Die Arbeit mit der Stiftung Anerkennung und Hilfe ist vorüber, aber Christian Ebmeyer macht weiter: Nun setzt er sich für Gehörlose ein, die früher in der Schule psychisches und physisches Leid erfuhren. Mit dem Beauftragten für die Belange der Opfer von Oralismus und Sprachentzug beim Deutschen Gehörlosen Bund sprachen Simon Kollien und Melissa Wessel von der Deutschen Gehörlosenzeitung.
Bis Juni 2021 konnten Gehörlose, die von 1949 bis 1975 bzw. in der DDR bis 1990 in Heimen untergebracht wurden, bei der Stiftung Anerkennung und Hilfe einen Antrag auf finanzielle Entschädigung stellen. Damit sollten sie für das erlittene Leid in Heimen und Anstalten finanziell entschädigt (DGZ 04 |2018) werden. Aber Stadtschüler*innen sowie Personen, die außerhalb dieses Zeitraumes in Heimen untergebracht waren, gingen leer aus. Und dies, obwohl auch sie psychisches und physisches Leid erfuhren. Deshalb setzt sich Christian Ebmeyer im Raum Hamburg für ein neues Projekt ein: Ausgleich von Unrecht an Gehörlosen –Anerkennung und Entschädigung. Ziel ist u.a., das Opferentschädigungsgesetz (OEG), welches für Opfer von Gewalt nach 1976 gilt, um psychische und kulturelle Gewalt zu erweitern (DGZ05 | 2023). Die Deutsche Gehörlosenzeitung traf ihn zu einem Interview und befragte ihn zu diesem Projekt.
Deutsche Gehörlosenzeitung: Christian, was war der Anlass dieser Aktion?
Christian Ebmeyer: Bei der Stiftung Anerkennung und Hilfe beschwerte ich mich damals, dass diese nur ein befristetes Hilfesystem war, wo nur ein kleiner Teil von gehörlosen Menschen entschädigt wurde: Nämlich diese, die von 1949 bis 1975 bzw. in der DDR bis 1990 Leid und Unrecht in Heimen bzw. Anstalten erfuhren. Aber was ist mit Personen außerhalb dieses Zeitraumes? Auch diese leiden heute noch an den psychischen Folgen des Unrechts, unter anderem auch dem Oralismus. Die Kinder, die nicht in Heimen untergebracht waren, waren auch davon betroffen. Ihre Erfahrungen und ihr Leid werden einfach unter den Teppich gekehrt. Daraufhin hat mir Professor Dr. Heiner Fangerau, der zuständig für die wissenschaftliche Aufarbeitung bei der Stiftung war, empfohlen, ein Projekt explizit dafür zu gründen. Ich wurde darauf aufmerksam gemacht, dass hier viel mehr gehörlose Menschen eine Entschädigung erhalten können. Damit dies umgesetzt werden kann, muss das Opferentschädigungsgesetz um die Aspekte der psychischen und kulturellen Gewalt erweitert werden.
Was sind denn die Auswirkungen dieses Unrechts, von dem du sprichst?
Ich habe schon lange den Eindruck, dass viele taube Menschen durch die geringe Bildung an Gehörlosenschulen weniger Chancen im Leben hatten bzw. haben und die berufliche Auswahl sehr begrenzt war. Es war ihnen nur möglich, handwerkliche Berufe zu erlernen. Dadurch fallen ihre Rentenbeiträge heute sehr gering aus. Ich sah viele Rentenbescheide von gehörlosen Menschen und fragte mich, wie man von diesen geringen Beiträgen leben soll. Auch wenn viele sagen, es ginge ihnen gut und die Situation sei halt einfach so und man müsse das akzeptieren. Nein! Deshalb bin ich hellwach geworden, als ich davon erfuhr und las mich in die Thematik ein sowie informierte ich meine Community über diese Möglichkeit.
Gibt es auch psychische Folgen?
Ja. Diese sind z. B. Bildungsrückstand, Audismus oder auch Informationsdefizit. Vor allem gehörlose Frauen leiden darunter. Nach Schwangerschaft und Familiengründung war es ihnen praktisch unmöglich, in die Berufswelt zurückzukehren. Und diejenigen, denen es gelang, wurden oft ins Archiv oder Lager verfrachtet, da diese nur eine Teilzeitstelle ausüben wollten. Das Leiden bei gehörlosen Frauen war und ist viel höher. Auch wurde uns allen damals immer eingetrichtert (= immer wieder gesagt), wir sollen bloß nicht in der Öffentlichkeit „plaudern“ (veraltetes und abwertendes Wort für gebärden, Anm. DGZ). Meine Eltern sagten auch mir und meiner Schwester, wir sollen mit dem Plaudern aufhören.
In wessen Auftrag handelst du?
