Pränataldiagnostik – Nur noch “Norm”-Kinder durch “Norm”-Tests?

Eine Frau mit dunklen langen Haaren hält ein Baby vor sich. Das Baby lacht herzlich.
Lisa Zattler und Sohn Alois, der keine Behinderung hat. Foto: Nicole Kube.
Lesezeit ca. 13 Minuten

Lisa Zattler bringt zwei behinderte Kinder zur Welt. Beide Male wurde ihr vorher eine Abtreibung angeboten. Jedesmal entscheidet sie sich anders. Mittlerweile gibt es Pränataltests, die bestimmte Behinderungen vor der Geburt erkennen können. Was diese Tests für Menschen mit Behinderungen bedeuten und warum sie ableistisch sind, erklären Karina Sturm von Die Neue Norm und Nikolai Prodöhl von andererseits.

“Wenn beim Ultraschall gleich was herauskommt, würden Sie dann abtreiben?”, sagt die Pränataldiagnostikerin.

“Trisomie 21 ist für uns kein Grund abzutreiben. Trisomie 13 und 18 vielleicht schon”, reagiert Elisabeth Zattler, kurz Lisa.

Lisa liegt in einem sterilen Raum, während die Frauenärztin mit gerunzelter Stirn auf den schwarzen Monitor vor sich schaut und gleichzeitig langsam mit dem Ultraschallkopf über Lisas leicht gewölbten Bauch fährt. Lisa ist in der 13. Woche schwanger. Als die Hand der Ärztin kurz innehält, sieht auch Lisa warum: Auf dem Bildschirm ist eine Ausbuchtung am Körper des Fötus zu sehen, die ähnlich groß ist wie dessen Kopf. 

Gerade eben saß Lisa noch mit ihrem Ehemann witzelnd und lachend im Wartezimmer. Eine Stimmung, die ihre ganze Ehe beschreibt, sagt Lisa. Das gemeinsame Lachen ist schon immer wie die kleine Familie mit Herausforderungen umgeht. “Das war so ein Moment, den ich gut in Erinnerung behalten habe, weil es der Beginn unserer Reise war, aber eben auch ganz genau beschreibt, wie sie geendet hat: Glücklich”, sagt Lisa. 

Minuten später findet die damals 25-jährige heraus, dass der Fötus eine Omphalozele hat, eine seltene angeborene Veränderung, bei der Teile der Bauchorgane des Fötus durch eine große Lücke in der Bauchwand in die Nabelschnur rutschen und dann ausserhalb des Körpers bleiben. Die Organe sind oft nur von einem ganz dünnen Beutel umgeben. Omphalozelen gehen manchmal auch mit anderen Behinderungen einher, sowie z. B. mit Trisomie 13 und 18 – meist deutlich lebensverkürzende Behinderungen. Um herauszufinden, ob diese Chromosomenveränderungen bei Lisa vorliegen, rät ihr die Ärztin zu einer Plazentabiopsie, einer kleinen Entnahme von Gewebe des Mutterkuchens. Das Ergebnis ist unauffällig, das heißt, der Fötus hat keine Trisomie 13 oder 18. Trotzdem wird Lisa die Möglichkeit einer Abtreibung angeboten. “Die Ärztin meinte die Omphalozele sei ein medizinischer Grund, der uns eine Abtreibung auch nach der zwölften Woche noch ermöglichen würde”, erinnert sich Lisa. 

Abtreibungen und Pränataldiagnostik

In Deutschland können regulär Abtreibungen bis zur 12. Woche stattfinden. Es muss jedoch vor jedem Abbruch zwingend eine Beratung erfolgen. Dieses Beratungsgespräch muss außerdem drei Tage vor dem Termin für die Abtreibung stattfinden, um der schwangeren Person Bedenkzeit zu geben. Nach der 12. Woche dürfen Abtreibungen nur dann erfolgen, wenn die Schwangerschaft die Gesundheit der schwangeren Person bedroht. Laut Statistischem Bundesamt gab es 2022 insgesamt 103.927 Schwangerschaftsabbrüche, davon waren 2373 dieser sogenannten Spätabbrüche nach der 12. Wochen und 740 nach der 22. Woche. 

