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Auf den Seiten 82 bis 88 ist der Artikel: “Unsichtbare Behinderungen und die Wirkung von Tabus auf die Psyche”

Unsichtbare Behinderungen und die Wirkung von Tabus auf die Psyche

Eine Person sitzt in einem Zimmer auf einem Stuhl und schaut aus dem Fenster.

Zu der eigenen Behinderung stehen. Garnicht leicht – besonders, wenn die Art der Behinderung eine, von der Gesellschaft tabuisierte, Erkrankung ist. Unsere Autorin beschreibt in ihrem Text erstmals öffentlich, welche psychische Belastung ihr jahrelang geführtes Versteckspiel für sie war und wie wichtig es ist, sich selbst zu akzeptieren.

„Hallo! Ich freue mich sehr, dich kennenzulernen, und bin zu 70% schwerbehindert.“ Das klingt nach einem heftigen Einstieg und vielleicht ist er es auch. In den 18 Jahren meines Lebens habe ich mir häufig gewünscht, ein Gespräch genau wie beschrieben zu beginnen. Abgesehen von den zahlreichen Arztbesuchen ist es jedoch nie auch nur ansatzweise dazu gekommen.

Unsichtbar behindert

Seit meiner Geburt lebe ich mit „Spina Bifida“. Für Kinder, die mit Spina Bifida auf die Welt kommen, sind die häufigsten Folgen Inkontinenz und eingeschränktes bis nicht vorhandenes Gehvermögen.

Für mich bedeutete das mit gerade mal einem halben Jahr die erste von vielen Operationen. Entgegen der Erwartung meiner Ärzt*innen ist es mir heute möglich, ohne Einschränkungen zu gehen. Nach außen war ich dann ein Kind wie alle anderen, vollständig gesund. Doch das entspricht nicht meiner Realität. In meinem Fall stellt Spina Bifida eine – von meinen Narben abgesehen – weitestgehend unsichtbare Behinderung dar. Was das konkret heißt? Ich habe eine Blasen- und Darminkontinenz, regelmäßig mit Harnwegsinfekten zu kämpfen, wenig Gefühl auf der Rückseite meiner Beine und in meiner linken Gesäßhälfte. Während all‘ dieser Zeit waren Arztbesuche und Medikamente meine treuen Begleiter.

Kindheit mit Versteckspiel

Meine Familie wusste immer über meine gesundheitliche Kondition Bescheid, schließlich haben sie mich bei Operationen unterstützt und regelmäßig besucht. Anderen erzählte ich nichts davon. Dass innerhalb meiner Familie eine solche Offenheit über meine Erkrankung herrschte, ließ sich unter anderem deshalb nicht vermeiden, weil ich bis zu meinem fünften Lebensjahr regelmäßig Harnwegsinfekte hatte und eine Windel tragen musste, da ich inkontinent war.

Etwas Erleichterung diesbezüglich verschaffte mir – besonders mit Blick auf die kommende Schulzeit – das Katheterisieren. Katheterisierung meint das Einführen eines Schlauches in die Harnröhre, um damit bewusst den Urin aus der Blase zu entleeren. Diese Technik sollte ursprünglich meine Mutter erlernen, als ich fünf Jahre alt war, und viermal am Tag bei mir ausführen, doch für mich war es unverständlich, dass meine Mutter lernen sollte, meine Blase zu entleeren, weil ich dann ja immer noch von ihr abhängig wäre. Also habe ich die Pflegekräfte gebeten, es mir zu zeigen und schließlich die Selbstkatheterisierung erlernt.

Damit wurden die Infekte zwar weniger, aber ich habe stets mit dem Gedanken gelebt, dass sich jederzeit meine Blase und der Darm entleeren und die Windel füllen könnten. Zu Hause war das weniger ein Problem; in der Schule habe ich aber permanent mit der Angst gelebt, eine*r meiner Mitschüler*innen könnte etwas bemerken oder gar riechen. Auch das Wechseln der Windel habe ich immer auf einer extra eingerichteten Toilette vornehmen müssen und stets gehofft, dass mich niemand beim Betreten dieser „speziellen“ Toilette sah. Zwar wurde ich nie auf einen Geruch hingewiesen, aber besonders im Sportunterricht, habe ich es dann selbst oft bemerkt und musste dann auffällig oft den Unterricht kurzzeitig verlassen. Noch viel anstrengender war der Schwimmunterricht; hier eine Windel unauffällig an- und auszuziehen und während des gesamten Unterrichtes Panik zu verspüren, war jedes Mal eine Überwindung. Natürlich gab es Einzelumkleiden, doch das möchte man als Kind nicht. Denn sonst würde man ja von seinen Mitschüler*innen gefragt werden, warum man das macht, oder sogar ausgelacht werden.

