Barrieren, Belastungen und Bedürfnisse: Die unsichtbaren Angehörigen von Menschen mit Behinderung

Nahaufnahme von zwei Personen die Hand in Hand laufen.
Gemeinsam betroffen? Angehörige von und Menschen mit Behinderungen. Foto: Imam Fadly | Unsplash.com
Lesezeit ca. 9 Minuten

Angehörige von behinderten Menschen stehen zwischen den Stühlen: Sie sind selbst nicht betroffen, aber, wenn sie Barrieren und Diskriminierung miterleben, dann irgendwie doch.  Unsere Autorin Steffi Krings beschreibt ihre andauernde Suche nach Unterstützung und Austausch.

„Ich stehe zwischen den Stühlen. Ich sehe und spüre die Barrieren, die die Behinderung meines Partners mit sich bringt – nicht direkt. Aber als Angehörige bin ich doch so stark involviert und durch unser gemeinsames Leben so eng damit verwoben, dass seine Behinderung mich natürlich auch betrifft. Und trotzdem sitze ich auf keinem dieser Stühle. Wo ist also der Platz für die Angehörigen von behinderten Menschen in unserer Gesellschaft und was macht die Gesetzgebung konkret für uns?“

Seit 12 Jahren lebe ich in einer inklusiven Partnerschaft und bin Angehörige eines Menschen mit einer (unsichtbaren) Behinderung bzw. chronischen Erkrankung. Es war ein steiniger Weg bis zur offiziellen Schwerbehinderung und der Anerkennung vor dem Gesetz. Auch wenn dies für viele ein Stigma bedeutet und es in vielen Bereichen leider eines ist, war der Moment als der unbefristete Bescheid einging, für mich eine riesige Erleichterung. Mein Mann und ich haben uns… gefreut! Manche Menschen in unserem Freundes- und Bekanntenkreis konnten diese Freude nur bedingt nachvollziehen und wussten nicht, wie sie reagieren sollten:  Freut man sich jetzt mit, wenn jemand offiziell als schwerbehindert gilt? Was sagt man dazu? Herzlichen Glückwunsch? Im Grunde genommen schon. Herzlichen Glückwunsch zur Anerkennung, dass die Barrieren im Alltag wirklich da sind und die Teilhabe dadurch eingeschränkt wird. Und somit auch für mich die Bestätigung, dass unser gemeinsames Leben auch ziemlich herausfordernd sein kann. Der Mensch braucht Fakten, um sein Gegenüber einzusortieren. Und so sehr ich Pauschalisierungen verabscheue, so weiß ich, dass Etiketten manchmal hilfreich sind. Sie schaffen Klarheit. Natürlich bleibt es trotzdem das Ziel, dass es keine Etiketten mehr benötigt und jeder Mensch in der eigenen Einzigartigkeit angenommen wird. Aber diese inklusive Utopie ist noch lange nicht erreicht. Gleichzeitig fußt unser System darauf, dass man nur mit einer Diagnose Leistungen und einen Nachteilsausgleich beantragen kann. Diese defizitäre Sichtweise und der Versuch, Inklusion zu verwirklichen, finden ihre Widersprüchlichkeit in dem sogenannten Etikettierungs-Dilemma. Eine Situation, die sich aktuell noch nicht auflösen lässt und für mich einen der größten Stolpersteine darstellt. Genau an diesem Punkt befinde ich mich als Angehörige in einer Art Nichts. Meine Meinung, meine Sicht der Dinge, meine Belastung spielen in diesem Prozess keine Rolle. Die Erniedrigungen, die Frustrationen, die mein Mann durchlebte, bis der unbefristete Bescheid einging, habe ich mitgetragen. Ich habe ihn motiviert, nicht aufzugeben und ihn immer wieder unterstützt. In unserem System sind Angehörige in der Rolle als Partner*in gut, um als Motivator*innen und Unterstützer*innen zu agieren. Aber Anrecht auf eine Entlastung in Form von konkreten Leistungen haben wir nicht. Ich selbst kann nichts beantragen.

