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Auf den Seiten 76 bis 80 steht der Beitrag “Ich spreche, also bin ich”

Ich spreche, also bin ich

Eine Grafik einer Sprechblase, in der die Wörter "Blaw, blaw, blaw" stehen.

Stotternde Menschen werden häufig nicht ernst genommen. Anschaulich beschreibt Daniela Dicks, wie sie mit ihrer Redeflussstörung umgeht und was sie sich von anderen erhofft.

Ich stehe vor dem Café und habe Herzrasen. Ich möchte einen Kaffee trinken und vielleicht noch ein Stück Kuchen essen. Alles, was ich dafür tun muss, ist, über die Schwelle zu treten und meinen Wunsch zu artikulieren. Neue Kundschaft schiebt sich ausgelassen zwischen mich und meine Herausforderung. Mir entweicht ein Seufzer, nervös trete ich von einem Bein aufs andere. Die Synapsen in meinem Gehirn feuern und meine Lippen formen lautlose Buchstaben: Ich bereite mich minutiös auf den Moment vor, in dem ich meine Bestellung aufgeben werde. Ich setze einen Fuß vor den anderen und nähere mich der Theke im Schneckentempo. Der Barista begrüßt mich und schaut mich erwartungsvoll an. Jetzt bin ich nahe genug dran, um einen Blick auf das Angebot zu erhaschen, das in großen Lettern auf einer Holztafel hinter der Bartheke geschrieben steht. Aber mein Studium der angebotenen Speisen und Getränke des Cafés ist Tarnung. Ich kenne die Spezialitäten des Hauses in- und auswendig. Trotzdem richte ich meinen Blick starr auf die Tafel, um Zeit zu gewinnen. Vor meinem Auge verschwimmt alles.

Einen Milchkaffee mit Hafermilch und ein Stück Streuselkuchen, bitte – das möchte ich sagen. Aber die Worte bleiben stecken, ich kriege sie nicht raus. Ich starte einen neuen Anlauf, will sie herauspressen. Panik steigt in mir auf, meine Kehle schnürt sich zu. Ich höre, wie sich die Tür hinter mir erneut öffnet und sich eine Gruppe lachender Menschen hinter mich stellt. Bestimmt gilt ihr Lachen mir. Ich spüre, wie die Blicke auf mich gerichtet sind. Längst sind alle auf mich aufmerksam geworden und die Gespräche verstummt. Oder bilde ich mir das nur ein? Alle warten jetzt auf mich. Meine Hände sind zu Fäusten geballt, alles Blut aus meinen Fingern gewichen. Vergiss Milchkaffee, Cappuccino oder Chai Latte. Du kriegst das eh nicht hin. Vom Streuselkuchen ganz zu schweigen. “Einen Minztee, bitte”, höre ich mich sagen. Die Stimme klingt fremd, so als gehöre sie nicht zu mir. Ich beiße mir schambehaftet auf die Unterlippe, den Blick auf den Boden geheftet. In Luft auflösen möchte ich mich, hier und jetzt. Ich lege ein paar Münzen auf den Tresen und nehme den großen Becher mit heißem Wasser und Teebeutel entgegen. Erschöpft und resigniert lasse ich mich an einem kleinen Tisch in der hinteren Ecke des Cafés nieder. Minztee? Mochte ich eigentlich noch nie. Aber heute war nichts zu machen, so sehr ich’s auch wollte. So ist das eben manchmal, im Leben von stotternden Menschen.

Wir sind viele – und doch so unsichtbar: eine Bestandsaufnahme

Diese Episode steht exemplarisch für meist ganz gewöhnliche Situationen, die mich und etwa 800.000 weitere Menschen in Deutschland tagtäglich vor Herausforderungen stellen. Angesichts des heutigen Stands der Wissenschaft überrascht es, wie weit wir davon entfernt sind, Ursachen und Auslöser zu verstehen. Wie viel ist Genetik – also vererbte Veranlagung – und welchen Anteil haben einzelne, unter Umständen traumatische Ereignisse? Hat der Sturz vom Klettergerüst was damit zu tun? Die Scheidung der Eltern? Wieso stottert ein Geschwisterkind, das andere nicht?

Fast eine Million Menschen in Deutschland und 1 % der Weltbevölkerung – also rund 80 Millionen Menschen – stottern. Es gibt Verbände und Vereinigungen, Selbsthilfegruppen und hervorragende logopädische Angebote. Aber in der öffentlichen Wahrnehmung sind wir noch stark unterrepräsentiert. 5 % aller Kinder stottern, kurz nachdem sie mit dem Sprechen beginnen. Kurioserweise sind prozentual viel mehr Jungen als Mädchen betroffen. Was wir nicht verstehen: Warum wächst sich das Stottern in 80 % der Fälle einfach wieder aus?

