Behinderungen durch Spielzeug normalisieren

Fünf handgemachte Puppen mit Behinderungen sitzen nebeneinander. Einige tragen Orthesen, eine andere sitzt im Rollstuhl.
Nicole fertigt Puppen mit Behinderung, die aussehen wie die Kinder, für die sie gemacht werden. | Foto: Nicoletta's Handicap Dolls
Lesezeit ca. 8 Minuten

Puppen mit Behinderungen gibt es kaum. Kinder mit Behinderungen, die davon profitieren können, sich in ihrem Spielzeug wiederzuerkennen, gibt es allerdings genug. Karina Sturm hat mit Nicole gesprochen, die diese Marktlücke mit detailreicher Handarbeit zu schließen versucht.

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In diesem Artikel geht es um Puppen. Puppen sehen ganz verschieden aus. Doch eine Art von Puppen fehlt oft: Puppen mit Behinderungen. Dabei sind sie ganz wichtig für Kinder. Kinder können mit den Puppen lernen: Behinderung ist nicht schlimm. Es gibt noch andere wie mich. Ich bin ganz normal. Das hilft Kindern. Ein Kind hat vorher nie gesprochen. Dann hat es seine Puppe bekommen. Es hat dann mit der Puppe gesprochen. Man sieht: Kinder können ganz viel beim Spielen lernen. Auch sich selbst normal zu fühlen.

In den Läden kann man solche Puppen nicht kaufen. Deshalb hat Nicole beschlossen: Ich nähe ab jetzt selbst Puppen mit Behinderung. Die Puppen sehen aus wie die Kinder, für die sie gemacht werden. Es gibt: Puppen mit Rollstuhl, Puppen mit Brille, Puppen mit einem Bein, Puppen mit Narben und noch viele andere.

Kinder mit Behinderungen und chronischen Krankheiten fühlen sich häufig ausgeschlossen, auch wenn es um Spielzeug geht. Jedes Kind will sich selbst sehen und gesehen werden. Doch gerade da hakt es in Deutschland. Mit ‘Nicoletta’s Handicap Dolls’ kreiert Nicole Puppen, die wie ihre kleinen Besitzer*innen aussehen.

“Ich möchte Kindern ein Lächeln und strahlende Augen ins Gesicht zaubern.”

Das ist Nicoles Mission. Seit 2018 näht sie Puppen mit den verschiedensten Behinderungen. Während unseres Interviews sehe ich im Hintergrund zwei ihrer Kreationen sitzen: Eine Puppe mit langen, roten Haaren, die eine Beinorthese trägt und eine andere, mit braunen, langen Haaren mit einer Magensonde. In den letzten Jahren hat die 41-Jährige rund 150 ihrer ‘kleinen Held*innen’, wie sie ihre Puppen nennt, genäht und damit behinderten Kindern zum ersten Mal ermöglicht, dass auch sie sich in ihrem Spielzeug erkennen können.

Obwohl in Deutschland im Jahr 2019 insgesamt 7,9 Millionen Menschen als ‘schwerstbehindert’ galten – davon sind mehr als 100.000 Kinder unter 6 Jahren – fühlen sich Kinder mit Behinderungen von ihrem Spielzeug eher selten repräsentiert. Barbie ist mit deren Fashionista-Linie eine der wenigen Ausnahmen, die Puppen mit Behinderungen anbietet. Die beliebten Puppen gibt es mit Rollstuhl, Beinprothese und Vitiligo. Ansonsten aber spiegelt sich die Vielfalt der deutschen Bevölkerung nicht in den Spielzeuggeschäften wieder.