Wieso spielt das System, das einen Menschen mit Behinderung oder chronischer Erkrankung umgibt, häufig kaum eine Rolle? Zumindest auf der Ebene der Eingliederungshilfe oder im Rahmen der Teilhabe. Auch als Arbeitnehmer*in gibt es gesetzlich keine Grundlage, wenn man Angehörige eines Menschen mit Behinderung ist. Arbeitgeber*innen sind arbeitsrechtlich für die Angestellten verantwortlich und nicht für Angehörige. Die Pandemie hat diese Themen nochmal verstärkt und mir ungeschönt und hart gezeigt, dass man als Angehörige*r nur sehr begrenzte Mittel hat und auf das Wohlwollen seines Umfeldes und dessen Bereitschaft, für den Schutz anderer ihr eigenes Leben zu ändern, angewiesen ist. Da stand ich nun mit dem Wunsch meinen Mann und unser gemeinsames Leben als Familie zu schützen. Mit den Sorgen und Ängsten, ob das Virus uns auseinanderreißt, fühlte ich mich hilflos und konnte auf die Veränderungen nur reagieren, anstatt aktiv etwas zu tun. Dieser Punkt war für mich einer der Schlüsselmomente, an dem ich merkte, dass es so nicht weitergehen kann. In einem zweiten Schritt wurde mir klar, dass es auch anderen Angehörigen so gehen muss. Ich bekam den Tipp durch Kontakte zu Selbsthilfegruppen zu schauen, welche gemeinsamen Themen es gibt, um auch anderen Angehörigen eine Stimme zu geben. Auch, wenn wir noch nicht so laut sind, so sind wir doch viele. 

Wichtig war mir von Anfang an, dass ich eine Gruppe finde, in der es um die gleiche Erkrankung geht bzw. es Überschneidungen gibt. Mit diesen Gedanken habe ich mich auf die Suche begeben nach professionellen Angeboten für Angehörige. Wenn ich nichts beantragen kann, was mir Entlastung verschafft, dann muss es doch andere Hilfen oder Angebote für Menschen wie mich geben. Die Suche war langwierig und sie ist immer wieder im Sande verlaufen. Das große Bedürfnis nach Informationen ist Teil meiner Generation Y. Wir möchten alles verstehen und fragen immer wieder nach dem „Warum?“. Wir wollen Antworten, verstehen was um uns herum passiert und Zusammenhänge verstehen.

Die Vielfalt an Informationen zu Behinderungen und chronischen Erkrankungen ist mannigfaltig. Und sie sind wichtig, sie bilden die Grundlage für das eigene Verständnis und für eine empathische Grundhaltung. Und trotzdem kann ich es mir nur vorstellen und werde niemals in der Gänze nachempfinden können, was es bedeutet, körperlich behindert zu sein. Gleichzeitig gibt es andere Barrieren, die kräftezehrend sind, wodurch bei mir der Anspruch wächst, eigene Bedürfnisse und Grenzen zu erkennen und sie zu achten. In akuten Phasen, aber auch darüber hinaus, ist das Setzen von Grenzen lebenswichtig geworden. Man kann nur für jemanden da sein, wenn man auf das eigene Seelenheil achtet. Wenn ich frühere Generationen beobachte, herrscht hier immer noch der Anspruch, sich für den*die Partner*in aufzuopfern, über eigene Grenzen zu gehen, seine eigene Gesundheit zu riskieren und am Ende vielleicht selbst eine Behinderung zu erwerben. Die Angehörigen von Menschen mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten stehen immer an zweiter Stelle und verbringen ihr Leben im Schatten eines anderen. Und oft wird genau das erwartet. Sonst macht man es nicht richtig. Da bin ich tatsächlich ganz froh, Teil einer Generation zu sein, die dies aufbricht und mit Selfcare und Achtsamkeit neue Bewegungen gestartet hat und auch für die Rolle der Angehörigen neue Formen schafft. Und damit man nicht nur in seiner eigenen Bubble bleibt und so manchmal den Blick nach Außen verliert, ist der Austausch mit anderen, die genau in der gleichen Situation sind, oft hilfreich. So sagt man, denn selbst erfahren habe ich es bisher noch nicht. Die Gründe sind vielfältig und ich möchte einen Versuch wagen diese herauszufinden.

