2./3. Staatenprüfung der UN-BRK: Was hat sich für behinderte Menschen in Deutschland verändert?

Blick auf das Gebäude der Vereinten Nationen. Links und rechts eine Allee aus Fahnen der Mitgliedsstaaten.
Im August 2023 mussten sich die Unterzeichner der UN-Behindertenrechtskonvention der Staatenprüfung unterziehen. Foto: Mathias Reding | unsplash.com
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Im August fand in Genf die kombinierte zweite und dritte Staatenprüfung der 20 Länder statt, die die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) nach deren Einführung ratifiziert haben. Auch Deutschland musste sich am 29. und 30. August über mehrere Stunden den Fragen des UN-Ausschusses stellen, was sich denn nun wirklich seit dem letzten Staatenbericht verändert hat. Karina Sturm sprach mit der Leitung der Monitoring-Stelle des Instituts für Menschenrechte, Dr. Britta Schlegel und Dr. Leander Palleit über den Status Quo und was sich verändern muss, damit wir der Umsetzung der UN-BRK in allen Bereichen ein bisschen näher kommen. 

Was ist die UN-BRK?

Die UN-Behindertenrechtskonvention (offiziell: Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen) wurde 2006 von der Generalversammlung der UN verabschiedet und ist ein internationales Abkommen, das am 03.05.2008 in Kraft trat. Sie wurde von 20 Staaten ratifiziert – in Deutschland am 24.02.2009. “Ratifizierung” bedeutet, dass sich die Regierungen dieser Länder offiziell dazu verpflichten, die UN-BRK einzuhalten, umzusetzen und die darin enthaltenen Pflichten und Rechte anzuerkennen. Mit der Ratifizierung ist ein Vertrag gültig und rechtlich bindend. Die UN-BRK überträgt allgemein gültige Menschenrechte auf Menschen mit Behinderungen, um Inklusion zu fördern, behinderte Menschen zu schützen und Diskriminierung abzubauen, mit dem Ziel der gleichberechtigten Teilhabe in allen Lebensbereichen. Mit der UN-BRK fand auch ein Umdenken vom medizinischen Modell zu einem menschenrechtlichen Modell von Behinderung statt und sie definiert den Behinderungsbegriff neu und erkennt an, “dass Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren entsteht, die sie an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern.” 

Sie enthält neben Rechten und Pflichten auch Prinzipien und regelt diese in 50 Artikeln, die verschiedene Aspekte und Rechte von behinderten Menschen behandeln. Darunter z. B. Frauen und Kinder mit Behinderungen, Zugänglichkeit, Bildung, Arbeit und Beschäftigung, Freiheit und Sicherheit, Freiheit von Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch, Gesundheit, Teilhabe und vieles mehr. Um sicherzustellen, dass die UN-BRK umgesetzt wird, und um die Fortschritte oder Mängel zu überwachen, wurde 2009 die “Monitoring-Stelle” des Deutschen Instituts für Menschenrecht eingeführt. Die Monitoring-Stelle setzt sich auch für die Förderung der Rechte behinderter Menschen ein. “Das Institut für Menschenrechte hat in Deutschland ein Alleinstellungsmerkmal, wenn es um Menschenrechte und die Bewertung ihrer Umsetzungspraxis in der Politik geht”, sagt Dr. Britta Schlegel, die zusammen mit Dr. Leander Palleit die Monitoring-Stelle des Instituts leitet. Schlegel ist Soziologin, beschäftigt sich schon seit ihrem Studium mit Menschenrechten und arbeitet seit 2014 an der Monitoring-Stelle. Seit 2020 führt sie diese zusammen mit Palleit, der von Haus aus Elektriker, Gebärdensprachdolmetscher und Jurist ist. “Hier am Institut bin ich aber in meiner Rolle als Jurist”, sagt Palleit und lacht. Neben der nationalen Stellen in jedem der Länder, die die UN. -BRK ratifiziert haben, gibt es auch eine internationale: den UN-Fachausschuss, der aus 18 Expert*innen besteht und die internationale Überwachung der Konvention übernimmt. 