Von der Arzthelferin zur Puppennäherin

Nicole will das ändern. Sie produziert ihre Puppen im Hochbetrieb und hofft so, für mehr Diversität in deutschen Spielwarenläden zu sorgen. Zwischen 10 und 15 Stunden braucht sie im Schnitt, um eine Puppe fertigzustellen und ihre Warteliste wird immer länger. “Ich habe mittlerweile so viele Bestellungen, dass ich ein halbes Jahr Wartezeit habe”, sagt Nicole. Fast jeden Tag bekommt sie Nachrichten von Familien mit Kindern mit den verschiedensten Behinderungen: Kinder mit Amputation, Herzoperationen, Magensonden; Kinder, die Rollstühle oder andere Hilfsmittel wie Orthesen, nutzen. Solche Puppen gibt es in keinem herkömmlichen Geschäft zu kaufen.

Dass die ehemalige Arzthelferin heute den ganzen Tag Puppen näht, hätte sie sich vor wenigen Jahren nicht vorstellen können. “Handarbeit war überhaupt nicht meins. Als Linkshänderin hatte ich im Textilunterricht katastrophale Noten”, lacht Nicole. Das Nähen hat sie sich erst später selbst beigebracht. “Nach 20 Jahren in meinem Job als medizinische Fachangestellte hatte ich einfach keine Lust mehr. Ich brauchte eine Veränderung”, erklärt Nicole. Sie kündigt ihren Job, stößt kurz darauf auf eine Stellenanzeige für die private Betreuung eines behinderten Kindes, und wird eingestellt. “Der kleine Kämpfer hatte 2017 eine OP, bei der er eine Magensonde bekommen hat”, sagt Nicole. Die normalen Babyklamotten, die im Schritt zugeknöpft werden, waren für die Magensonde schlecht geeignet. “Ich hab’ dann angefangen an der Nähmaschine zu üben, um später einen Babybody zu nähen. In der Mitte des Bodies brachte ich eine Knopfleiste an und zusätzlich nähte ich einen kleinen Rucksack, für den Beutel mit der Nahrung zur künstlichen Ernährung.”

Eine handgemachte braunhaarige Puppe mit Magensonde und Brille sitzt auf einer Bank.
Foto: Nicoletta's Handicap Dolls
Eine handgemachte blonde Puppe ist Oberkörper frei und man sieht verschiedene Narben am Bauch.
Foto: Nicoletta's Handicap Dolls

Mit ihren selbstgenähten Accessoires bewirbt Nicole sich für den DORTEX Design Award und gewinnt ein Preisgeld von 1500 Euro, von dem sie sich die erste richtige Nähmaschine kauft. Zeitgleich kommt Nicole die Idee, Puppen mit Behinderungen zu nähen. Ihre erste Puppe, Peggy, eine Repräsentation ihres Tageskindes, hat Nicole bis heute aufgehoben. Kurz darauf startet sie über Facebook ihr Puppenbusiness, das schnell zum Selbstläufer wird.

Friedas Puppe Rosalie

Die 2-jährige Frieda ist eines der Kinder, die eine von Nicoles begehrten Puppen erhielt. Mama Elisabeth war schon vor der Geburt ihrer Tochter klar, dass sie für ihr Mädchen genau so eine Puppe haben möchte.
“Wir haben in der 12. Woche erfahren, dass Frieda eine große Omphalozele hat. Das heißt Magen, Darm und Leber lagen außerhalb des Bauches in einem Bruchsack”, erinnert sich Elisabeth. Die Ärzte legten Elisabeth eine Abtreibung nahe, doch für sie war selbstverständlich, dass sie Frieda haben wird.  In ihrem Umfeld stößt sie damit häufig auf Unverständnis. “Jemand hat zu mir gesagt: ‘Heute muss man doch kein behindertes Kind mehr bekommen.’” Direkt nach der Geburt wird Frieda zum ersten Mal operiert. “Insgesamt waren es sieben Operationen, bis alle Organe wieder im Bauch waren”, sagt Elisabeth. “5 Monate lag sie dann auf der Intensivstation.” Zusätzlich zur Bauchfehlbildung lebt Frieda außerdem mit einer zu kleinen Lunge, für die sie lange zusätzlichen Sauerstoff benötigte. Die lange Zeit der Beatmung führte dazu, dass Frieda eine Essstörung entwickelte. “Frieda kannte von Geburt an nichts anderes, weshalb sie sich mit den ganzen Schläuchen und Monitoren gut arrangiert hat. Weil sie auch nicht so viel Kontakt zu anderen Kindern hatte, war dieses ‘Vergleichen’ auch nicht so präsent”, sagt Elisabeth.

