Gesundes Neues!?

In der Abenddämmerung halten zwei Hände Wunderkerzen aneinander.
Ein neues Jahr beginnt. Was wünscht man sich gegenseitig? Foto: Ian Schneider | unsplash.com
Lesezeit ca. 3 Minuten

„Gesundes neues Jahr!“
Passt das jetzt noch, Ende Januar? Und überhaupt: sollte man Gesundheit wünschen?
Anne Gersdorff und Milena Ferenschild beschreiben in ihrer Kolumne, warum man vielleicht etwas anderes wünschen sollte.

Stell dir vor, du stehst morgens auf, machst dir dein histaminarmes, weizenfreies Frühstück, trinkst einen Heilkräutertee, nimmst deine Medikamente und gehst aus dem Haus. Du fährst ins Büro, kommst dort an, ziehst deine Jacke aus, drehst dich um; vor dir steht dein*e Kolleg*in: “Gesundes Neues Jahr!” Gesund? Da musst du erstmal schlucken, denn gesund fühlst du dich nicht. Dein*e Kolleg*in meint es ja nur gut, oder? 

Gerade seit Beginn der Pandemie wurde der Wunsch “Bleib gesund” inflationär verwendet. Implizit gemeint ist damit: Steck’ dich nicht mit Covid-19 an. Viele Menschen sind aber auch ohne Covid-19 nicht gesund, weil sie beispielsweise chronisch erkrankt sind. Chronische Erkrankungen kann man oft nicht sehen, denn sie erfordern nicht zwingend einen Rollstuhl, eine Prothese oder Hörgeräte. Außerdem werden sie oft gesellschaftlich nicht beachtet oder klein geredet. Viele chronische Erkrankungen führen aber wiederum zu Behinderungen. Aber sind Behinderungen und Krankheit nicht das Gleiche? Beide Begriffe werden häufig synonym verwendet. Diese Sichtweise, Behinderung in Verbindung mit Krankheit zu setzen, ist das medizinische Modell von Behinderung. Der Fokus liegt dabei auf Diagnosen bzw. den körperlichen Funktionen eines Menschen. Viele behinderte Menschen bevorzugen aber das menschenrechtliche oder soziale Modell von Behinderung. Das menschenrechtliche Modell von Behinderung zieht gezielt den Staat und die Zivilgesellschaft in die Verantwortung, Bedingungen so zu schaffen, dass Menschen mit Behinderungen überall teilhaben können. In der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) ist dieser Anspruch wie folgt formuliert:: “Behinderung (entsteht) aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren (…)”. Das soziale Modell von Behinderung besagt, dass die Umwelt sowie die gesellschaftlichen Bedingungen dazu führen, dass Menschen behindert werden. Behinderung ist also nicht gleichzusetzen mit Krankheit, denn uns behindert nicht, dass wir schlecht sehen (Beeinträchtigung), sondern, dass Websites von Unternehmen oft nicht barrierefrei sind oder, dass Präsentationsfolien in Meetings nicht lesbar sind, weil schlechte Kontraste verwendet werden oder die Schrift zu klein ist. (Behinderung).

Es ist also häufig unklar, ob eine Person eine Erkrankung hat oder mit einer Behinderung lebt. Ein “Gesundes neues Jahr!” zu wünschen, kann für eine Person unter Umständen verletzend sein. Wir manifestieren damit ein Bild von Gesundheit als Norm, in der chronisch kranke, psychisch beeinträchtigte und behinderte Menschen keinen Platz finden und nicht berücksichtigt werden. Diese universelle, vermeintlich gesunde Norm führt dann zu Ableismus. Ableismus bezeichnet die Diskriminierung auf Grund von körperlichen, psychischen und kognitiven Fähigkeiten und die Strukturen, die diese Diskriminierung verstärken oder begünstigen. Diese Strukturen nennen wir meistens Barrieren. In Deutschland waren 2019 deshalb 43% der Menschen mit Behinderungen nicht imArbeitsmarkt integriert. Dabei sind sie oftmals höher qualifiziert als Arbeitssuchende ohne Behinderung. Frauen mit Behinderungen sind von dieser Diskriminierung besonders betroffen. In Deutschland leben außerdem 40% der Bevölkerung mit einer chronischen Erkrankung. Es ist also höchste Zeit, sich auch in Unternehmen umfassend mit dem Thema zu beschäftigen..

