„Macht kommt von machen“, heißt es gern – doch wer macht eigentlich, und wie kommt es zu dieser Macht? Journalistin und Autorin Mareice Kaiser zeigt, wie tief verwurzelt Ungleichheit in unserer Gesellschaft ist – und wie leicht sie übersehen wird. Es geht um Privilegien und Sichtbarkeit, um Menschen, die Räume gestalten – und andere, die nie eingeladen werden. Kaiser entwirft die Vision eines offenen Hauses der Möglichkeiten, in dem alle Platz haben. Und sie lädt uns ein, Sichtbarkeit herzustellen, Verantwortung zu übernehmen und Räume zu öffnen.
Macht und Ohnmacht
Macht kommt von machen, so steht es im Programm einer Veranstaltung, bei der ich sitze. Macht kommt von machen? Das können nur Leute mit Macht sagen. Dass Macht nicht von machen kommt, wissen alle, die viel machen und wenig Macht haben. Menschen mit mehreren Jobs und wenig Geld. Zum Beispiel Jane, 66 Jahre – sie putzt Toiletten und schleppt Kisten – weil ihre Rente nicht reicht. Von Macht ist Jane ziemlich weit entfernt. Sie sagt, sie hat sich ihre Rente anders vorgestellt, schließlich habe sie immer gearbeitet, 25 Jahre in Deutschland, 15 Jahre in Brasilien. Aber es reicht nicht. Jane kann sich so viel anstrengen, wie sie will, von der Macht wird sie nichts abbekommen.
Die Macht liegt bei den Menschen, die Jane als günstige Haushaltshilfe beauftragen und bei Menschen, die Veranstaltungen zu Macht ausrichten, sie aber nicht wirklich hinterfragen. Oberflächlich, das vielleicht schon, nach dem Motto: Wie gehen wir denn am besten um mit der Macht? Aber niemals mit der Frage: Wie teilen wir sie denn gerecht auf? Was würde das bedeuten? Wie würde dann so eine Veranstaltung aussehen? Wer würde sprechen? Wie könnten wir die bestehenden Machtverhältnisse nachhaltig ändern? An diesen Fragen sind Menschen mit Macht selten interessiert.
Die Bühne bleibt dort, wo die Macht sitzt
Eine Antwort wäre: Alles würde anders aussehen. Später in diesem Text komme ich nochmal dazu. Und davor haben Mächtige Angst. Es ist bequemer, nur so zu tun, als ob sie die Macht hinterfragen würden. Denn nur so bleibt die Macht bei ihnen. Und auch hier, bei dieser Veranstaltung, sprechen vor allem Mächtige. Zum Beispiel ein Ex-Multimillionär, der jetzt nur noch Millionär ist. Menschen, die ständig auf Bühnen sitzen und sprechen. Auch ich wurde angefragt, auf dieser Bühne zu sprechen. Als ich nach einem Honorar für meine Arbeit fragte, sagte man mir: „Die meisten Speaker*innen spenden ihr Honorar.“
Macht und Geld wollen alle haben, aber die, die Macht und Geld haben, wollen lieber nicht darüber reden.
Menschen mit Macht streiten ihre Macht häufig ab. „Nein, so viel Macht habe ich gar nicht“ oder „Nein, es gibt noch viel mächtigere als mich“. Das ist ein bisschen so wie mit Geld. Die, die richtig viel davon haben, schweigen lieber darüber. (Jedenfalls in Deutschland) Die, die viel Geld haben, kennen immer Leute, die noch reicher sind als sie – also sind sie vielleicht gar nicht so reich? Und die, die viel Macht haben, kennen immer noch Mächtigere – also haben sie vielleicht gar nicht so viel Macht? Macht und Geld wollen alle haben, aber die, die Macht und Geld haben, wollen lieber nicht darüber reden. Nein, nein, ach was, so mächtig bin ich nicht, ich habe damit eigentlich nichts zu tun.
Wenn Empowerment nur für einige gilt
Ein aktuelles Beispiel: Bei der Veranstaltung Frauen100 kommen seit 2021 mehrheitlich mächtige, weiße, normschöne und reiche Frauen zusammen, fotografieren sich oder lassen sich fotografieren und erzählen (sich selbst und anderen), das würde für mehr Gleichberechtigung sorgen. Obwohl es bereits seit Beginn Kritik an diesem exklusiven Konzept gab, kam der Eklat erst dieses Jahr. Eingeladen waren nämlich Julia Klöckner (die mit dem Problem mit Regenbogenflaggen) und Karin Prien (die mit dem Problem mit Kindern mit Migrationsgeschichte). Daraufhin beschwerten sich Eingeladene auf Social Media über diese Besetzung und sagten ihre Teilnahme ab (etwa Elmira Rafizadeh oder Vreni Frost). Abgesehen davon, dass es bereits früher Anlass zu dieser Kritik gab, ist die Reaktion der Veranstalterinnen ein Paradebeispiel für den Umgang von Mächtigen mit der Kritik an Machtverhältnissen und deren Reproduktion.
