Auf den Seiten 58, 59, 60 und 61 ist der Artikel “Keine Daten, kein Problem: Die unsichtbare Minderheit”.
Keine Daten, kein Problem: Die unsichtbare Minderheit
In Diversitätsdebatten und -forschung spielt Behinderung eine untergeordnete Rolle. Ob sich dieses Bild in Diversity-Abteilungen von Unternehmen fortsetzt, untersucht Sophia Behrend.
Begriffe wie Chancengleichheit, Wertschätzung und Respekt liest man auf fast jeder Karriereseite. Unternehmen, die sich divers darstellen, wirken fortschrittlicher und werden von den meisten Bewerber*innen bevorzugt. Die Wissenschaft bescheinigt vielfältigen Teams unter der richtigen Führung zahlreiche Vorteile: gesteigerte Produktivität und Kreativität, höhere Krisenbeständigkeit und nicht zuletzt wachsende Chancengerechtigkeit.
Dimension “Behinderung” wird ausgeblendet
Doch die Diversität in Unternehmen entwickelt sich nur langsam: In den Medien wird von Rassismus, Sexismus und Altersdiskriminierung am Arbeitsplatz berichtet, von abnehmenden Frauenquoten in DAX Konzernen, von übergriffigem Verhalten und Mobbing.
Mehr Diversität, das bedeutet vornehmlich: weiblicher, internationaler und altersheterogener. Eine Gruppe kommt dabei oft nicht vor: Arbeitskräfte mit Behinderung. Dass es sie gibt und sie gleichberechtigt vertreten sein sollten, vergisst die Mehrheitsgesellschaft regelmäßig – erst recht im Kontext Arbeitsmarkt.
Das Diversitätsbarometer 2020 ermittelt, wie divers die Vorstände der 30 größten DAX-Unternehmen aktuell sind. Wenig überraschend kommt die Studie zu dem Schluss, das durchschnittliche DAX-Vorstandsmitglied sei männlich, Anfang/Mitte 50 und deutsch. Nicht einmal erwähnenswert ist jedoch, dass es auch nicht behindert ist, die Dimension “Behinderung” wird gar nicht erhoben.
Systematisch ausgegrenzt
Durch schlechtere Bildungschancen und systematische Barrieren schaffen es behinderte Menschen seltener auf den allgemeinen Arbeitsmarkt. Die Gründe dafür sind offensichtlich und trotzdem tut sich wenig. Menschen mit Behinderung werden nachweislich seit dem späten 18. Jahrhundert systematisch von Menschen ohne Behinderung getrennt. Das Verständnis von Behinderung als negative Abweichung von Normalität hält sich immer noch hartnäckig. Seit der Ratifizierung der UN Behindertenrechtskonvention im Jahr 2009 wird Behinderung in Deutschland offiziell als eine Wechselwirkung verstanden, die zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren erst entstehe. Die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft muss entsprechend ermöglicht werden. Doch das passiert nicht.
Die Unsichtbarkeit von behinderten Menschen ist tief verankert. Viele Menschen mit Behinderung lernen immer noch in separaten Schulen, arbeiten auf einem separaten Arbeitsmarkt und wohnen in separaten Einrichtungen. Der Zugang zu gleichwertiger Bildung ist erheblich erschwert. Der Weg auf den allgemeinen Arbeitsmarkt wird ihnen verwehrt.
Und auch für nicht-behinderte Menschen hat die Trennung Konsequenzen: Unsicherheit, Berührungsängste und Vorurteile gegenüber behinderten Menschen sind die Folge.
Einheitliche Diversitätskriterien gibt es nicht
Wann ein Unternehmen wirklich divers aufgestellt ist, ist unklar. Es gibt keine einheitlichen Kriterien. Infineon Technologies, der größte deutsche Halbleiterproduzent zum Beispiel, macht im Ranking der Diversity Leaders der Financial Times aktuell den zweiten Platz. Das Diversitätsbarometer 2020 hingegen, beschreibt die Geschlechterdiversität im Vorstand von Infineon als nicht vorhanden.
Bisher gibt es von offizieller Seite in Deutschland keine repräsentativen Daten zur Teilhabe behinderter Menschen auf dem ersten Arbeitsmarkt. 320.000 von ihnen arbeiten auf dem zweiten Arbeitsmarkt in Werkstätten für behinderte Menschen.
Von allen Menschen mit Behinderung im erwerbsfähigen Alter sind 2017 in Deutschland nur etwa 30% in den Arbeitsmarkt integriert. In einer Expertise der Antidiskriminierungsstelle von 2013 wurde der Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt qualitativ untersucht. Es wurden dabei lediglich achtzehn behinderte Menschen umfassend interviewt. Die Ergebnisse sind alarmierend: Befragte berichten von immer neuen Barrieren, mangelnder Unterstützung, Diskriminierung und Resignation angesichts der katastrophalen Zustände.