Der Großteil der Spätabbrüche entfällt auf die medizinische Indikation, also weil ein Abbruch aus gesundheitlichen Gründen notwendig oder empfehlenswert ist. “Eigentlich ist die Anwendung der medizinischen Indikation nur eine Verschleierung der embryopathischen Indikation”, sagt Johanna Lindemann, Referent*in für Medizin beim Gen-ethischen Netzwerk. Bis zur Reform 1995 gab es die embryopathische Indikation neben der medizinischen Indikation, welche der schwangeren Person eine Abtreibung eines behinderten Embryos/Fötus nur aufgrund des Nachweis einer Krankheit/Behinderung erlaubte. “Es gibt in Deutschland seit 1995 keine embryopathische Indikation mehr. Das heißt, Abbrüche nur wegen einer Behinderung des Fötus sind eigentlich verboten. Aber Abtreibungen behinderter Föten nur aufgrund einer Behinderung passieren trotzdem noch, weil angenommen wird, dass es für die werdende Mutter eine unzumutbare psychische Belastung wäre, ein behindertes Kind zu haben. Diese angenommene psychische Belastung gilt dann als Gefahr für die Gesundheit der schwangeren Person und macht eine Abtreibung nach medizinischer Indikation doch wieder legal”, sagt Kirsten Achtelik, Journalist*in und Autor*in des Buchs “Selbstbestimmte Norm. Feminismus, Pränataldiagnostik, Abtreibung.” 

Diese Praxis ist in zweierlei Hinsicht extrem problematisch, erklärt Achtelik. Einerseits, weil es diskriminierend sei, anzunehmen, mit einem behinderten Kind zu leben, sei eine unzumutbare mentale Belastung – das zeige, wie tief verankert Vorurteile über Behinderung in den Köpfen nicht behinderter Menschen sind. Andererseits passiere es in der Praxis häufig, dass schwangere Menschen mit einer bekannten psychischen Vorerkrankung, wie z. B. Depression, sehr viel höhere Hürden überwinden müssen, wenn sie einen (Spät)abbruch erwägen.

Eine Frau und ein Mann sind im Krankenhaus und lächeln in die Kamera. Sie halten ein neugeborenes Kind im Arm.
Lisa Zattler mit Mann und Tochter Frieda im Krankenhaus. Foto: Nadine Nottrodt

Einige der angeborenen Krankheiten/Behinderungen kann man mittels Pränataldiagnostik testen, wie das auch bei Lisa geschehen ist. Unter Pränataldiagnostik werden alle Untersuchungen des Embryos/Fötus zusammengefasst, die während der Schwangerschaft – pränatal heißt so viel wie “vor der Geburt” – nach verschiedenen angeborenen Krankheiten und/oder Behinderungen suchen. Dabei gibt es verschiedene Methoden, wie z. B. Ultraschalluntersuchungen unter anderem zur Messung der Nackentransparenz, Chorionzottenbiopsie (eine kleine Gewebeentnahme direkt an der Plazenta), die Amniozentese (die Entnahme von Fruchtwasser aus der Fruchtblase) und die sogenannten nicht-invasiven Pränataltests (NIPT), die das Blut der schwangeren Person auf z. B. Trisomien testen. Diese verschiedenen Tests können ganz unterschiedlich nützlich oder riskant sein. Aus medizinischer Sicht sind gerade die invasiven Tests, wie die Amniozentese, nicht ganz ungefährlich, denn sie können z. B. zu Fehlgeburten führen. Außerdem können bei all diesen Tests falsch positive Ergebnisse auftreten, die dann unter falschen Voraussetzungen zu einem Abbruch der Schwangerschaft führen können. Zudem sind Abtreibungen nach wie vor stigmatisiert in der Gesellschaft und Personen, die sich für Abbrüche entscheiden werden möglicherweise von ihrem Umfeld dafür diskriminiert. 

Manche der Pränataltests können aber auch Erkrankungen beim Fötus erkennen, die unbehandelt zum Tod führen würden, andere, wie in Lisas Fall, können dazu beitragen, dass die Geburt reibungslos abläuft und die schwangere Person als auch ihr Kind möglichst gut versorgt sind. “Manche der Pränataltests sind therapieorientiert. Das heißt, wenn z. B. vor der Geburt schon festgestellt wird, dass der Fötus einen Herzfehler hat, dann können bestimmte Vorkehrungen getroffen werden, wie z. B. Die Planung eines Kaiserschnitts, um Geburtsstress zu vermeiden und so das Risiko für den Fötus zu minimieren. Das sind natürlich Untersuchungen, die haben einen Sinn und einen Zweck”, sagt Lindemann. Auch für Lisa war das Wissen um die Omphalozele hilfreich. “Das hat uns die Möglichkeit gegeben, uns zu informieren, weitere Ärzte zurate zu ziehen, die passende Geburtsklinik auszuwählen, ein erfahrenes Behandlungsteam zusammenzustellen und regelmäßigere Kontrollen durchzuführen”, erklärt Lisa, die sich sofort gegen eine Abtreibung entschied. 