Prozess der Prüfung

Dieser Ausschuss überprüft außerdem in regelmäßigen Abständen von vier Jahren die Umsetzung der UN-BRK in allen Ländern in den sogenannten “Staatenberichtsverfahren”, Prüfverfahren, die aus mehreren Schritten bestehen. Die erste Prüfung nach der Ratifizierung hätte außerdem bereits nach zwei Jahren stattfinden sollen. 2019 wäre somit eigentlich schon die dritte Staatenprüfung fällig gewesen. “Nun gab es in dem ersten Verfahren schon eine Verzögerung, so dass wir 2015 erst die erste Prüfung hatten. Der Ausschuss hat damals gesagt, in vier Jahren soll die nächste stattfinden, und weil 2019 eigentlich schon die dritte Prüfung dran gewesen wäre, aber jetzt erst die zweite tatsächlich passiert, ziehen wir beide zusammen”, erklärt Palleit. Somit ist die diesjährige Prüfung eine Kombination aus der 2. und 3. Prüfung. Ausschlaggebend für die Diskussion in Genf ist eine Liste an Fragen bzw. mit Problemen von 2018 und die darauf folgenden Antworten des Staates, der sogenannte Staatenbericht von 2019. Zusätzlich wurde 2023 noch ein Fortschrittsbericht vom Staat nachgereicht, in dem steht, was seit 2019 erreicht wurde. Und die werden nun in der 29. Sitzung in Genf besprochen und geprüft. 

Parallel dazu veröffentlicht die Monitoring-Stelle einen eigenen Bericht, den Parallelbericht. Zusätzlich werden auch Selbstvertretungsorganisationen einbezogen, die mittels eigener Parallelberichte weitere Fragen aufwerfen oder auf Problembereiche aufmerksam machen können. “Der Ausschuss braucht Parallelberichte für das Verfahren, um neben der Auffassung des Staats, wie es um die Umsetzung bestellt ist, auch andere Stimmen zu hören. Deshalb gibt es klassischerweise den Parallelbericht der Monitoring-Stelle und zusätzlich Berichte von NGOs bzw. Vereinen, die bestimmte Themen noch einmal besonders hervorheben”, führt Schlegel aus. 

Die eigentliche Prüfung in Genf findet dann in einem “konstruktiven Dialog” in einer Sitzung mit den Vertreter*innen des UN-Ausschusses statt. Anschließend veröffentlicht der Ausschuss dann noch die “abschließenden Bemerkungen” und dann liegt es am Staat diese umzusetzen, bevor dann wieder alles von vorne losgeht.

Was hat sich in den letzten 14 Jahren getan?

So viel zur Theorie. Doch was hat sich denn nun in den letzten 14 Jahren wirklich verändert? “Wir sind in verschiedenen Bereichen unterschiedlich weit entfernt von voller Teilhabe und Selbstbestimmung. In manchen Feldern gibt es mehr rechtliche Regulierungen und politische Bemühungen, z. B. bei der Barrierefreiheit von Amtsgebäuden, aber das Leben spielt sich ja nicht nur in Amtsstuben ab”, sagt Schlegel. Auf der anderen Seite sei hingegen eine riesige Lücke, nämlich die fehlende Regulierung der Barrierefreiheit im privaten Sektor. “Hier gibt der Staat immer wieder den Interessen der Wirtschaft Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht und den Teilhabechancen von Menschen mit Behinderungen.” Eines der großen Probleme im privaten Sektor ist die Zugänglichkeit von medizinischen Einrichtungen. Während nicht behinderte Menschen frei wählen können, zu welchem Arzt oder Ärztin sie gehen, bleibt behinderten Menschen dieses Recht verwehrt. Denn selbst 2023 waren nur 40 Prozent der ambulanten Praxen mit Rollstuhl zugänglich. Andere Maßnahmen zur Barrierefreiheit, wie z. B. für Menschen mit Lernbehinderungen, werden nach wie vor nur selten getroffen. “Und da sprechen wir dann von Menschenrechtsverletzungen, wenn es keine freie Arztwahl gibt für Menschen mit Behinderungen”, fügt Schlegel an. 