Wenn dann doch mal jemand etwas bemerkt hat, habe ich mir irgendetwas ausgedacht und selbst Freund*innen angelogen. Denn auch bei ihnen fiel es mir schwer, meine Inkontinenz zu offenbaren. Noch heute ist es eine meiner größten Ängste, einen „Blasenunfall“ oder „Darmunfall“ zu haben. Diese Begriffe haben meine Eltern und ich benutzt, damit ich nicht die für mich unangenehmen und allgemein verpönten Worte des Einpinkelns und Einstuhlens nutzen musste. Noch heute bereitet meine Inkontinenz mir Panik, bodenlose Furcht und sogar Alpträume. Und das wundert mich noch nicht einmal. Denn man stelle sich einmal vor, mitten in der Grundschulklasse zu sitzen, sich am Unterricht zu beteiligen, und plötzlich wird einem auf einmal siedend heiß bewusst, dass man kaum Gefühl in Bezug auf den Füllstand der Blase und überhaupt keine Kontrolle über die eigenen Schließmuskeln hat. Und wenn man dann merkt, wie die Windel sich plötzlich füllt und teilweise sogar meine Hose dadurch feucht wurde. Leider waren solche Situationen kein Einzelfall, sondern Alltag für mich. Psychologisch kann man solche Erlebnisse als immer wieder auftretende kleine Traumata zu bezeichnen.

Entwicklung der Medizin als Hoffnung

„Man weiß ja gar nicht, wo die Medizin in einigen Jahren schon ist und was sie dann schon weiß.“ Dieser Satz mag vielen Menschen mit Behinderung bekannt vorkommen. Für mich war er ein zweischneidiges Schwert. Denn auf der einen Seite hört man den Satz viel zu oft und leider genau dann, wenn Ärzt*innen einem sagen, es gebe gerade keine bessere Möglichkeit. Doch auf der anderen Seite hat sich innerhalb meiner 18 Lebensjahre schon so viel durch medizinische Innovationen getan, dass ich nicht aufhören kann, den Fortschritt in der Medizin doch als Hoffnungsgeber zu bezeichnen.

Mir war immer daran gelegen, dafür zu sorgen, dass meine Behinderungen unsichtbar bleiben. Dazu musste ich häufig verschiedene Windeln und Slipeinlagen ausprobieren, die ich von Homecare-Services geschickt bekam. Doch diese waren alles andere als unauffällig. Letztendlich bin ich auf eine Windel aus einem Drogeriemarkt umgestiegen, weil diese am wenigsten sichtbar war.

Eine tatsächliche Unsichtbarkeit hat mir aber erst eine Operation im Teenageralter ermöglicht, bei der meine Harnröhre verengt wurde und die nun mit begleitender Katheterisierung dafür sorgt, dass meine Blaseninkontinenz quasi nicht mehr auftritt. Auch die Darminkontinenz habe ich durch regelmäßige Darmspülungen unter Kontrolle. Diese medizinischen Entwicklungen, Errungenschaften und Eingriffe haben meine Lebensqualität massiv gesteigert.

Inkontinenz ist ein Tabuthema

In jeder Gesellschaft existieren sie: Themen, über die nicht gesprochen wird. Man weiß, dass sie existieren. Aber sie werden aufgrund von Ekel, Scheu, Scham oder Verhaltensnormen abgetan und selten offen besprochen. Inkontinenz ist so ein Tabuthema. Allein diese Worte hier zu tippen und von meiner persönlichen Erfahrung und theoretisch noch immer existierenden Inkontinenz zu berichten, bereitet mir Gänsehaut und Unwohlsein. Denn es ist ein Thema, das oft verschwiegen wird. Tatsächlich wird meist davon ausgegangen, dass nur kleine Kinder, alte Menschen oder querschnittsgelähmte Personen betroffen sind. Während all‘ dieser Zeit bis zum heutigen Tag habe ich mit dem Tabu der Inkontinenz gekämpft. Dieses Tabu ist meine Realität und ich habe tagtäglich damit zu tun, kann mich aber nur selten jemandem diesbezüglich anvertrauen. Ich habe Methoden entwickelt, meine Betroffenheit zu verschleiern, zu verstecken und selbst Freund*innen zu belügen.