Ich gehöre zu den restlichen 20 % und bin noch dazu weiblich, gewissermaßen also ein seltenes Exemplar. Mein Großvater war Stotterer, das spricht also wieder für die Vererbungsthese. 

Das Gehirn von Stotternden ist anders aufgebaut und funktioniert anders

Weil die Verbindung zwischen den einzelnen Spracharealen gestört ist, fehlen für die Sprechbewegung nötige Signale. Die Zunge stolpert, es kommt zum stockenden Redefluss. Beim Stottern handelt es sich, anders als lange angenommen, nicht um eine Sprachstörung: stotternde Personen wissen, was sie sagen möchten; erst in der Umsetzung stoßen sie an ihre Grenzen. Das Stottern tritt in unterschiedlichen Formen auf, den sogenannten Primärsymptomen: Dehnungen, Wiederholungen und Blockaden. Von Sekundärsymptomen spricht man, um all die – bewussten, d.h. gezielt eingesetzten, wie unbewussten, d.h. unfreiwilligen – Mechanismen zu beschreiben, mit dem die Stotternde ihre Primärsymptome zu überwinden versuchen. Dazu zählen bestimmte Körperbewegungen wie das Neigen des Kopfes oder das Zusammenkneifen der Augen, aber auch schnelles Reden und Wortvermeidungen. Jeder stotternde Mensch hat ganz eigene Strategien und Techniken entwickelt, um die Komplexitäten des Alltags zu meistern und möglichst risikoarm durchs verbalkommunikative Leben zu kommen.

Stotterereignisse sind immer verbunden mit äußeren Einflüssen

Die genetische Prädisposition ist da, aber wann und wie stark die Person stottert, hängt von einer Reihe von Faktoren ab: Wie ist meine aktuelle Grundverfassung, in welchem Setting findet ein Sprechanlass statt (im Kreise enger Vertrauter, vor Kolleg*innen oder im Rahmen einer Prüfung?), fühle ich mich adäquat vorbereitet auf meinen Redebeitrag und welche Bedeutung messe ich der Situation bei? Wer müde und gestresst ist, stottert tendenziell mehr. Unterstützend wirken regelmäßige Entspannungsübungen, frische Luft und sich bei wichtigen Redeanlässen vorzustellen, nur im engsten Familienkreis aufzutreten. Aber darauf gibt es keine Gewähr. Schon die jeweilige Tagesform kann verheerende Folgen haben. Singen und Fluchen hingegen klappt ausnahmslos stotterfrei, weil dafür andere Hirnareale genutzt werden.

Stottern ist keine geistige Behinderung

Früher galt die Redeflussstörung als geistige Behinderung oder wurde auf Ängstlichkeit und Labilität zurückgeführt. Noch immer ist es eine weit verbreitete Annahme, Stotternde seien weniger intelligent oder beeinträchtigt in ihrer kognitiven Entwicklung. Stotternde werden in ihren Herausforderungen oft nicht ernst genommen und dadurch ihrer Würde als vollwertige Kommunikator*innen beraubt. In seiner Rede vor dem American Institute for Stuttering im Juni 2016 hat Joe Biden, selbst ein Stotterer, verdeutlicht, wie salonfähig und gesellschaftlich akzeptiert es nach wie vor ist, sich über Stotternde lustig zu machen oder auf ein Stotterereignis mit Lachen zu reagieren – während es wohl die wenigsten wagen würden, offen über einen Menschen im Rollstuhl zu witzeln. 