Bildung

Und häufig scheitert es auch schon an der Motivation und der Einstellung der Beteiligten, die teilweise keine Inklusion wollen. “Im Bereich der Schule sehen wir ganz deutlich, dass es wirklich große Teile der Gesellschaft gibt, die entweder skeptisch oder dagegen sind, weil eben Stereotype über Kinder mit Behinderungen vorherrschen”, sagt Schlegel. Palleit geht noch weiter und meint, er habe den Eindruck, wir machen in Deutschland eine Rolle rückwärts im Bildungsbereich. Es gibt beispielsweise gar Bundesländer, in denen der Anteil der Schüler*innen an Förderschulen stagniert oder sogar gestiegen ist und denen explizit neue Förderschulplätze geschaffen werden. “Inklusive Schulen sind ein Thema, das von Anfang an halbherzig angegangen wurde und dadurch schon zum Scheitern vorprogrammiert war. Und jetzt ein paar Jahre später sieht man, dass es schlecht gemacht war – aber statt den Schluss zu ziehen, es dann vielleicht jetzt mal richtig zu machen, kommt der Staat zu dem Ergebnis, dass das alles keinen Sinn hätte und wir das wieder zurückdrehen müssten”, sagt Palleit. Dabei sei der Bildungsbereich nur der, bei dem es am eklatantesten sichtbar ist. “Wir haben nicht nur im Bereich der Bildung ein stark sortierendes System, sondern das gilt auch für das Arbeitsleben von Menschen mit Behinderungen, die häufig Lebensverläufe haben, die von der Förderschule in die Werkstatt führen. Und das ist auch nur ein Beispiel, weil Menschen, die eine Beeinträchtigung haben, in verschiedenen Stadien ihres beruflichen Lebens in Schubladen gezwängt werden, aus denen sie kaum wieder rauskommen”, führt Palleit aus. “Diese Segregation sehen wir als eines der größten strukturellen Probleme, und die ist auch nicht im Ansatz aufgeweicht.” 

Mangelnde Selbstbestimmung

Die Monitoring-Stelle beobachtet solche Entwicklungen auch anderswo, z. B. im Bereich selbstbestimmtes Leben. Im Paralellbericht schreibt die Monitoring-Stelle dazu: “Ein echter Paradigmenwechsel in Politik und Gesellschaft hin zu Inklusion und Selbstbestimmung ist auch 14 Jahre nach Inkrafttreten der UN-BRK nicht festzustellen. Im Gegenteil: In Deutschland besteht weiterhin ein stark ausgebautes System von Sonderstrukturen – sowohl in der schulischen Bildung und bei der Beschäftigung in Werkstätten als auch in Form von großen stationären Wohneinrichtungen.” Wie bereits bei der 1. Prüfung wird auch 2023 weiter harsch kritisiert, dass die Deinstitutionalisierung, also der Abbau stationärer Einrichtungen in Deutschland hin zu einem System mit mehr individuellen Unterstützungsangeboten für behinderte Menschen, praktisch nicht fortgeschritten ist. Obwohl es seit 2022 Leitlinien zur Deinsitutionalisierung gibt, sind stationäre Einrichtungen in Deutschland nicht abgebaut worden. Im Gegenteil. Laut dem Parallelbericht der Monitoring-Stelle 2023 sind die Wohnplätze für Menschen mit Behinderungen in Einrichtungen seit 2012 sogar leicht gestiegen.

Die Leitlinien zur Deinstitutionalisierung fordern zum Beispiel, dass die Institutionalisierung als eine Form von Gewalt gegenüber Menschen mit Behinderungen anerkannt werden soll. Diese Leitlinien “heben die schädlichen Auswirkungen der Institutionalisierung auf die Rechte und das Leben von Menschen mit Behinderungen hervor sowie die Gewalt, die Vernachlässigung, den Missbrauch, die Misshandlung und die Folter, einschließlich chemischer, mechanischer und physischer Fesseln, die sie in Einrichtungen erfahren.” Was extrem klingen mag, war tatsächlich eines der vom Ausschuss am harschesten kritisierten Probleme in Deutschland: Die Zwangsunterbringung und Zwangsfixierung von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen, die der Staat nach wie vor für notwendig hält.