Neben Vorurteilen bezüglich Selbsthilfegruppen, von denen auch ich mich nicht freisprechen kann, war für mich war zu Beginn klar, dass ich eine Gruppe von Angehörigen suche, dessen Partner*innen die gleiche Erkrankung haben wie mein Mann bzw. es Überschneidungen gibt. Auf den ersten Blick mag man sich vielleicht die Frage stellen, ob es nicht ausreichend ist, wenn sich Angehörige allgemein austauschen. Sicherlich wird es da Schnittmengen geben, nur ist der Alltag je nach Behinderung oder Erkrankung ein ganz anderer. Und für mich sind Selbsthilfegruppen interessant, wo ich nach wenigen Sätzen bereits verstanden werde, weil mein Gegenüber genau das kennt und es selbst durchlebt hat. Mal nicht erklären, nicht weit ausholen, mich oder meinen Partner auf eine Sache reduzieren oder sich „nackig“ machen. In meiner Suche habe ich ganz oft das Gefühl gehabt, ich persönlich werde nicht angesprochen und fühlte mich in meiner individuellen Situation nicht abgeholt. Ich passe nicht ins Schema. Nicht von der Behinderung meines Mannes, nicht von meinem Alter und meiner Generation. Und das hat meinen Plan bis heute noch vereitelt.

Mein Mann hat u.a. die chronische Erkrankung Rheuma. Viele verbinden diese Krankheit mit älteren Menschen, denn Rheuma ist zwar vielen ein Begriff, aber, dass es 400 Arten gibt, die alle unterschiedlich sind, wissen die wenigsten. Und auch von der Altersstruktur ist alles vertreten. Das macht natürlich auch die Personen, die als Angehörige vertreten sind, sehr vielfältig. Gruppenleiter*innen vermuten, dass viele Angebote für Angehörige nicht zustande kommen, da es zum Beispiel je nach Erkrankung Zeiten gibt, wo alles weitestgehend gut eingestellt ist und die körperlichen Barrieren weniger stark ausgeprägt sind. Und diesen Phasen möchten Angehörige keine Zeit damit verbringen, sich wieder mit der Erkrankung zu beschäftigen. Sie sind froh, wenn es zwischendurch (relativ) unbeschwerte Zeiten gibt, und wollen diese genießen. Und das kann ich als Angehörige gut nachvollziehen, besonders wenn es sich um chronische Erkrankungen handelt, die schubhaft verlaufen. Man möchte die guten Phasen nicht damit verdunkeln, indem man über die schweren Zeiten spricht. Verdrängen ist ein Schutzmechanismus, denn wenn man nur an die Behinderung oder Erkrankung denkt, nimmt sie viel mehr Raum ein und schwebt über allem. Bei uns sind vor allem der Herbst und Winter die schwierigen Zeiten. Herbstzeit ist Schubzeit. Und das vergesse ich auch manchmal in den besseren Zeiten. Doch ich weiß, sie kommen und sie gehören dazu. Daher wäre es umso wichtiger, sich zu stärken und auf Entlastung zuzugreifen, wenn man noch die Energie dazu hat. Meist ist der Alltag so voll, dass wenig Platz für zusätzliche Termine bleibt. Auch, wenn sie genau dann so wichtig wären. Doch es ist auch gar nicht einfach, passende Angebote zu finden. Aktuell stehe ich noch immer auf einer Warteliste für eine Online-Selbsthilfegruppe für Angehörige von Rheumatiker*innen und bin gespannt, ob daraus noch etwas wird. Andere Aufrufe von Angehörigen in verschiedenen Foren bleiben häufig unbeantwortet und es scheint, es besteht kein Interesse. Doch als Grund nur fehlendes Interesse anzuführen, wäre zu eindimensional. Ich frage mich viel eher, wo die ganzen Angehörigen sind und aus welchen Gründen sie es vorziehen, in ihrer Bubble zu agieren. Verbünde als Form der Stärkung können Rückhalt geben, besonders in schwierigen Zeiten. Doch auch ich habe lange Zeit nicht aktiv nach Angeboten dieser Art gesucht oder habe aufgegeben, weil ich nicht den Eindruck hatte, es passt oder keine Rückmeldungen auf eigene Anfragen mehr kamen. Somit war zusammenfassend die Suche nach Entlastungsangeboten für mich sehr frustrierend. Ich bin nicht weitergekommen und doch habe ich neue Erfahrungen gewonnen und konnte erkennen, wo einige der Probleme liegen. Wir Angehörigen brauchen auch unsere Nischen, wo wir ankommen können, uns nicht erklären brauchen und aufgefangen werden. Es gibt Träger und Vereine, die hier bereits einen wertvollen Beitrag leisten, doch es reicht bei weitem noch nicht aus. Inklusion bedeutet für mich das ganze System, das behindert wird, in die Mitte zu holen und passende Angebote zu schaffen. Dazu gehört für mich ebenfalls eine angepasste Gesetzgebung, die Menschen, wie mich, und ihre individuellen Lebenswelten tatsächlich berücksichtigt. Dies bedeutet ganz konkret, dass ich mir den offiziellen Status „Angehörige*r“ auf gesetzlicher Ebene wünsche und dies Einfluss nimmt auf alle Bereiche der Teilhabe. Als Familie, Partner*in und Arbeitnehmer*in. Daraus resultierend wäre das Beantragen von Leistungen unterstützend (um diese auch zu erhalten!). Dies könnte weitere Zuschüsse für Präventionskurse sein, die mich und meinen Körper stärken, damit ich den Alltag in herausfordernden Phasen besser meistern kann. Denn in genau in diesen Zeiten erfährt mein Körper eine andere Belastung, die dazu führen kann, dass ich krank werde und dann auch wieder Kosten für die Krankenkasse verursache, was meiner Erfahrung nach der Hauptgrund für das Verwehren von Leistungen ist. Auch Entspannungsangebote und -techniken, zusätzliche Urlaubstage oder einen weiteren Bildungsurlaub. Bedingt durch die Corona-Pandemie gibt es Familienauszeiten, die allerdings so überlaufen sind, dass es kaum möglich ist, einen Platz irgendwo zu erhalten. Grundsätzlich ein sehr sinnvolles Angebot, das massiv ausgebaut werden muss. Die Nachfrage zeigt, dass der Bedarf immens hoch ist! Daher wünsche ich mir ein fest installiertes Angebot dieser Art für Familien mit einem behinderten Familienmitglied. Zusammenfassend braucht es mehr Möglichkeiten, die den Alltag erleichtern, ohne zusätzliche finanzielle Belastungen. Denn das baut Barrieren ab, und Zeit gibt für die wesentlichen Dinge im Leben! 