Elisabeth findet, dass im Alltag häufig die Eltern das Problem seien. Zum ersten Geburtstag von Frieda besuchte die Familie einen Tierpark. Frieda saß mit dem Sauerstoffschlauch in der Nase in ihrem Rehabuggy. “Ganz viele Kinder haben ihre Eltern gefragt, was mit Frieda ist. Und die meisten Eltern haben ihre Kinder daraufhin weggezogen und gesagt, dass man sowas nicht fragen dürfe”, erklärt Elisabeth. “Gerade deshalb gehören Puppen mit Behinderung in den Kindergarten. Wie sollen andere Kinder denn sonst was über die verschiedenen Behinderungen lernen? Und warum muss man solche Puppen extra anfertigen lassen? Warum gibt es sowas nicht normal zu kaufen?”

“Behinderung muss zur Norm werden. Die Menschen müssen verstehen, dass Vielfalt so etwas Schönes ist!”

Zu ihrem zweiten Geburtstag bekommt Frieda ihre Puppe Rosalie, die genau wie Frieda eine große Narbe und Hernie in der Mitte ihres Bauchs hat. Friedas Reaktion kam selbst für Mama Elisabeth unerwartet. “Frieda war bislang nie wirklich puppenfanatisch, aber mit Rosalie war das anders”, sagt Elisabeth. Ganz behutsam öffnet Frieda das Geschenkpapier, reicht die Reste ihrer Mama und sagt “Danke”, gefolgt von “Puppe”. Als sie die ganze Rosalie ausgepackt hat, fängt sie an zu strahlen, gibt der Puppe einen Kuss, legt dann ihren Kopf auf Rosalies Bauch und sagt: “Schatzi.”

Ein Kleinkind mit blonden lockigen Haaren umarmt eine Puppe, die ihm ähnlich sieht.
Die kleine Frieda mit ihrer Puppe Rosalie | Foto: Elisabeth Zattler

Heute teilt Frieda alles mit ihrer Rosalie: Wenn Frieda aufs Töpfchen geht, dann darf Rosalie auch auf ihr eigenes kleines Töpfchen. Die Puppe war auch mit im Krankenhaus, als Frieda vor Kurzem eine PEG-Sonde gelegt wurde, über die sie ernährt wird. “Rosalie hat uns schon viele Situation erleichtert”, sagt  Elisabeth. Besonders glücklich ist Frieda mit ihrer Sonde noch nicht. “Sie lässt sich nicht an den Bauch fassen und wir dürfen die Sonde nicht sauber machen. Gerade deshalb ist die Puppe umso wichtiger. Frieda kann dann alles selbst an Rosalie ausprobieren.”
Mama Elisabeth hofft, wenn auch Rosalie eine Sonde bekommt, ist es für Frieda einfacher ihr neues Hilfsmittel anzunehmen. Deshalb bearbeitet Nicole die Puppe nun erneut nach, damit Rosalie auch die 2,5-jährige Frieda repräsentiert.

An Hilfsmitteln in Spielzeuggröße mangelt es

Dass die Puppen ihre kleinen Besitzer akkurat widerspiegeln, ist gar nicht so einfach, denn viele der Hilfsmittel sind in Deutschland nicht als Miniaturausgabe zu bekommen. Rollstühle für die Puppen, zum Beispiel, seien nur von einem Hersteller erhältlich und dort seien sie konstant ausverkauft. Andere Hilfsmittel, wie Orthesen in Puppengröße werden speziell für Nicole vom Sanitätshaus produziert, das auch die kleinen Besitzer*innen mit Hilfsmittel versorgt. “Die Magensonden baue ich selbst; Brillen bekomme ich vom Optiker. Das sind Brillen, die nicht mehr verkauft werden können”, erzählt Nicole. Abgelaufene Beatmungskanülen, die normal im Müll landen würden, bekommt sie vom Hersteller direkt. “Viele Kinder nutzen auch einen Rollator. Der ist nicht nur für Omis. Die gibt’s aber nicht zu kaufen. Genauso wie Orthesen.”