#NoNIPT

“Die meisten pränatalen Untersuchungen generieren nur Verdachtsfälle, die in unserer behindertenfeindlichen Gesellschaft womöglich zu Abtreibungen führen”, sagt Achtelik. Achtelik kritisiert alle medizinisch nicht notwendigen Tests während andere Aktivist*innen hauptsächlich die nicht-invasiven  Pränataltests (NIPT) kritisieren, mittels derer berechnet werden, wie wahrscheinlich es ist, dass (unter anderem) die Trisomien 21 (Down-Syndrom), 13 oder 18 vorliegen. Dafür braucht es nur ein wenig Blut aus der Armvene der schwangeren Person. Diese Untersuchungen gehören explizit nicht zu den empfohlenen Vorsorgeuntersuchungen für Schwangere, werden aber seit 1. Juli 2022 von den Kassen übernommen, wenn andere Pränataltests auffällig waren oder wenn es die “persönliche Situation” der schwangeren Person “notwendig” macht. Wobei hier nicht genauer definiert wird, was unter “persönlicher Situation” verstanden wird. 

“Wir finden es eine fatale Botschaft, dass die Krankenkasse die Kosten trägt. Denn die schwangere Person  erhält dadurch den Eindruck, dass der Test notwendig sei und nimmt diese dann deswegen in Anspruch. Außerdem suggeriert die vorgeburtliche Suche nach Behinderung, dass Behinderung vermeidbar ist und letztendlich auch, dass sie gesellschaftlich unerwünscht ist. Und deswegen finden wir die Kassenfinanzierung dieser Tests fatal. Das ist behindertenfeindliche Praxis”, so Lindemann. Lindemann ist Teil des Bündnis #NoNIPT, das sich gegen die Kassenzulassung der Tests ausspricht und unter anderem fordert, dass ein Gremium, das sich vor allem mit den ethischen Fragen auseinandersetzt und in dem auch Selbstvertreter*innen involviert sind, über die zukünftige Zulassung von Pränataltests entscheidet.

Außerdem kritisieren Aktivist*innen, dass der NIPT keinen medizinischen Nutzen hat, denn der NIPT reduziert nicht das Risiko der Pränataldiagnostik. NIPTs selbst sind zwar nur Blutabnahmen, aber bei Nachweis einer Trisomie im NIPT werden in der Regel trotzdem invasive Untersuchungen zur Bestätigung empfohlen. “Die nicht-invasiven Präntaltests haben eine relativ hohe Falsch-Positiv-Rate, das heißt, auch die invasiven Tests werden zunehmen, und dadurch auch die Risiken für die schwangere Person”, erklärt Lindemann. Auf der anderen Seite ergibt sich aus dem Wissen um das Vorliegen einer Trisomie auch keinerlei medizinische Behandlung oder Therapie, denn Trisomien sind nicht heil- oder behandelbar.

“Diese Tests und auch die Beratung dazu werden von Frauenärzt*innen durchgeführt, die in der Regel in ihrem Leben nicht so viel Berührungspunkte mit Menschen mit z. B. Trisomie 21 hatten. Und die meisten Leute machen diesen Test, weil sie am Ende hören wollen, dass der Fötus gesund ist. Wenn sie dann aber den Befund bekommen, dass der Fötus (wahrscheinlich) behindert sein wird, haben sich diese Menschen oft noch gar keine Gedanken gemacht, was sie in so einem Fall tun würden. Und wir hören ganz oft, dass diese schwangeren Personen dann sofort von ihren Gynäkolog*innen einen Verweis für einen Abbruchtermin bekommen”, sagt Lindemann.

Lisa Zattler mit Frieda, die sich ganz gegen die Vorhersagen der Ärzte entwickelt. Die Behinderung ist unsichtbar. Foto: Sandra Steh

Werdende behinderte Kinder werden aussortiert. 