Wirkung von Tabus auf die Psyche

Dadurch, dass meine Behinderungen und Inkontinenz nie sichtbar waren, entwickelte sich bei mir auch das Gefühl, dass sie nicht in Ordnung seien und ich alles dafür tun müsse, beides weitestgehend zu unterdrücken oder auszugleichen. Familienmitglieder waren oft davon überzeugt, dass die Unsichtbarkeit meiner Behinderung eine Chance sei, ein ganz „normales“ und „gesundes“ Leben zu führen. Und auch bei mir entwickelte sich dieser Gedanke. Natürlich bin ich auch mehr als dankbar, nicht so sehr durch meine Behinderungen eingeschränkt zu sein, wie einige Ärzt*innen es zuerst befürchtet hatten. Doch dadurch wollte ich mich auch nicht als Mensch mit Behinderung fühlen. Ich habe meine Behinderungen immer als etwas angesehen, das mich davon abhält, wie der Großteil meines Umfeldes zu leben. Etwas, das dafür gesorgt hat, dass mein Körper nicht so funktioniert, wie er sollte. Etwas, das mir permanente Angst und Panik beschert hat, dass jemand merken könnte, dass ich „anders“ bin.

Hass auf den eigenen Körper

Ich habe lange gebraucht, es zu begreifen, aber heute weiß ich, dass das Gefühl, mich nicht auf meinen Körper verlassen zu können, maßgeblich dazu beigetragen hat, dass ich ihn heute hasse. Dieses Gefühl, dass das, was an meinem Körper anders ist, in der Gesellschaft häufig verschwiegen und mit Ekel behandelt wird, hat in mir dafür gesorgt, dass ich ihn und mich nie vollständig akzeptieren konnte. Heute sehe ich ihn auf merkwürdige Weise losgelöst von meiner Seele.

Ich leide unter Magersucht, was nicht nur mit meiner Behinderung zu tun hat. Aber die Art, wie ich über meinen Körper, mich und vor allem die Behinderung gedacht habe, hat dafür gesorgt, dass ich möglichst viel – wie mein Essen – kontrollieren und meinen Körper bestrafen wollte. Und je mehr ich versucht habe, alles so zu machen wie Menschen ohne Behinderungen, desto frustrierter wurde ich. Denn ich habe mir nicht zugestanden mehr Kraft, mehr Pausen, mehr Hilfsmittel oder mehr Zeit zu benötigen.

„Ist es jetzt okay?“

Vor einigen Tagen hat mich ein enger Freund gefragt: „Ist es jetzt okay?“ Er wollte wissen, ob ich mittlerweile weiß, wie ich mit diesem Zwiespalt in mir umgehen kann. Ob ich akzeptiert habe, dass mein Körper nicht so funktioniert, wie ich es gerne hätte. Die Antwort ist „Nein.“ Ich finde all diese Dinge gerade erst über mich heraus. Ich lerne Schritt für Schritt, dass ich durch meine Behinderung andere Bedürfnisse habe. Dass ich in vielen Bereichen anders und reifer denke, als andere in meinem Alter. Täglich stehe ich auf und habe damit zu kämpfen, meine Behinderung als einen Teil von mir zu akzeptieren. Und vor allem möchte ich, dass dieser Teil nichts Negatives für mich ist. Auch die Inkontinenz soll für mich kein Tabu mehr sein. Lange habe ich mir jemanden gewünscht, der oder die dieses Tabu aufdeckt und mir das Gefühl gibt, dass es in Ordnung ist, körperlich eingeschränkt zu sein. Heute weiß ich, dass ich diese Person für mich selbst sein muss und hoffentlich auch für andere sein kann. Es ist ein langer Weg, aber es lohnt sich. Denn – so kitschig es auch klingt – unsere Lebenszeit ist nun einmal begrenzt. Und es wäre doch schade, genau das, was einen so besonders macht, zu hassen.