Dieser Mangel an alltäglichen Hilfsmitteln in Spielzeugversion ärgert Nicole. “Wenn ich mir jetzt mal Baby born anschaue: Da kann man jegliche Lebenssituation nachstellen. Es gibt sogar eine Dusche für Baby born, aus der Wasser herauskommt. Es gibt einen Roller und Fahrradhelm. Wieso kann man nicht auch eine Lebenssituation für Kinder mit Behinderung nachspielen?”, fragt Nicole mit erhobener Stimme. “Ich verstehe das nicht! Dabei geht’s hier doch um Inklusion. Wir können nicht nur von Inklusion erzählen, sondern müssen Inklusion irgendwann mal leben.”

Es wird Zeit, dass es in unseren Spielzeugregalen Spielzeug gibt, das Diversität widerspiegelt.

Nicole ist oft hin- und hergerissen, denn ein Business will sie nicht wirklich betreiben. Für sie ist ihr Unternehmen eine Herzensangelegenheit. Über das Finanzielle spricht sie nicht gerne. Um auch Familien, die sich keine Puppe leisten können, die Chance zu geben trotzdem eine zu erhalten, gibt es sogenannte ‘Patenschaften,’ bei denen Personen, die Nicoles Mission unterstützen wollen, die Kosten vorab decken. “Ich würde mir wünschen, die Eltern würden mir sagen, wenn sie sich keine Puppe leisten können”, sagt Nicole. “Ich habe immer noch Paten, die warten und fragen, ob ich jemanden gefunden habe, der eine Puppe braucht, aber sie nicht bezahlen kann. Aber ich kann ja niemanden vermitteln, wenn die Familien sich nicht trauen, mir das zu offenbaren.”

Kein Beruf, sondern eine Berufung

Für viele Familien sind Nicoles Puppen unbezahlbar. An eine Geschichte erinnert sie sich ganz besonders. “Eine Mama hat mir vor Kurzem geschrieben, dass der ‘Mini-Dean’ dem ‘Maxi-Dean’ das Leben gerettet hat.” Dean war damals neun Jahre alt, lebte sehr zurückgezogen und sprach nicht – bis er seine Puppe erhielt. “Er hat nie gesprochen, doch plötzlich fing die Puppe an zu sprechen.” Dean nutzt seine Puppe, um zu kommunizieren und erzählt von Mobbing in der Schule und vielen anderen Dingen, von denen niemand zuvor wusste.

Als ich Nicole frage, was sie sich für die Zukunft wünscht, schießt es sofort aus ihr heraus: “Menschen mit Behinderung gehören in unsere Mitte und müssen genauso behandelt werden, wie alle anderen Menschen. Vielfalt muss gelebt werden. Und das von klein auf.” Und Nicole hat auch schon eine genaue Vorstellung davon, was sie dazu beitragen kann. Mit ihrer neuesten Idee, Miniatur-Rollstühle und Rollatoren in der 3D-Druckerei anfertigen zu lassen, will sie beim diesjährigen ‘Innovationspreis des Landkreis Göttingen für Integration und Soziales’ antreten. Selbigen Preis hatte sie bereits 2018 gewonnen. “Wenn das so läuft wie mit meinen Puppen, dann nimmt das hoffentlich auch von selbst seinen Lauf”, sagt Nicole. Sie hofft, dass dann auch Spielzeughersteller auf sie aufmerksam werden und in Zusammenarbeit mit Nicole inklusive Produkte produzieren.

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2 Antworten

  1. Diese Idee finde ich zweifach genial!
    1. Behinderte Menschen finden dadurch ihres Gleichen.
    2. Nicht behinderte Kinder verlieren vielleicht Berührungsängste zu Behinderte Menschen.
    SUPER!

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