Außerdem führen NIPTs direkt dazu, dass bestimmte Personengruppen, in diesem Fall behinderter Menschen, aussortiert werden. Langfristig werden dadurch immer weniger behinderte Kinder geboren. Das betrifft vor allem Menschen mit Down-Syndrom. “Es werden jetzt schon viel weniger Kinder mit Trisomie 21 geboren, als es eigentlich statistisch geben müsste. In Deutschland kann man davon ausgehen, dass 85 bis 90 Prozent der Föten mit Trisomie 21 abgetrieben werden. Europaweit sind die Zahlen etwas niedriger, wegen der restriktiveren Abtreibungsrechten. Dadurch sind dort die Geburtenrate höher”, erläutert Lindemann. “Gleichzeitig gibt es kein Monitoring, was die Folgen der Kassenzulassung des NIPT sind. Schon bevor dieser Kassenleistung wurde, schätzte der Berufsverband der Frauenärzte, dass ungefähr 90 Prozent der schwangeren Personen den Test in Anspruch nehmen!” In vielen Ländern, die standardmäßig NIPTs anbieten, werden heute schon kaum noch Kinder mit Down-Syndrom geboren. In Dänemark, eines der ersten Länder, die NIPTs für alle schwangeren Personen ganz unabhängig von Risikofaktoren eingeführt hat, entscheiden sich laut The Atlantic 95 Prozent aller Schwangeren für einen Abbruch. Island ist laut einem Artikel auf CBS News sogar noch näher an einer Welt ohne Menschen mit Down-Syndrom: seit der Einführung der Tests in 2003 entscheiden sich nahezu 100 Prozent aller schwangeren Personen für einen Abbruch. Und die Seite Gènéthique spricht davon, dass nur ein Kind mit Down-Syndrom in den letzten Jahren im Iran geboren wurde. Ähnlich erschreckende Zahlen gibt es auch für UK, die USA und viele andere Länder. 

“Diese Selektion wird nicht nur durch die Medizin betrieben, die  beurteilt, was die Norm ist und was nicht, und dann die Konsequenzen, eine Abtreibung, nahelegt. Die Untersuchungen auch mögliche Konsequenzen werden  teilweise von Schwangeren, deren Angehörigen und Umfeld ja auch  eingefordert. Das ist dann im Ergebnis Eugenik, nicht eine staatlich angeordnete, aber eine gesellschaftliche Eugenik.” Sowohl Medizin als auch Schwangere und die ganze Gesellschaft tragen auf ihre Art dazu bei – wenn auch nicht bewusst und gezielt, sagt Silke Koppermann, Frauenärztin und Psychotherapeutin im  Ruhestand und Teil des Netzwerks gegen Selektion durch Pränataldiagnostik und des Bündnis #NoNIPT. Genau Zahlen dazu, wie viele Föten in Folge von Pränataldiagnostik bzw. aufgrund eines Nachweis einer Behinderung durch NIPT abgetrieben werden, gibt es nicht. 

Und die NIPTs auf Trisomien sind womöglich auch nur der Anfang. Es ist vorstellbar, dass es in Zukunft diverse andere Tests geben wird, die die verschiedensten Behinderungen im Embryo oder Fötus diagnostizieren können. “In einer Studie aus Taiwan, die Eltern autistischer Kinder befragt hat, haben 53% angegeben, dass sie eine weitere Schwangerschaft abbrechen würden, würde pränatal Autismus diagnostiziert. Das sagen Umfrage zu Tests, die wir heute noch gar nicht haben”, sagt Lindemann. 

Doch dass auch die ausführlichste Pränataldiagnostik keine genauen Prognosen geben kann, das weiß Lisa aus Erfahrung, denn bei Frieda trafen viele der vorgeburtlichen Vorhersagen nicht ein. Frieda ist heute 5 Jahre alt und ein fröhliches, aufgewecktes, mutiges junges Mädchen. Von den vielen Krankenhausaufenthalten in ihren ersten Jahren, den unzähligen Operationen und dem eher rauen Start ins Leben, ist nicht mehr viel zu bemerken. Frieda ist nicht gesund, aber sie hat sich an ihre chronischen Erkrankungen gewöhnt und trägt z. B. ihr Korsett, das sie wegen einer seitlichen Krümmung der Wirbelsäule benötigt, den ganzen Tag ohne zu schimpfen, obwohl es überall zwackt und beim Bücken und Klettern stört. “Frieda wird auch immer noch per Sonde ernährt, weil sie nicht genug essen kann. Ihr Magen ist so klein und Nahrung wird anders aufgenommen, im Vergleich zu gesunden Menschen”, sagt Lisa. “Also klar, wir haben noch eine lange Reise vor uns mit zweimal pro Woche Physio und vermutlich mehreren Operationen in der Zukunft, aber Frieda entwickelt sich super.”