Die Leitlinien fordern auch, dass nicht mehr in Einrichtungen investiert werden soll, sondern stattdessen in individuelle Angebote. Doch dem entgegen steht, dass auch 2021 noch sehr viel mehr Geld in stationäre Einrichtungen floss – 8,3 Milliarden – im Vergleich zu anderen Wohnformen mit mehr Selbstbestimmung, in die nur 3 Milliarden investiert wurden. Anhand solcher Zahlen ist auch wenig überraschend, dass weiterhin 43 Prozent der behinderten Menschen, die Leistungen für Wohnen bekommen, in stationären Einrichtungen leben. Auch eine klare Strategie zur Deinstitutionalisierung, wie von den Richtlinien gefordert, gibt es bislang nicht. Zudem mangelt es weiterhin an barrierefreiem Wohnraum. “In dem Bereich müssen wir erstmal ein Bewusstsein schaffen. Man braucht sich nur anschauen, wie viele Wohnungen seit 2009 gebaut worden sind: Da wurde ein Haufen Beton voller Barrieren in die Welt gesetzt – und damit so viel Zeit verschenkt, weil wir nicht ganzheitlich denken”, kritisiert Palleit. 

“Wir haben starke Beharrungskräfte, was die Sonderstrukturen für Menschen mit Behinderungen angeht. Das ist ein gewachsenes System, bei dem es auch um Bestandserhaltungsinteressen geht. Was wir brauchen, ist, dass die Leistungserbringer in Deutschland selbst Motoren des Wandels werden, dass sie ein Inklusionsverständnis entwickeln, dass sie wirklich die personenzentrierten Leistungen, die möglich sind, umsetzen und auch die Ambulantisierung vorantreiben. Das ist ein echter Systemwechsel, der hier vorzunehmen ist. Als Monitoring-Stelle stellt uns das vor ganz unterschiedliche Herausforderungen, weil wir auch versuchen müssen, Denkstrukturen aufzulösen und zu zeigen, was ein richtiges Inklusionsverständnis ist”, sagt Schlegel.

6 Fragen an #AbleismusTötet

Ein Jahr nach dem Vierfach-Mord im Potsdamer Oberlinhaus hat sich wenig an der strukturellen Gewalt gegen behinderte Menschen geändert. Das hat das Rechercheprojekt #AbleismusTötet vom Ability Watch e.V. herausgefunden. Im Interview blickt Karina Sturm, Journalistin des Projektes, auf die vergangenen Recherchen zurück.

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Kein Gewaltschutz

Auch gibt es nach wie vor keine unabhängige Überwachungsstelle, die den Gewaltschutz in Einrichtungen überwacht, wie von der UN-BRK in Artikel 16 gefordert. Das wird ebenfalls schon seit der 1. Prüfung bemängelt (und hat sich bis heute nicht geändert). Menschen mit Behinderungen sind häufiger von Gewalt betroffen – das Risiko für behinderte Menschen, die in stationären Einrichtungen leben, ist noch einmal deutlich höher. Das hat auch das Projekt #AbleismusTötet der Behindertenrechtsorganisation AbilityWatch einschlägig gezeigt. Doch trotzdem gibt es für die Menschen in solchen geschlossenen Systemen – sei es in stationären Wohneinrichtungen, Werkstätten für Menschen mit Behinderungen oder psychiatrische Einrichtungen – nach wie vor keine unabhängige Überwachungsstelle. “Die Bundesregierung hat bis jetzt keine Stelle in Deutschland offiziell benannt, aber es gab ein ganzes Spektrum an ‘Ideen’ wer diese Rolle übernehmen könnte, z. B. die Frauenbeauftragten in Einrichtungen, was natürlich absurd ist, weil die eine solche staatliche Aufgabe gar nicht übernehmen können. Auch erwähnt wurde der Petitionsausschuss, was ähnlich absurd ist, weil die Hürden dort viel zu hoch sind”, sagt Schlegel. Am Ende war nach Ansicht der meisten Bundesländer die Heimaufsichtsbehörde die beste Option. “Das hat die Bundesregierung dann erstmal so stehen gelassen und keine weitere Initiative ergriffen.” Und seither ist nichts mehr passiert. Aus Sicht der Monitoring-Stelle verletzt der Staat hier klar seine Schutzpflicht. “Im Bereich Gewaltschutz gibt es an allen Ecken und Enden Probleme, z. B. Im Zugang zu Recht, der Barrierefreiheit von Frauenhäusern, und weil der neue SGB-Paragraph 37a SGBIX zu Gewaltschutzkonzepten in Einrichtung zwar verpflichtet, aber bundesweit keine Stelle die Umsetzung kontrolliert oder zertifiziert und es auch keine Mindestkriterien gibt,” fügt Schlegel an. Auch das kritisiert das Projekt #AbleismusTötet, denn im Gesetzestext wird nur davon gesprochen, dass Leistungserbringer “geeignete Maßnahmen zum Schutz vor Gewalt” für Menschen mit Behinderungen treffen müssen, aber nicht wie die genau aussehen müssen. Außerdem gibt es für von Gewalt betroffene Frauen in diesen Einrichtungen keine Hilfestellen, an die sie sich wenden könnten, während das System der stationären Einrichtungen weiter fortbesteht und die dort lebenden Menschen permanent von Gewalt bedroht sind. 