Diversity Manager*innen als Verbündete?
“Es gibt im Diversity Management zwei Schwerpunkte: Einerseits Nachteile für bestimmte Beschäftigtengruppen oder deren Diskriminierung zu vermeiden. Und andererseits Potenziale von Vielfalt in der Belegschaft zu erkennen und zu nutzen”, sagt Sofia Strabis,
Leiterin des HR Diversity Managements der Commerzbank AG.
In Zusammenarbeit mit der Schwerbehindertenvertretung seien bei der Commerzbank seit 2016 viele Maßnahmen auf den Weg gebracht worden, die den Umgang mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie Kunden und Kundinnen mit Behinderungen entscheidend weiter gebracht hätten. Als erste Bank Deutschlands hat sie 2018 einen Aktionsplan zur Inklusion auf Basis der UN Behindertenrechtskonvention veröffentlicht. Weitere Maßnahmen umfassten die Verankerung von Barrierefreiheit als Notwendigkeit, eine eigene Stelle für die Koordination von Hilfsmitteln und ein Netzwerk von und für Mitarbeiter*innen mit Behinderung.
Ob verschiedene marginalisierte Gruppen tatsächlich unterschiedlich stark vom Diversity Management profitieren, findet Strabis “schwierig zu differenzieren”. Besonders wichtig sei es ihrer Meinung nach vor allem, das “Mindset” von Führungskräften und Mitarbeiter*innen zu verändern, um zu einem inklusiven Arbeitsumfeld zu kommen, das allen Gruppen gleiche Möglichkeiten biete.
Bei der Deutschen Post DHL Group schätzt man Vielfalt und Inklusion als eine besondere Stärke des Unternehmens. 9,1 % der Mitarbeitenden haben eine Behinderung. Das sind 15.382 Menschen. Als Vice President Diversity & Values ist Susanna Nezmeskal-Berggöt verantwortlich für das Diversity Management. Auf die Frage, welche benachteiligten Gruppen aktuell am meisten vom Diversity Management profitieren und wo sie die meisten Herausforderungen sehe, antwortet sie:
Bei der Auswahl und Entwicklung unserer Beschäftigten zählen alleine individuelle Fähigkeiten und Qualifikation. Wir machen keinen Unterschied aufgrund von Geschlecht, ethnischer und nationaler Herkunft, Rasse, Hautfarbe, Religion, Alter, Behinderung, sexueller Orientierung sowie Identität und weiterer gesetzlich geschützter Merkmale.
Susanna Nezmeskal-Berggötz
Vice President Diversity & Values, Deutsche Post DHL Group
Diese Antwort erinnert an Aussagen wie ‘ich sehe keine Hautfarbe’, die strukturelle Diskriminierung verneint und unsichtbar macht, statt ihr entgegenzuwirken. Damit ist es nicht getan. Eine vorurteilsfreie Auswahl und die Herstellung von Chancengleichheit sind zweifelsfrei das Ziel. Behinderte Menschen und andere Marginalisierte werden allerdings offenkundig strukturell diskriminiert und haben deshalb eine geringere Chance, die erforderlichen Fähigkeiten und Qualifikationen überhaupt zu erlangen. Ihre systematische Benachteiligung sogar im Rahmen des Diversity Managements unbeachtet zu lassen, verstärkt die Chancenungleichheit noch zusätzlich.
Nach erfolgreichen Maßnahmen gefragt, berichtet Susanna Nezmeskal-Berggötz: “In unserem Unternehmen gibt es zahlreiche Beispiele einer erfolgreichen Integration von Beschäftigten mit einer Behinderung. Vor allem bei unseren Schreibtischjobs, aber auch in Jobs im technisch-gewerblichen Bereich und in der Zustellung können Menschen mit Behinderung ihre Stärken einbringen.”
Das Ziel des Diversity Managements sollte sein, das Potenzial aller Menschen anzuerkennen und wirtschaftlich nutzbar zu machen. Und zwar diskriminierungsfrei. Wirkliche Diversität ist erst erreicht, wenn die Arbeitswelt genauso vielfältig besetzt ist, wie die Gesellschaft und wenn jede*r gleichberechtigt teilhaben kann. Diversity Manager*innen können zwar gute Ideen und Unternehmen gute Webseiten haben. Die entsprechenden Werte müssen aber vom gesamten Unternehmen geteilt werden. Erst dann kann Inklusion auf dem Arbeitsmarkt gelingen und das Wort Diversität mit mehr Bedeutung gefüllt werden.