das Licht ging plötzlich an, ich wusste nicht einmal, wo ich war. Nach der Dunkelheit zu grell, um etwas sehen zu können. Ich werde aus dem warmen Bett der Schwester gerissen, sie wird nicht angerührt. Ich hatte geschlafen.

Gebrüll, Schläge. Warum wusste ich nicht, auch in meiner Erinnerung war nichts vorgefallen, was dieses Verhalten der Eltern erklären würde. Heute, in meinen 50ern, kann ich mir leicht zusammenreimen, dass es etwas mit den (mehrfachen) Missbräuchen zu tun hatte. Sie wussten also irgendetwas, das ist aktuell meine Schlussfolgerung. Als kleiner Junge war ich vollkommen verloren und ausgeliefert und konnte nichts einordnen. Täter-Opfer-Umkehr und Geschlechterrollenzuweisung, machen es so verdammt schwer, als männliches Opfer die Schuld den Tätern und Täterinnen zuzuordnen und nicht an sich selbst zu zweifeln. Wie hätte ich mich da auch orientieren und wehren können? Das gelingt schon Erwachsenen eher selten.

Es ist unschätzbar wichtig, früh über Sexualität aufzuklären, für Privatsphäre zu sorgen und Hilfen anzubieten, besonders bei vielen behinderten Menschen. Sexualisierte Gewalt passiert fast immer im engsten Umfeld, beispielsweise in Familien oder Behinderteneinrichtungen.

Wünsche und Aussagen behinderter Menschen gebührend ernst zu nehmen, auch als Verbündeter für sexuelle Selbstbestimmung einzutreten, beugt ebenfalls sexualisierter Gewalt vor. Die Realität der Gewalt gegen Behinderte darf nicht mehr als Nischenthema oder als sei sie gar nicht existent behandelt werden. Sie muss laut mitgenannt werden, nicht bloß “mitgemeint”, wenn Themen wie Gewalt und/oder sexualisierte Folter behandelt werden. Wir müssen auch lernen, dass sogenannte „Schonräume“ „für“ Behinderte strukturelle und oft auch noch personelle Gewalt mit sich bringen.

In der Relation am stärksten betroffen von Missbrauch sind behinderte Frauen, am wenigsten geklärt ist vermutlich die Situation behinderter Männer. Allerdings sind die Studien zum Thema binär angelegt, Mann oder Frau. Über nichtbinäre und intersexuelle Opfer gibt es wenig zu erfahren, genau wie über betroffene trans Menschen. Die Dunkelziffer ist sicher bei allen sehr hoch. Gerade Jungs und Männer tun sich schwer damit, zu erkennen, wann ihre Grenzen verletzt wurden, und sie stehen an der Spitze bei Fällen von Suizid. Das hat ebenfalls mit den von Kindesbeinen an internalisierten Geschlechterrollen zu tun. Männer werden oft als Täter gesehen, es wird selten gesehen, dass sie auch Überlebende und Opfer sexualisierter Gewalt sind. Dann passiert es schnell, dass sie gar nicht wahrgenommen und ausgeblendet werden.

„Das ist alles? Deshalb so ein Geschrei?“ höre ich meinen inneren Kritiker. Und nein, das ist nicht „alles“. Es ist das, worüber ich etwas ausführlicher sprechen wollte. Es war nicht das Ende von Gewalt und sexueller Folter.

Herzlichen Dank an Kassandra Ruhm, die meinen Text gegengelesen hat!

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2 Antworten

  1. Vielleicht von Interesse?

    “Ihre Geschichte – von sexueller Gewalt berichten.
    Sie sind von sexueller Gewalt in Kindheit und Jugend betroffen und möchten darüber berichten? Betroffene können sich der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs in einer vertraulichen Anhörung – aktuell auch im Videoformat – oder in einem schriftlichen Bericht mitteilen. Dabei zählt jede Geschichte”

    https://www.aufarbeitungskommission.de/

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