Ich möchte meine Behinderung nicht mehr als Gegner, sondern als Teil von mir sehen. Mein Körper soll mein allerbester Freund, mein Team, mein Zuhause werden. Es liegt ein langer Weg vor mir. Aber jetzt weiß ich, dass mein Körper mir nie weh getan hat, sondern mich durch zahlreiche Operationen ertragen, mich immer wieder zum Aufstehen bewegt hat, geheilt und noch immer für mich da ist. Nun bin ich an der Reihe, für ihn da zu sein. Ich möchte mich bei ihm entschuldigen und lernen, ihn zu verstehen. Wie ich das erreichen möchte? Gute Frage. Gerne würde ich sagen, dass ich den Masterplan entwickelt habe und endlich weiß, wie ich dorthin komme. Aber das wäre gelogen und wenn ich eins nicht mehr möchte, dann ist das, irgendetwas zu verschweigen. Vielmehr habe ich gelernt, dass alles ein Prozess ist. Wenn man sich bewusst wird, wie lange man Traumata erlebt, wie lange man sich versteckt hat und wie lange man sich und den eigenen Körper schon gehasst hat, so ist es sich selbst, der Psyche und dem eigenen Körper gegenüber nur fair, geduldig zu sein.

Akzeptieren lernen

Der Prozess wird nicht nur langwierig, sondern vor allem auch hart. Denn zuerst muss man an den Kern der Sache. Ich persönlich habe alle Fotos von Operationen zusammengesucht, durchgesehen und mich in die Situationen hinein gefühlt. Nur wenn man sich daran erinnert, wie man sich psychisch, aber auch physisch in diesen Momenten gefühlt hat, kann man die Verknüpfung zum eigenen Körper wieder aufnehmen. Denn wie möchte man diesen verstehen, wenn man jahrelang die Schmerzen negiert und nicht auf ihn gehört hat? Dabei ist mir auch klar geworden, dass ich über meine Erkrankung gar nicht so genau Bescheid weiß, denn meine Eltern waren ja immer dabei und haben oft auch bei Arztterminen für mich gesprochen. Zwar wusste ich immer, wie ich die Symptome meiner Krankheit bekämpfen kann, und habe die Folgen in Form der Inkontinenz und Operationen gemerkt. Aber ich habe eben nicht verstanden, wieso mein Körper so ist wie er ist.

Die eigenen Erfahrungen als Ressource

Bei allem war es zuerst schwer, bestimmte Gedanken und Emotionen zuzulassen. Sich besondere Bedürfnisse zu erlauben. Sich zu erlauben, sich als Mensch mit Behinderung zu sehen und zu äußern, dass man selbst auch verspürt, wo Inklusion fehlt. Den größten Fortschritt mit meinem Körper habe ich gemacht, als ich ein Praktikum auf der Station des Kinderkrankenhauses gemacht habe, auf der ich die Selbstkatheterisierung erlernt habe. Eines Tages kam dort ein Mädchen an, das ebenfalls die Selbstkatheterisierung erlernen sollte. Die Pflegekräfte waren zuerst etwas überfordert, weil die Schwester, die die Anleitung zur Katheterisierung bis dahin immer übernommen hatte, zu diesem Zeitpunkt nicht auf Station war. Daraufhin habe ich dann die Pflegekräfte darüber aufgeklärt, dass ich einmal in der gleichen Situation war wie das Mädchen und helfen könne. Und so bin ich bei einer Visite mit zu diesem Mädchen gekommen und habe mit ihr geredet. Ich habe ihr erzählt, dass die Schmerzen beim Katheterisieren normal sind und irgendwann vollkommen verschwinden. Dass es normal wird. Dass es irgendwann nicht mehr anstrengend ist. Dass man Angst haben darf, aber keine haben muss. Und vor allem war ich eine Person, die in der gleichen Situation war und sagen kann: „Ich kenne das und mache das auch.“ Ich konnte das, was ich schon so lange an mir nicht akzeptieren konnte, nutzen, um einer anderen Person zu helfen. Und das war eines der schönsten Erlebnisse, die ich jemals hatte. An dieser Erinnerung halte ich mich nun fest.

Und dann ist es wohl irgendwann okay.

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