Mein Körper, meine Entscheidung: die Selbstbestimmung der Frau

Zwei Jahre nach Friedas Geburt wird Lisa erneut schwanger. Aufgrund der Omphalozele in der vorherigen Schwangerschaft, wird Lisa diesmal sofort auf alle möglichen Veränderungen getestet und es stellt sich heraus, der Fötus hat Trisomie 18. Trisomie 18 bedeutet, dass das Chromosom 18, das normal zweimal vorhanden ist, ein drittes Mal vorliegt. Das führt zu kognitiven und körperlichen Behinderungen, die oft schon vor der Geburt oder im ersten Lebensjahr zum Tod führen. Hätte sie sich vor der Geburt von Frieda vermutlich noch für einen Schwangerschaftsabbruch bei Trisomie 18 entschieden, so hat Lisa durch das Leben mit Frieda eine ganz neue Perspektive gewonnen. Sie ändert ihre Meinung und entscheidet sich gegen eine Abtreibung. “Ich habe ein kognitiv normal entwickeltes Kind mit minimal motorischen Einschränkungen, die gelernt hat, mit ihrer Sonde und ihrem Korsett umzugehen und ein super glückliches Kind ist, das am Leben teilhaben kann, wenn man es ihm dann ermöglicht. Deswegen hat sich meine Entscheidung geändert, weil ich diese Entscheidungsgrundlage hatte”, sagt Lisa. “Man muss sich bewusst machen, wenn man abtreibt, dass man das nicht im Sinne des Kindes tut. Kein Mensch kann im Vorfeld genau wissen, wie das Leben des Kindes sein wird. Diese Tests geben keine genaue Prognose und überhaupt sagen die auch nichts über die Lebensqualität eines Kindes aus. Gleichzeitig ist aber auch die Selbstbestimmung der Frau super wichtig. Und es ist genau so ein valider Grund zu sagen, ich treibe ab, weil ich mich nicht befähigt sehe, diesen Weg zu gehen”, sagt Lisa. 

Jede Person mit Uterus muss selbst entscheiden dürfen, was mit ihrem Körper passiert. “My body, my choice”, (übersetzt: Mein Körper, meine Entscheidung) der Slogan, der weltweit von Aktivist*innen der Pro-Choice-Bewegung (übersetzt: für die Wahlmöglichkeit) hauptsächlich für das Recht auf Abtreibungen verwendet wird, steht dabei nicht im Konflikt mit dem Bündnis #NoNIPT, denn gegen die Selektion von behinderten Menschen zu sein, bedeutet nicht, dass die Aktivist*innen nicht gleichzeitig starke Verfechter*innen feministischer Werte sind. “Ich bin dafür, dass man eine Schwangerschaft abbrechen kann, wenn man nicht schwanger sein will; dass man sich gegen ein Kind entscheiden kann, wenn man keine Kinder bekommen möchte. Aber ich finde nicht, dass dazu gehört, sich entscheiden zu können, welche Kinder man haben will und welche nicht”, erklärt Lindemann. “Für mich ist eine kritische Sicht auf Pränataldiagnostik nicht so gut vereinbar damit, wie ein Großteil der Pro-Choice-Bewegung aktuell argumentiert. Es wird häufig abgelehnt, überhaupt über die Gründe von Schwangerschaftsabbrüchen zu diskutieren, weil man jede Entscheidung von Frauen akzeptieren müsse. Das funktioniert aber nicht, wenn man über Pränataldiagnostik spricht, denn bei einem Abbruch nach einem positiven Ergebnis geht es explizit um diesen Grund, nämlich dass die schwangere Person Angst davor hat, ein behindertes Kind zu  bekommen”, sagt Achtelik. They fügt hinzu: “Es gibt Gründe, warum Leute diese Ängste haben, die meisten hängen mit einer behindertenfeindlichen und ableistischen Gesellschaft zusammen. Wenn sich Leute überhaupt nicht vorstellen können, ein behindertes Kind zu bekommen, und das auch schon vor einer Schwangerschaft wissen, würde ich ihnen von eigenen Kindern abraten: Keine Pränataldiagnostik der Welt kann garantieren, dass ihr ein nicht behindertes Kind bekommen werdet.” Übrigens: Laut statistischem Bundesamt sind angeborene Behinderungen bzw. Behinderungen, die im ersten Lebensjahr auftreten, mit nur drei Prozent auch eher selten. Die meisten Behinderungen werden im Laufe des Lebens erworben und das kann jede*n treffen.