Meine Arbeit ist eine Eigeninitiative. Mein Ziel ist es,das Leid und die Unrechterfahrungen zu beleuchten und zu erfassen sowie Art und Umfang der Geschehnisse nachvollziehbar zu machen. Mein weiteres Ziel ist, dass das OEG um psychische und kulturelle Gewalt im Sozialgesetzbuch XIV erweitert wird. Ich kann esnicht akzeptieren, wenn Gehörlose das einfach so hinnehmen. Ich arbeite nun mit dem DGB zusammen, als Beauftragter für die Belange der Opfer von Oralismus und Sprachentzug. Konzentriert sich deine Arbeit nur auf das Bundesland Hamburg oder gibt es Pläne, diese auch deutschlandweit umzusetzen? Erstmal konzentrieren wir uns nur auf Hamburg. Zufälligerweise übernimmt das Bundesland Hamburg 2024 den Vorsitz für die Arbeits-und Sozialministerkonferenz. Dann will Hamburg dieses Thema aufgreifen und den Antrag zur Anerkennung von psychischer und kultureller Gewalt im OEG einbringen.
Der Staat hat in meinen Augen eine Mitverantwortung am Oralismus.
Kann man denn überhaupt von einer Mitschuld des Staates für diese Leidenserfahrung ausgehen?
Ja, der Staat hat in meinen Augen eine Mitverantwortung am Oralismus, auch wegen seiner Rolle beim Mailänder Kongress 1880. Außerdem reagierte der Staat bis heute nicht auf die Folgen. Der Staat sagte nicht: „Stopp, jetzt brauchen wir Gebärdensprache im Unterricht.“ Die Folge dessen ist eine geringe Bildung bei vielen Gehörlosen und als weitere Folge eine sehr niedrige Rente.
Du arbeitest eng mit der Partei DIE LINKE zusammen. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?
Sie fragte als einzige Partei beim Gehörlosenverband Hamburg nach, ob wir mit dem Ablauf bei der Stiftung Anerkennung und Hilfe zufrieden sind. Darauf folgte ein Besuch der Partei beim Gehörlosenverband und da ich im Beirat des DGB bin, landete die Partei schlussendlich bei mir. Ich trat dann mit ihr in den Austausch und informierte über die Ungerechtigkeit. DIE LINKE hatte ein offenes Ohr für meine Anliegen und meine Sorgen. Sie ist eine sehr bürgernahe Partei und ich bin beeindruckt von ihrer Bereitschaft.
Welche Rolle spielt die Partei bei der Aktion?
Sie hörte erst mal genau zu und stellte dann selbst eine große Anfrage (Drucksache 22/7899 sowie Drucksache 22/10917) an die Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg. In den Anträgen ging es um das Unrecht von Gehörlosen sowie die Situation der gehörlosen Senioren in Hamburg. Im weiteren Verlauf setzte DIE LINKE sich dafür ein, dass nicht nur Menschen mit Behinderung, die in einem Internat untergebracht waren, eine Entschädigung erhalten, sondern auch diejenigen, die nicht im Internat untergebracht waren.
Wie soll die Entschädigung aussehen?
Es soll eine monatliche Auszahlung geben, anders als die Einmalzahlung von der Stiftung Anerkennung und Hilfe. Beim sozialen Entschädigungsrecht bemisst sich die Höhe der Leistungen nach dem Grad der Schädigungsfolge (GdS) und erfolgt normalerweise als monatliche Rentenzahlung. Hier geht die Spanne der Grundrente von 156 Euro bis 811 Euro monatlich, welche zudem steuerfrei ist. Im Forderungskatalog des DGB von 2019 werden bereits monatlich 300 Euro gefordert. Aus meiner Sicht wäre das ein angemessener Betrag.
Was sind deine nächsten Schritte?
Meine jetzige Arbeit liegt vor allem darin, mit der Politik zusammen zu arbeiten. Außerdem geht es darum, mit Helmut Vogel, Deaf History Now sowie dem Institut für Deutsche Gebärdensprache (IDGS) an der Universität Hamburg Beweise in Form von Dokumenten wie Fotos und Filme zu sammeln und zu archivieren. Mit diesem Material können wir die Politik besser davon überzeugen, dass eine Entschädigung notwendig ist.
Wie schätzt du die Erfolgsaussichten ein?
Eine schwierige Frage. Das letzte Mal hatte der Senat Hamburg ein ähnliches Vorhaben und hatte damit keinen Erfolg. Dabei ging es um die OEG-Entschädigung für psychische Gewalt im Rahmen der Istanbul-Konvention 2019 (Rechtsinstrument, um Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt zu vermeiden, Anm. DGZ). Die Senatorin für Arbeit, Gesundheit, Soziales, Familie und Integration Melanie Schlotzhauer sagte allerdings, dass in unserem Fall die Chancen besser stehen, Recht zu erhalten. Wir hätten eine sehr starke Argumentation und sind eine große Gemeinschaft. Bei der Istanbul-Konvention handelte es sich eher um Einzelfälle. Sollte das nicht klappen, ist mein Plan B, mich an den Bundesverband Deutscher Stiftungen zu wenden. Dann wäre es eine Einmalzahlung in ähnlicher Form wie die bei der Stiftung Anerkennung und Hilfe.
Vielen Dank für das Interview!
Dieser Artikel ist zuerst in der Deutschen Gehörlosenzeitung (Ausgabe 09/2023) erschienen.