Was nun?

Ja, Deutschland hat sich bei der diesjährigen Prüfung nicht mit Ruhm bekleckert. All diese Mängel wurden auch offiziell in den abschließenden Bemerkungen (“concluding observations”) des Ausschusses aufgeführt, die am 08.09.2023 in einer uneditierten Version in englischer Originalsprache veröffentlicht wurden. 

Neben den bereits erläuterten Problemen kritisiert der Ausschuss unter anderem, dass in vielen rechtlichen Bereichen immer noch hauptsächlich das medizinische Modell von Behinderung dominiert und fordert dazu auf, wie bereits in den abschließenden Bemerkungen von 2015, dass der Staat seine Definition von Behinderung anpasst und das menschenrechtliche Modell nutzt. Des Weiteren wird explizit erwähnt, dass der Schutz vor Diskriminierung nach wie vor kaum private Dienstleister inkludiert oder auch, dass die Gesetze der Länder nicht explizit die mehrfache Diskrimierung von Menschen mit multiplen Diskriminierungsmarken berücksichtigen. Auch wurde bemängelt, dass der “European Accessibility Act” – in Deutschland durch das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz und den zweiten Medienstaatsvertrag realisiert – kaum bzw. schlecht umgesetzt wird und viele Bereiche des täglichen Lebens für Menschen mit Behinderungen weiterhin unzugänglich bleiben, wie z. B. öffentliche Verkehrsmittel. 

Der UN-Ausschuss erwähnt außerdem große Bedenken in Bezug auf die während COVID-19 eingeführte Triage, die im Falle knapper Ressourcen den Mediziner*innen Handlungsempfehlungen darüber gibt, welche Patient*innen wie versorgt werden. Besonders gefährlich sei dabei laut Ausschuss das Kriterium der “tatsächlichen oder kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit“, das den möglichen Behandlungserfolg bewertet und dazu genutzt werden kann, Menschen mit Behinderungen zu diskriminieren. Aktivist*innen kritisierten diese Regelungen bereits 2021, was in einer Verfassungsbeschwerde durch die Behindertenrechtsorganisiation AbilityWatch e. V. gipfelte. Die Organisation bekam recht und das Gericht entschied am 28.12.2022, dass Menschen mit Behinderungen im Falle einer Triage nicht benachteiligt werden dürfen. Auch der Ausschuss empfiehlt dringend, die gesetzlichen Vorgaben für zukünftige Triagesituationen zu überprüfen. Insgesamt werden auf den 16 Seiten der abschließenden Bemerkungen praktisch alle Artikel der UN-BRK bemängelt, die die Rechte von behinderten Menschen betreffen. 