In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen steht, jeder Mensch habe das Recht auf einen Lebensstandard, der Gesundheit und Wohlergehen gewährleistet. Dort ist auch das Recht auf Arbeit, freie Berufswahl, angemessene Arbeitsbedingungen etc. festgehalten. In der Verfassung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) steht: “Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.” Aaron Antonovskys Modell der Salutogenese besagt aber, dass Gesundheit kein Zustand, sondern ein dynamischer Prozess sei. Es ist also sehr viel komplexer, als die Kategorien gesund vs. krank und nicht behindert vs. behindert auf den ersten Blick vermuten lassen. Umso wichtiger ist es deshalb, unsere eigene Kommunikation und die des Unternehmens, in dem wir arbeiten, zu überdenken und in Fragen zu stellen. Wir müssen ein Klima schaffen, in dem es in Ordnung ist, krank oder nicht immer 100% leistungsfähig zu sein. Wenn wir Barrieren abbauen wollen, müssen wir das  baulich umsetzen (Rampen, Aufzüge, Leitsysteme etc.), aber auch ethisch. Wir müssen ganzheitlich umdenken. Wir könnten uns stattdessen am Arbeitsplatz beispielsweise ein schönes, glückliches, frohes, stressfreies oder sonniges Neues Jahr wünschen. Damit ist in Sachen Inklusion noch lange nicht alles erreicht – die Auseinandersetzung mit dem Thema und ein Bewusstsein für ableistische Strukturen können aber helfen, Arbeitsplätze zu angenehmeren, respektvolleren, rücksichtsvolleren Orten zu machen.

Dieser Artikel ist zuerst auf tbd* (24.01.2023) erschienen.

Milena Ferenschild

Milena Ferenschild

Milena Ferenschild ist Heilpädagogik Studentin an der Katholischen Hochschule in Freiburg, macht gerade ihr Praxissemester bei den Sozialheld*innen und lebt derzeit in Berlin. Sie hat eine Sehbehinderung und arbeitet mit technischen Hilfsmitteln. Außerdem hat sie Endometriose, eine gar nicht so seltene chronische Erkrankung bei Personen mit Gebärmutter, und beschäftigt sich deshalb gerne mit intersektionellem Feminismus.

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2 Antworten

  1. Liebe Frau Gersdorff,
    Ich bin seit 1948 an rechtsseitiger Poliomyelitis erkrankt.
    Rente von Ende April 2012 jetzt 258€
    2017 habe ich mir zum 1. Mal rechts einen Knochen angebrochen und bin seitdem auf 1 Rollstuhl angewiesen.
    Seit Mai eine vom Amtsgericht Pinneberg bestellte Betreuung.
    Seit Juni 2018 beziehe ich unterschiedliche Summen „Hartz lV“.
    Seit 2018 im Juli bin ich wieder in der AOK.
    Pflegestufe 1 habe ich seit 2021
    am 6.12.2021 brach ich mir beide Unterschenkelknochen
    Pflegestufe 2 seit 1.03.2022
    Seit 6.01.2023 Oberschenkelkopf abgebrochen.
    Jedesmal 6 Wochen Bettlägerigkeit, d.h. vom Bett auf Toilettenstuhl wieder ins Bett
    Im Januar und Februar keine Sozialhilfe vom Rathaus.
    Bin im Augenblick in Kurzzeitpflege in 22880 Wedel so verhungere ich wenigstens nicht
    Meine Telefonnummer lautet +49 177 9276028
    Vielleicht fällt Dir ja etwas ein
    Ich bin so ziemlich am Ende

  2. Auch einem Kranken kann man Gesundheit wünschen. Überhaupt, was ist Krankheit? Ich definiere sie als unangenehme Abweichung vom persönlichen Normalzustand. Ich habe zwar eine Muskelerkrankung, aber das ist für mich und mein Umfeld normal. Also bin ich nicht krank. Man darf auch nicht in allem was sehen.

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