Behindert und Woman of Color: Mein Leben lang ein Alien?

Amy liegt auf dem Rücken. Ihre schwarzen langen Haare liegen vom Kopf ab. Sie trägt ein schwarzes T-Shirt und hat die Augen geschlossen.
Heimatgefühl - dort, wo man sich fallen lassen kann. Foto: Sonja Niemeier | www.sonja-niemeier.com
Lesezeit ca. 6 Minuten

Wo kommst du her? Warum bist du blind? Fragen, bei denen sich Amy Zayed früher gefühlt hat, als käme sie von einem anderen Planeten. Heute wünscht sie sich bei solchen Fragen mehr Empathie, manchmal etwas weniger Taktgefühl und die Wahrnehmung, dass Anderssein normal ist. 

Ich wuchs in einem kleinen Dorf in der Nähe von Paderborn, im tiefsten Ostwestfalen auf, als Tochter ägyptischer Eltern. Das allein schon war Grund, eine Art Alien zu sein, die Attraktion des Dorfes! Noch mehr, da mein Vater der Dorfapotheker war. Also nicht dem Ausländer-Klischee entsprechend. Zumindest nicht dem von Leuten, die nie aus ihrem Dorf rausgekommen waren. Meine Eltern wurden oft gefragt, ob es in Kairo überhaupt Schulen gibt, ob die Leute dort noch Kamele reiten, und wie es kommt, dass meine Mutter sich für englische Musik und Mode interessiert. Trägt man dort nicht nur Kopftuch? 

Ich kann gar nicht aufzählen, wie viele Artikel es über uns in der Dorfzeitung gab. Wir waren die „Vorzeige-Ausländer“ mit der blinden Tochter. Meine Eltern haben lange überlegt, wie sie mit der Situation umgehen sollen. Einerseits wollten sie nicht das Zootier des Dorfes sein, andererseits war ihnen auch klar, dass sie, wenn sie abblocken, sehr schnell den Zugang zu den Leuten verlieren. Sie konnten damit umgehen. Sehr gut sogar. Sie beantworteten die Fragen, aber gleichzeitig hinterfragten sie diese auch. Bei uns ging es immer heiß her: Meine Mutter veranstaltete ägyptische Abendessen und Diskussionen zu Kultur und Popkultur, und die Leute fingen oft an, sich ernsthaft für Ägypten zu interessieren. Für mich als Kind war das einerseits irgendwie cool, und ich lernte schnell, mich vor Leuten zu präsentieren. Aber andererseits nervten mich die immer gleichen Fragen. Meistens von Leuten, die ich neu kennen lernte: Wo kommst Du her? Und: Warum bist Du blind?

Anders sein – fremd wirken

Besonders im Grundschulalter: Obwohl ich mich gut „verkaufen“ kann, wenn ich das möchte, war ich sauer. 1. Ich komme aus Paderborn, 2. Warum ich blind bin, geht niemanden was an!

Als ich dann älter wurde, setzte ich mich mehr damit auseinander. Was genau war es eigentlich, was mich an diesen beiden Fragen nervte? Ich schaute in den Spiegel, und ja, ich sah anders aus. Ich habe Haare, die eher zu afro tendieren, meine Haut ist nicht schwarz, aber auch nicht europäisch, meine Augen sehen eben südländisch aus und, dass ich blind bin, sieht man! Und mir wurde klar: Ich mag mich so! Ich mag die Tatsache, dass ich beides bin, dass ich Ostwestfälin und Ägypterin bin, ich mag die Tatsache, dass ich vier Sprachen kann, und auch, dass ich nicht sehen kann, ist ein Teil von mir. Warum also nervt mich die Frage? Weil ich das Gefühl vermittelt bekam, dass Anderssein nicht gut ist. Dass man nicht dazugehört, wenn man anders ist. An der Grundschule wurden türkische Mitschüler von Lehrern gehänselt, weil sie nicht so gut Deutsch konnten, sie wurden vor allen blamiert, weil ihre Eltern beim Elternsprechtag anders angezogen waren. Anfangs wurde ich auch von Lehrern und Mitschülern ausgegrenzt. Weil ich lustig Deutsch und Arabisch zusammen warf. Man stellte mir eine Beurteilung aus, in der stand, dass ich lernbehindert sei und, dass es aufgrund meiner ausländischen Herkunft schwer sein würde, mich zu unterrichten und, dass ich besser auf eine Lernbehindertenschule soll. Man ging davon aus: Bei der sind Hopfen und Malz verloren, weil sie wahrscheinlich ein soziales Umfeld hat, in dem sie eh nicht lernen können wird. Später, als meine Eltern mit den Lehrern sprachen, und diese sahen, dass sie „angepasst“ waren, änderte sich das Verhalten. Plötzlich war ich total „in“. Die Vorzeige-Ausländerin. Die, die auf alle Schulveranstaltungen durfte, und nicht, wie manche anderen Mitschülerinnen mit Migrationshintergrund, zu Hause bleiben musste, da ihre Eltern traditionell so geprägt waren, dass ein Mädchen nie außer Haus übernachten darf.

Fragen, die ausschließen

Ich war total super und richtig deutsch, weil mir meine Eltern vorschlugen, ich könnte mir doch aussuchen, in welchen Religionsunterricht ich gehen möchte, da es keinen islamischen gab. Man setzte sich für mich im Unterricht ein und als ich mich in einem Jahr zur Klassenbesten hochmauserte, wurde ich mit Lob überhäuft. Und diesen Status wollte ich als Kind natürlich wahren! Welches Kind will denn schon uncool sein? Und ja, ich habe oft gedacht: Gott sei Dank gehöre ich dazu! Gott sei Dank habe ich nicht die Probleme von diesem oder jener MitschülerIn. Und dazu gehörte, dass man „nur“ aus der Nähe von Paderborn stammt. Wenn dann doch irgendwer im Supermarkt, wenn ich mich mal nicht gut benommen habe, meinen Eltern und mir zurief, wir sollen dahin zurückgehen, wo wir hergekommen sind, habe ich mich in Grund und Boden geschämt! Anderssein war also doof, man wollte nicht anders sein.