In einem Rechtfertigungs-Kommentar (der mittlerweile gelöscht wurde) schrieben die Veranstalterinnen: „Wenn Entscheidungsträgerinnen bei Frauen100 sprechen, geben wir ihnen keine Bühne – die haben sie bereits. Wir eröffnen vielmehr einen Raum für Diskussionen, in dem Frauen im Mittelpunkt stehen.“ Die Veranstalterinnen zeigen hier, was viele mächtige Menschen zeigen, wenn sie kritisiert werden: Wir sind nicht Schuld, es gibt viel Mächtigere als uns. Zum Beispiel die, die diese Menschen zu Entscheidungsträgerinnen gemacht haben. Wir haben damit nichts zu tun. Obwohl sie eine Menge damit zu tun haben, wer auf ihrer Bühne spricht. An diesem Abend ausschließlich weiße Frauen. Ans Bühnen-Mikrofon durfte an diesem Abend nur eine nicht-weiße Frau, eine Schwarze Sängerin, die RESPECT singen durfte.

Reichweite bedeutet Verantwortung
Die Veranstalterinnen irren mit ihrer Annahme rund um die Bühnen. Sie haben eine Bühne, sie haben Reichweite, sie entscheiden, wer auf dieser Bühne spricht. Ihre Veranstaltung ist die Bühne. Sie haben die Macht, den Abend so zu gestalten, wie sie es möchten. Niemand hat sie gezwungen, zwei konservative bis rechtskonservative weiße Frauen als Headliner einzuladen. (Soweit ich weiß, jedenfalls. Vielleicht gibt es einen Deal der Sponsoren – von Barbie und Cosmopolitan über Schwarzkopf bis Pommery, die Liste der Geldgeber*innen ist lang – mit den Veranstalterinnen, dazu habe ich allerdings keine Informationen.)
Die Veranstalterinnen irren ebenfalls mit dem Raum für Diskussionen. Ein Raum für Diskussionen ist nur ein Raum für alle, wenn sich alle sicher fühlen. Wenn der Raum so gestaltet wird, dass sich alle sicher fühlen können. Wer Menschen mit menschenfeindlichen Ansichten auf eine Bühne stellt, schafft keinen sicheren Raum für alle. Das wurde zum Beispiel sichtbar, als Lena Rogl aus ihrer Perspektive als queerer Person aus dem Publikum eine Frage stellte, mit zitternder Stimme. Andere marginalisierte Personen sagten ihre Teilnahme direkt ab. Auf der Bühne an diesem Abend: Mächtige Frauen der Mehrheitsgesellschaft. Es fühlt sich seltsam an, das 2025 schreiben zu müssen, aber zur Sicherheit mache ich es: Mächtigen Frauen der Mehrheitsgesellschaft eine Bühne zu geben (und sich selbst nicht zu fühlen, als würde man ihnen eine Bühne geben), ist kein feministischer Akt. Es ist das Gegenteil, denn es verstärkt ungerechte Machtverhältnisse und Unterdrückung (zum Beispiel von queeren, rassifizierten, behinderten, armutsbetroffenen Frauen und nicht binären Menschen).
Wenn ich mich ohne Angst in allen möglichen Räumen bewegen kann, ist das eine Form von Macht.
Wer hat Macht?
Macht entsteht durch Möglichkeiten. Je mehr Möglichkeiten ich habe oder bekomme, desto mächtiger bin ich. Möglichkeiten zur Teilhabe wie Bildung, Kunst, Veranstaltungen, Politik, Bühnen. Eine reiche Person sagte mir mal in einem Interview: „Ich kann mir jeden Raum nehmen.“ Sie hatte in ihrem wohlhabenden Leben alles mitbekommen, was sie brauchte, um sich sicher in verschiedenen Räumen zu bewegen. Wenn ich mich ohne Angst in allen möglichen Räumen bewegen kann, ist das eine Form von Macht. Wenn ich bestimmen kann, wer in einen Raum eingeladen wird, ist das eine Form von Macht. Wenn ich die Themen bestimme, über die in diesem Raum gesprochen werden, ist das eine Form von Macht.