Bis das erreicht ist, werde ich meinen Klappstuhl weiterhin hinstellen, wo es nur passt, und die Situation der Angehörigen beleuchten, damit wir weder zwischen den Stühlen noch im Schatten sitzen. Gleichzeitig weiß ich auch, dass sich grundsätzlich und besonders politisch nur etwas bewegen kann, wenn wir einen festen Platz in der Diskussion erhalten. Ein eigener Stuhl für Angehörige, damit wir nicht mehr dazwischen sitzen, sondern vom System gesehen und berücksichtigt werden. Und dabei folge ich den Worten: “Gehe nicht, wohin der Weg führen mag, sondern dorthin, wo kein Weg ist, und hinterlasse eine Spur.” (Jean Paul). Der Anfang ist geschafft und vielleicht finden wir auch gemeinsam neue Wege und viele Spuren, die nicht ignoriert werden können. 

Wenn ihr Anlaufstellen für Angehörige von behinderten Menschen kennt, die ihr empfehlen könnt, dann schreibt sie gerne unten in die Kommentare.

Vielen Dank!

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5 Antworten

  1. Liebe Steffi,

    ich danke Dir sehr dafür, dass Du Deine wichtigen Gedanken so klar vermittelst! Den Link hierher hat Raul Krauthausen in seinem neuesten Newsletter veröffentlicht.
    Ich werde Deinen Beitrag verbreiten …

    Ganz herzliche Grüße
    Evy

  2. Ich bin Mitglied im Verein
    Wir pflegen e.V.
    ein Angehörigen verein, gut Kontakte und Infos, lohnt sich !!!!
    Beese-Wedepohl

  3. Liebe Eva,
    vielen Dank für dein wertschätzendes Feedback und, dass du hilfst mehr auf die Situation von Angehörigen aufmerksam zu machen! Liebe Grüße Steffi

  4. Hey Steffi, klasse geschrieben und das Augenmerk auf einen wichtigen Punkt gelegt. Spannend wo es da noch hingeht. Ich drück euch die Daumen, dass du gute Angebote findest.

    Lg
    Basti

    1. Danke Basti! Freut mich, dass du den Weg hierher gefunden hast. Ich hoffe auch, dass es für uns Angehörige und die Inklusion insgesamt noch weitergeht ♥️ Die Suche geht weiter…

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