Das Gleiche galt in vielen Fällen auch für meine Blindheit. Fragen danach bedeuteten weitere Fragen: Kannst Du dies oder jenes alleine? Bist Du überhaupt ein vollwertiger Mensch? Zumindest hörte ich das aus den Fragen heraus. Und dieses Gefühl ist erniedrigend. Die Fragen habe ich für mich selbst herausgefunden, sind eigentlich nur ein Trigger für etwas viel Schlimmeres. Für ausgeschlossen sein. Aber was, wenn Anderssein normal wäre? Nicht übertrieben besonders, und nicht übertrieben schlecht, einfach Teil des Ganzen? Kein Bayer würde sich komisch fühlen, wenn ihn ein Kölner fragt, woher er kommt, weil er einen bayerischen Akzent hat. Denn trotzdem wäre der Bayer einfach nur ein Teil des Ganzen. Wenn man eine behinderte Frau mit Migrationshintergrund fragt, woher sie kommt oder warum sie blind ist, hängt ein riesiger Rattenschwanz dran. Vorurteile, Erfahrungen, die man selbst gemacht hat. Ich verstehe, dass es Menschen gibt, die keine Lust auf diese Fragen haben und manchmal ist es auch echt nervig, sich andauernd erklären zu müssen und ganz ehrlich, keiner ist dazu verpflichtet das zu tun! Ich habe allerdings für mich beschlossen, dass der Dialog mir wichtiger ist, als das Schweigen. Mir ist lieber, jemand fragt mich, als dass er seine Frage für sich behält, und dafür auch all seine Vorurteile. 

Verständnis, Empathie, Respekt

Das Problem ist meiner Meinung nach nicht die Frage an sich, sondern das, was sie impliziert. Du bist schlechter, Du gehörst nicht dazu! Du bist nicht deutsch genug! Weil aus einem anderen Land zu kommen schlecht ist und „Klischee-deutsch“ gut! Tatsache ist: Ich bin aus Paderborn und dazu stehe ich! Aber zu behaupten, ich sei nur aus Paderborn, würde mir das Gefühl geben, mich selbst zu verleugnen. Einen Teil von mir zu verraten. Den Teil, der arabische Literatur mag, der von meiner Oma alte pharaonische Mythen beigebracht bekommen hat und der mich täglich, genau wie meine Blindheit, begleitet! Ich hätte das Gefühl, ich verrate mich selbst und spiele damit all den Menschen in die Hände, die behaupten, dass Anderssein schlecht ist! Es ist nichts falsch daran, nicht weiß zu sein. Es ist nichts falsch daran, aus Anatolien oder Syrien zu sein, es ist nichts falsch daran aus seinem Land geflohen zu sein, um eine andere Heimat mit einer besseren Zukunft zu finden. Was falsch ist, ist die Intention der Menschen, die in uns ein Zootier sehen, dass man dressieren kann. Oder jemanden, der schlechter ist als sie selbst. 

Ich habe persönlich für mich beschlossen, dass ich es großartig finde, anders zu sein und deshalb nervt mich die Frage nicht mehr allzu sehr. Was mich aber nach wie vor nervt, ist, dass Anderssein immer noch nicht normal ist. Ich bin ein Mensch, der nicht allzu viel von Taktgefühl hält. Taktgefühl birgt immer ein bisschen Unehrlichkeit. „Man kann das doch nicht sagen! Man kann das doch nicht fragen!“ Nicht zu verwechseln mit Rücksichtnahme, Verständnis, Empathie, Anteilnahme und vor allem Respekt. Taktgefühl ist für mich dieses Wort, was wir gern nutzen, um unsere eigene Unsicherheit zu tarnen, weil wir nicht ehrlich sein können, oder die Angst, dass jemand das, was wir zu sagen haben, nicht verkraften kann. Man kann niemandem „taktvoll“ beibringen, dass er gefeuert ist, ohne dabei wie ein Heuchler zu klingen. Für mich gilt: Man kann und sollte immer Fragen stellen, die man auf dem Herzen hat und sagen, was man denkt. Aber es geht um den Respekt dabei. Und auch darum, zu akzeptieren, wenn jemand nicht darüber sprechen möchte, nicht auf dem Präsentierteller sein möchte.

Fragt Euch als weiße Nicht-Behinderte, warum es Euch eigentlich interessiert, woher jemand kommt oder warum jemand eine Behinderung hat. Ist es einfach nur das Interesse eines Menschen, wie an einem Zootier? Wenn ja, ist die Frage unangebracht, denn der Respekt fehlt. Ich bin zumindest froh, dass ich auf die Frage nach meiner Blindheit relativ schnell abblocken konnte, denn die Antwort lautet wahrheitsgemäß: Ich weiss es nicht, bisher konnte das medizinische Rätsel noch keiner lösen. Auf die Frage, woher ich komme, antworte ich auch wahrheitsgemäß: Ich bin aus Paderborn, aus Kairo, und ein Stück meines Herzens kommt auch aus Manchester in England, wo über 50 Prozent meiner Freunde leben. Seit ich 14 Jahre alt bin, ist die britische Kultur Teil meines Lebens. Meine ersten Radio-Gehversuche starteten bei einem britischen Radiosender. Und so habe ich das Gefühl, dass sowohl die Musik aus Manchester als auch die Menschen meinem Herzen sehr nah sind. 

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