Machtverhältnisse entstehen, während wir alltägliche Dinge machen. Macht kommt also nicht vom machen, sondern beim Machen. Wenn wir in die S-Bahn gehen oder wenn wir eine Bewerbung schreiben. Wenn ich diesen Text schreibe, habe ich Macht, weil ich Reichweite habe und Menschen meinen Text lesen. (Übrigens danke, wenn du bis hier gelesen hast, ich wertschätze das wirklich sehr.) Mit dieser Macht kommt Verantwortung. Ich erreiche Menschen, im besten Fall denken sie über meine Sätze nach (danke an dieser Stelle, wenn du das machst). Es ist ein bisschen so wie eine Bühne. Ich kann zum Beispiel entscheiden, wen ich in diesem Text zitiere (und wen nicht). Ich kann entscheiden, in welcher Sprache ich schreibe. Akademisch und komplex mit langen Satzkonstruktionen? Oder in einfachen Worten und kurzen Sätzen, die möglichst viele Menschen verstehen?
Machtverhältnisse sind fluide. Wir sind als Menschen nie ausschließlich mächtig oder unterdrückt. Zum Beispiel als Autorin habe ich die Macht der Wörter – gleichzeitig bin ich angewiesen auf die Macht von Medien, meinen Auftraggebenden. Wer fragt mich zu einem Artikel für ein Thema an? Wer beauftragt mich und wie hoch ist mein Honorar? Wie schnell (oder langsam) wird mein Honorar gezahlt? Wer kommentiert meine Texte, wer kritisiert sie, in welcher Art und Weise? Machtverhältnisse sind fluide, auch in einer einzigen Person und von Situation zu Situation sind sie verschieden.
Unterdrückte Menschen sind widerständig. In den Prozessen des Widerstands entstehen neue Formen der Vergeschwisterlichung, es entsteht Solidarität.
Céline Barry
Widerstand und Solidarität
Bei einem Workshop lerne ich Céline Barry kennen, sie forscht zu Rassismus, Feminismus und Intersektionalität und gestaltet Antidiskriminierungsprojekte. Intersektionalität beschreibt die Verschränkung von verschiedenen Unterdrückungen. So ist es entscheidend, ob eine Person eine Frau ist, oder ob eine Person eine Schwarze Frau ist. Es macht einen Unterschied in der Erfahrung der Unterdrückung. Céline Barry klärt genau dazu auf und beschreibt Machtverhältnisse so: „In der Gesellschaft gibt es Kategorien oder Boxen. Wenn du in einer Box bist von Menschen, die Zugang haben: zu Bildung, zu Arbeit, zu Wohnungen, dann ist es gut, in dieser Box zu sein. Man hat Freizeit, man kann sich Dinge leisten. Vom Eigeninteresse her macht es Sinn, dass man gerne in dieser Box sein will.“
Es gibt aber auch das Bedürfnis, sich für eine gerechtere Gesellschaft einzusetzen. Aus Mitgefühl und Solidarität. „Darauf müssen wir bauen“, sagt Céline Barry. Und die sagt: „Unterdrückte Menschen sind widerständig. In den Prozessen des Widerstands entstehen neue Formen der Vergeschwisterlichung, es entsteht Solidarität“, so Barry. Das ist die andere Seite der Macht. Oder besser: Das kann sie sein. Denn natürlich kann Machtlosigkeit auch andere Auswirkungen haben: Einsamkeit, Erkrankungen, Vereinzelung. Das ist die eine Grundlage von Macht, dass es Menschen gibt, auf deren Rücken die Mächtigen ihre Macht ausüben. Céline Barry beschreibt es so: „Ohne Unterdrückung kann es keine Macht geben.“

Wer sitzt am Entscheidungstisch?
Macht macht Unterschiede. Macht entscheidet: Gehst du auf die Bühne, gehst du vor die Bühne, wirst du überhaupt eingeladen oder putzt du den Veranstaltungsraum? Ich war mal bei einer wichtigen politischen Veranstaltung eingeladen (im Publikum) und mir fiel auf: Fast alle anderen eingeladenen Personen waren – wie ich – weiße Menschen. Nicht-weiße Menschen waren das Personal. (Ich würde mir ja mal eine Veranstaltung wünschen, bei der die Putz- und Gastro-Kräfte der Veranstaltung ein Podium für ihre Diskussionen und Forderungen bekommen – und zwar bitte die Hauptbühne.)