“Was wir im Vergleich zu 2015 beobachten können, ist, dass es seither wirklich zu einer Stagnation der strukturellen Bemühungen, die es damals gab und die aus unserer Sicht auch schon unbefriedigend waren, gekommen ist”, sagt Palleit. “Nach der Ratifizierung wollten alle loslegen und etwas in Richtung Inklusion verändern. Da gab es durchaus Ansätze, die haben über ein paar Jahre getragen, über die erste Prüfung hinweg, aber nach 2016 war ein spürbares Nachlassen zu bemerken.” Auch im Parallelbericht findet die Monitoring-Stelle klare Worte für die Leistung Deutschlands in Bezug auf die Umsetzung der UN-BRK: “In der Gesamtschau bleibt – wie schon im Parallelbericht zur ersten Staatenprüfung 2015 – festzustellen, dass der Vertragsstaat bei Weitem nicht alles Notwendige und Mögliche unternimmt, um die Konvention umzusetzen. Die verfügbaren Mittel im Sinne von Artikel 4 Absatz 2 UN-BRK wurden und werden nicht ausgeschöpft.” Laut Schlegel fehle es auch am politischen Willen, wirklich einen fundamentalen Wandel – der an dieser Stelle nötig wäre – herbeizuführen. “Man muss aber zugunsten der deutschen Regierungsdelegation auch sagen, dass sie das Verfahren schon ernst genommen haben, und auch genau zur Kenntnis genommen haben, womit sie da konfrontiert werden und welche Aussagen aus Genf kommen. Der Ausschuss hat kompetent nachgefragt und ziemlich oft den Finger genau an der richtigen Stelle in die Wunde gelegt. Ich hoffe, das hat den Groschen, wenn er nicht vorher schon gefallen war, jetzt fallen lassen: Wir müssen noch einen Zahn zulegen”, fügt Palleit an. 

Was können wir tun?

Doch trotz des eher schlechten Abschneiden von Deutschland in der Prüfung gibt es nur wenig Konsequenzen. Denn obwohl die UN-BRK zwar bindend ist, bewegen wir uns in internationalem Recht und es gibt keinen formalen Gerichtshof für die UN-BRK. “Da achten auch die Staaten darauf, dass es so etwas nicht gibt, weil sie nicht international vor ein Gericht gezogen werden möchten”, sagt Palleit. Was es allerdings stattdessen gibt ist das sogenannte Individualbeschwerdeverfahren, das behinderte Menschen nutzen können, wenn sie einen Verstoß gegen die UN-BRK festgestellt haben, z. B. in Form von Diskriminierung. In so einem Fall kann man sich an den UN-Ausschuss in Genf wenden. “Es waren bislang nicht viele Beschwerden aus Deutschland”, sagt Schlegel, “was vermutlich auch damit zu tun hat, dass man, bevor man nach Genf kann, in Deutschland den Rechtsweg komplett ausgeschöpft haben muss.”

Neben der Möglichkeit der formalen Beschwerde findet Schlegel es besonders wichtig, dass es in Deutschland starke Selbstvertretungsstrukturen gibt und junge Menschen mit Behinderungen selbst politisch denken und für ihre Rechte eintreten. “Wir möchten auch gerne, dass die Selbstvertretungsorganisationen im Konzert der politischen Kräfte mehr Gewicht erlangen”, sagt Schlegel. “Große Verbände, auch von Leistungserbringern der Wohlfahrtspflege, haben im politischen Prozess oft deutlich mehr Gewicht als Selbstvertretungsorganisationen. Und das geht so nicht.” Palleit ergänzt, dass er sich wünscht, dass Menschen in Selbstvertretungsorganisationen auch breiter und stärker menschenrechtlich argumentieren. “Ich meine damit, dass es hier nicht nur um soziale Fragen geht, sondern um Partizipation, Selbstbestimmung, Teilhaben an der Gesellschaft, schlichtweg um die Wahrnehmung grundlegender Rechte, so wie es jeder andere Mensch auch will. Es geht hier um Teilhaben an der Demokratie. Wenn  alle häufiger auf die Menschenrechte verweisen und die Diskussion auf eine neue Qualitätsebene heben, dann kann man auch nicht mehr so leicht in die soziale Ecke abgedrängt und ignoriert werden”, endet Palleit. 

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