Ich bin permanent damit beschäftigt, meine Sätze zu planen

Ich bin 33 und habe immer noch oft das Gefühl, ich sei das kleine Mädchen, das sich hinter seinen Eltern verstecken möchte. Als ich letztens zum Arzt musste, vereinbarte meine Mutter einen Termin. Sie hat sich gar nicht gewundert, dass ich sie gefragt habe. Wirklich nachvollziehen kann sie meine Situation aber glaube ich nicht, wie vermutlich niemand, der nicht selbst stottert oder beruflich mit Stotternden zu tun hat. Vor ein paar Jahren habe ich meiner Mutter einmal erklärt, wie sich so ein Tag für mich anfühlt, wie erschöpft ich abends bin: vom Kommunizieren, von der Anspannung und Erwartung, dass es gleich wieder passieren wird, vom ständigen Wörter-Austauschen. Das ist nämlich mein größtes Sekundärsymptom, Fluch und Segen zugleich: In Unterhaltungen antizipiere ich permanent, was mein*e Gesprächspartner*in sagen und was ich antworten werde. Im Prinzip tätige ich meine Aussagen nicht spontan, sondern habe sie mir im Kopf bereits vorgesprochen. In Bewerbungsverfahren müsste ich eigentlich betonen, wie kreativ und kognitiv brillant ich bin — weil ich permanent Wörter austausche und stets bereit bin, in Windeseile ganze Wortketten umzustellen. Meine Redebeiträge dürfen dann natürlich nur aus solchen Wörtern bestehen, die nicht auf meiner mental blacklist stehen. Waschmaschine ist so ein Wort, gesellschaftswissenschaftlich ist auch schwierig, und natürlich mein eigener Name – der Klassiker unter Stotternden. Wenn dann doch mal die Waschmaschine defekt ist, helfe ich mir mit allerlei Tricks. Zum Beispiel nenne ich dann das Modell, mein Siemens Frontlader XYZ.

Wichtig ist für mich stets, mich der jeweiligen Situation entziehen zu können, die Panik in mir hat aufsteigen lassen. Ich schäme mich, wenn ich stottere und gewähre Gesprächspartner*innen, die ungeduldig oder ruppig reagieren, manchmal das Recht, sich unhöflich und diskriminierend zu verhalten – nur, um mich der Situation zu entziehen. Wenn ich von meiner eigenen Scham übermannt werde, könnte ich platzen vor Wut und finde kein Ventil dafür.

Das alles nimmt unendlich viel Kapazität in meinem Leben ein. Nach einem ganz gewöhnlichen Tag, der meinem vegetativen und kognitiven (Nerven-)System Höchstleistungen abverlangt, liege ich manchmal kraftlos im Bett und fühle mich leer. Mein Verstand ist neblig, wieder einmal habe ich dringend an anderer Stelle benötigte Hirnkapazitäten darauf verwendet, zu performen.

Eine Unart menschlichen Verhaltens, die uns Stotternden tagtäglich begegnet, ist die der ungefragten Vervollständigung unserer Sätze. Verankert in dem tiefen Glauben, dass unser*e Gesprächspartner*innen genau wissen, was wir sagen möchten und uns damit ja die Last nehmen, das vermaledeite Wort qualvoll ausspucken zu müssen. Dabei lächeln sie uns mitleidig an, bevor sich ein Ausdruck von Großmütigkeit auf ihren Gesichtern zeigt, die vermutlich als Aufmunterung verstanden werden will. Dies ist aber nicht hilfreich. Ebenso wenig wie ungeduldiges Augenbrauenhochziehen, Stirnrunzeln oder Räuspern. Stottersequenzen bringen sowohl den Stotternden als auch die Zuhörenden in eine unangenehme Situation. Das müssen wir aushalten, jede*r für sich.

Über das Abweichen von der Norm

Mittlerweile habe ich mich weitestgehend arrangiert mit dem, wer ich bin und was ich habe, was ich nicht bin und nicht habe – auch wenn mich manchmal noch immer die Sinnfrage quält: wieso ausgerechnet ich? Mein Bruder, der potenziell dieselbe genetische Disposition in sich trägt und noch dazu männlich ist, also laut Statistik anfälliger sein müsste, spricht nämlich flüssig. Wäre ich beruflich viel erfolgreicher oder dort, wo ich immer sein wollte, weil ich mich weniger vor Redeauftritten gedrückt und öfter mal selbstbewusst in die erste Reihe gestellt hätte? 

Jede gute Vorbereitung (wie ich in der Café-Episode: ich habe mir die Beine in den Bauch gestanden und wusste eigentlich genau, was ich bestellen wollte), jede gelernte Atemtechnik, Meditation oder einstudierte Strategie, jeder guter Wille (“dieses Mal klappt’s”): wir alle stoßen trotzdem immer und immer wieder an unsere Grenzen.

Wir müssen uns endlich von tradierten, verstaubten Ordnungs- und Klassifikationssystemen verabschieden, die vom “Normalen” ausgehen und erst das “Andere” produzieren und damit Ausgrenzung schaffen. Uns Stotternden geht es genauso wie anderen “Nicht-Konformen” der Gesellschaft: Wir sind nichts Besonderes und wollen auch nicht als solche behandelt werden. Gerade in dieser Nicht-Besonderheit, im Ausgehen vom wir = ihr erfahren wir Empowerment.

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