Wenn es um Macht geht, wird oft von Plätzen am Entscheidungstisch gesprochen. Ich habe mal in der Redaktion einer großen Wochenzeitung hospitiert. Einmal pro Woche gab es eine große Konferenz in einem großen Konferenzraum mit einem großen Tisch. Entgegen meiner sonstigen Gewohnheit war ich ein bisschen zu früh und setzte mich an den Tisch, wurde dann aber aufgefordert, mich in die zweite Reihe zu setzen. Die zweite Reihe saß nicht am Tisch, sondern hinter denen, die am Tisch saßen. Hier wurde schon durch die Sitzordnung klar, wer Macht hat und wer nicht.
Das Haus der Möglichkeiten
Ich will keinen Tisch, ich wünsche mir ein Haus, das Haus der Möglichkeiten.
Die Wegbeschreibung zum Haus der Möglichkeiten muss allen zugänglich sein, inklusive Lageplan aller Räume. Das Wissen, dass es Möglichkeiten gibt, ist so wichtig. Das Haus hat keine Türen, es ist geöffnet für alle, ohne Security am Eingang. Ein barrierefreies Haus.
Für das Haus der Möglichkeiten braucht es politische Veränderungen. Und gleichzeitig liegt der Zugang zum Haus der Möglichkeiten an allen, die Schlüssel in der Jacken- oder Hosentasche haben. Hausmeister*innen, die so einen großen Schlüsselbund am Gürtel hängen haben, der Geräusche macht bei jedem Schritt. Menschen, die diese Schlüssel tragen, sind Menschen mit Geld, Menschen mit Macht, Menschen mit Status und Einfluss. Das können Lehrende sein, Chefinnen, Abteilungsleiter, Meisterinnen, Klassensprecher. In welcher Situation wir machtvoll sind, ist verschieden und kann sich auch verändern. Wenn ich mit dem Bundeskanzler zusammensitze (okay, kommt nicht so oft vor), ist er in der Position, in der er mehr Einfluss hat. Wenn ich ein Redaktionsteam leite, habe ich mehr Einfluss auf die Arbeitsbedingungen als die Praktikantin.
Aktiv Räume gestalten und öffnen
Um mehr Verteilungsgerechtigkeit zu haben, sollten wir in jeder Position, in die wir kommen, überprüfen: Für wen kann ich diesen Raum jetzt noch aufschließen? Was kann ich an diesem Raum verändern, sodass mehr Menschen darin Platz haben? Welche Stühle muss ich hinstellen, damit es mehr Menschen bequem haben? Oder vielleicht lieber eine Liege? Wie kann ich den Raum gestalten, so dass sich alle Menschen sicher fühlen? Wie spreche ich in diesem Raum, damit mich alle verstehen? Oder noch besser: Wer könnte hier noch sprechen, damit ich nicht die ganze Zeit rede? Wem leihe oder schenke ich das Geld für den Bus, der zu diesem Raum fährt? Im besten Fall lade ich Menschen ein, die nicht genauso sind wie ich selbst, sondern Menschen, die von diesem Raum noch nie etwas gehört haben.
Bei den Diskussionen im Haus der Möglichkeiten – da würde ich gern zuhören. Die Diskussionen würden überall stattfinden, nicht nur auf Bühnen. Bühnen würde es vielleicht gar nicht mehr geben.
Eine Antwort
Wie toll…und für die optimist:innen unter uns. Das Haus der Möglichkeiten ist keine Utopie und jeden Tag in jeder Rolle machbar. Der Zugang ist oftmals versperrt. Aber in der Situation in der man selber das Haus öffnen kann sollte man es tun.
Was mich so traurig an der Frauen100 Nummer machte ist die Tatsache das es bei Menschen mit vermeintlich feministischen Anliegen doch auch so schlimm ist. Ich hatte irgendwie die leise Hoffnung das der Vibeshift hier nicht so kickt, das dass sagbare sich nicht so verschiebt. Das zum Beispiel rechtskonservative keine Stimme haben.
Aber das ist nicht so, es läuft hier genauso wie da: es geht zurück zum Konservatismus, zurück zu alten tradierten Bildern vom wie wir sein müssen. Mit vollem Bewusstsein ist Julia Klöckner eingeladen wurden, das ist das neue en vogue.
Wie gefährlich das ist, ist scheinbar vielen nicht klar.
Danke Mareike für diesen wunderbaren Text. Ich persönlich fühle mich von deiner Sicht auf quasi alles immer gesehen und nicht ausgeklammert.