Was muss sich ändern?

Lisas Schwangerschaft endet abrupt in der 17. Woche. Weil sie es nicht bis zur 24. Woche geschafft hat, darf sie nicht im Kreißsaal entbinden, sondern muss auf der normalen Station warten, bis die Wehen einsetzen. Wegen der Pandemie ist sie alleine; darf ihren Mann nicht bei sich haben. Eine Woche dauert es, bis sie auf einem Klostuhl den toten Fötus gebärt – ohne irgendeine Unterstützung. “Man macht den Menschen die Entscheidung für ein behindertes Kind auch nicht leicht, weil wir in einer behindertenfeindlichen Gesellschaft leben, in der sich Eltern ständig durch Bürokratieberge kämpfen müssen und ihnen tausend Steine in den Weg gelegt werden. Gleichzeitig leben die meisten Menschen in Parallelwelten und wissen gar nicht, was Behinderung eigentlich bedeutet”, sagt Lindemann. Eltern, die sich für ein behindertes Kind entscheiden, stehen häufig größtenteils alleine da. Wie Lisa fehlt an allen Enden die Unterstützung und diesen Weg nicht einmal, sondern mehrfach zu bestreiten, kostet viel Kraft und Ressourcen, die nicht alle Eltern haben. 

Eltern behinderter Kinder haben z. B. ständige Kämpfe mit Kostenträgern wie z. B. Krankenkassen. Gleichzeitig gibt es nach wie vor nur wenige inklusive Schulen – viele behinderte Kindern werden nach wie vor in Förderschulen abgedrängt, was ihren Bildungsweg und später die Optionen jemals einen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt zu bekommen, drastisch senkt. Eigentlich werden Eltern behinderter Kinder in jedem Bereich des täglichen Lebens Steine in den Weg gelegt. Und das obwohl Inklusion eigentlich laut UN-BRK ein Recht ist, auf das alle einen Anspruch haben. Das gilt aber nur in der Theorie. In der Praxis ist Inklusion eher ein Privileg, dass nur die Eltern erreichen, die dafür kämpfen können. 

Drei Jahre später kommt Alois auf die Welt, Friedas Bruder, der keine Behinderung hat. Das wusste Lisa aber bis zur Geburt nicht, denn sie entschloss sich gegen alle Pränataldiagnostik, weil für sie mittlerweile klar ist: Es gibt für sie keine Behinderung, die ein Grund für eine Abtreibung wäre. Viele Eltern können sich ein behindertes Leben nicht vorstellen. Ihnen fehlt die Entscheidungsgrundlage [für oder gegen Abtreibungen], weil sie nicht wissen, wie ein Leben mit Behinderung bzw. einem behinderten Kind ist”, begründet Lisa ihre persönliche Haltung. “Um diese Entscheidungsgrundlage zu schaffen, müssen Menschen mit Behinderung in die Mitte der Gesellschaft! Und das muss schon ganz früh anfangen, z. B. mit inklusiven Kindergärten! Für die Kinder in Friedas inklusivem Kindergarten ist sowas wie eine Magensonde oder ein Korsett ganz selbstverständlich. Und wenn die Kinder das schon früh lernen, dann entstehen daraus Erwachsene, die mit diesem Thema auch umgehen können”, endet Lisa. 

Dieser Artikel ist in Kooperation mit dem Magazin andererseits entstanden.

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Nikolai Prodöhl

Nikolai Prodöhl, geboren 1989, wohnt in Hamburg, seit 2008 arbeitet er bei einer Gärtnerei für Menschen mit Beeinträchtigungen. Beim Radiosender TIDE berichtet er in seiner Sendung Wohnen und Arbeiten seit 2013 über die Rechte von Menschen mit Beeinträchtigungen und inklusiven Sport. Außerdem berichtet er über die guten News der Woche. Bei andererseits macht er den Podcast “Sag´s einfach” und Texte. Er schreibt gerne über Themen wie Inklusion und Rechte von Menschen mit Beeinträchtigungen.

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