“Curator of Outreach”, so lautet die aktuelle Berufsbezeichnung des Historikers Murat Akan, der durch Vermittlungsarbeit Berliner Museen und Gedenkstätten dabei unterstützt, ein diverseres Publikum zu erreichen. Was das für Vorteile mit sich bringt und wo es immer noch Barrieren gibt, erklärt er im Interview.
Das Interview ist gemeinsam mit Diversity Arts Culture für die Reihe “Behinderung im Spielplan – Zugänge in den Kulturbetrieb” entstanden.
Die Neue Norm: Du arbeitest schon sehr lange im Kulturbetrieb. Auf welche Barrieren bist du auf deinem Weg hierher gestoßen?
Murat Akan: Ich bin Historiker, in Hamburg geboren und seit circa 15 Jahren in der Kulturszene tätig. Zuerst habe ich freiberuflich gearbeitet, vor allem am Jüdischen Museum Berlin, dann festangestellt bei einem Träger, der sich mit entwicklungspolitischer Bildung beschäftigt. Jetzt bin ich bei der Stiftung Topographie des Terrors im Bereich Outreach (das heißt in der Vermittlung, Anmerkung der Redaktion) tätig. Wenn ich über Barrieren nachdenke, fällt mir als erstes ein sehr einschneidendes Erlebnis ein, dass ich bei einem Bewerbungsgespräch direkt nach dem Studium hatte. Ich wusste damals noch nicht, dass ich eine sehr seltene Erkrankung habe. Ich habe die Stelle nicht bekommen – sehr viel später habe ich erfahren, dass das Gespräch als „von Alkoholismus beeinflusst“ gedeutet wurde. Als ich das herausgefunden habe, kannte ich meine Diagnose, und es war ein großer Schock für mich. Einerseits konnte ich verstehen, dass das Gespräch so gedeutet wurde, andererseits habe ich das schwerwiegende Missverständnis dahinter gesehen. Ich kann es zwar nicht eindeutig erfassen und belegen, wie meine Krankheit meinen Werdegang beeinflusst hat, aber ich würde sagen, dass sie es auf jeden Fall getan hat.
Jetzt bin ich wieder auf Jobsuche und zweifle an der Aussage, dass schwerbehinderte Bewerber*innen bei gleicher Qualifikation eher eingestellt werden. Ich vermute fast, dass das Gegenteil zutrifft.
Murat Akan
Murat Akan ist Historiker und seit 15 Jahren in der politischen und historischen Bildungsarbeit tätig, u.a. auch für verschiedene Museen, darunter das Jüdische Museum, das Deutsche Historische Museum und die Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Zurzeit arbeitet Murat Akan als Curator of Outreach bei der Stiftung Topographie des Terrors. (Curator of Outreach sind von der Senatsverwaltung für Kultur und Europa geförderte Stellen, die Berliner Museen und Gedenkstätten dabei unterstützen, ein diverseres Publikum durch Vermittlungsarbeit zu erreichen.)
Zurzeit arbeitest du als Curator of Outreach in der Stiftung Topographie des Terrors, einem Dokumentationszentrum. Wie versuchst du, marginalisierte Perspektiven in der Erinnerungsarbeit zu berücksichtigen?
Eine meiner Ideen dafür ist, globaler zu denken. Ich habe beispielsweise letztes Jahr eine Veranstaltung konzipiert zu NS-Tätern in Südamerika nach 1945 und ihrem dortigen Wirken. Dafür habe ich eine Skypekonferenz mit Akteur*innen aus Buenos Aires organisiert. Und ich begleite eine Person mit Lernschwierigkeiten, damit sie hier Seminare und Führungen mit mir im Tandem anbieten kann. Jenseits der Formate, die ich im Bereich Outreach entwickle, sehen die Besucher*innen durch mich einen Menschen mit Behinderung, der am Alltag teilhat. Das ist für viele eine wahnsinnige Überraschung.
Was ist dein Zugang zu Outreach? Warum ist dir Outreach wichtig?
Outreach hat eine große Schnittmenge zum Inklusionsgedanken. In der Vermittlungsarbeit geht es immer darum, dass wir als Institution unseren Rahmen verändern, und nicht die Besucher*innen sich anpassen müssen. Das finde ich einen wichtigen Standpunkt. Außerdem lässt sich Outreach mit Diversität zusammen denken: Die Institutionen sind noch wenig divers und sehr eurozentrisch aufgestellt. Ich versuche mit dem Outreachprogramm andere Perspektiven einzubringen. Wir haben zum Beispiel mit dem Verein Glokal e.V. ein rassismuskritisches Seminar zur Wilhelmstraße erstellt. Die Stiftung Topographie des Terrors hat die Geschichtsmeile Wilhelmstraße mitgestaltet. Die Wilhelmstraße war der zentrale Ort der deutschen Macht im 19. Jahrhundert. Der Titel des rassismuskritischen Seminars ist „Vom Zentrum der Macht zur Geschichtsmeile“ und es geht um die Präsentation von Geschichte im Stadtraum. Eine wichtige Frage dabei ist: Wer wählt aus, woran wir uns erinnern?
Wenn Behinderung und/oder Rassismus im (Geschichts-)Museum thematisiert werden, hat das dann die nötige Tiefe? Oder ist das ein „Erzählen über“, das Betroffene nicht einbezieht?
Die partizipative Ausstellungsgestaltung ist bei Gedenkstätten anders als bei Kunstmuseen noch nicht weit verbreitet. Während das Stadtmuseum eine Ausstellung machen kann wie „Bizim Berlin“, die Fotos von Ergun Çağatay aus der Wendezeit zeigt und die auf den Fotos abgebildeten Personen dazu heute aufsucht und porträtiert, gibt es an Gedenkstätten oft noch Vorbehalte, andere Perspektiven einzubinden. Das ist eine Zukunftsaufgabe. Es gibt aber auch Ausnahmen. Bei der Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde gibt es eine Audiointervention – das könnte auch für andere Gedenkstätten ein Weg sein. Mir ist es ein Anliegen, Erinnerungskultur multiperspektivisch zu gestalten und neue Zugänge zu schaffen.
Stichwort „multiperspektivisch“ – Welche Rolle spielt Intersektionalität bei deiner Arbeit?
Intersektionalität ist für viele ein Fremdwort. Ich fände es spannend, wenn man dazu ein Bildungsprogramm anbieten könnte. Die Überschneidung von Diskriminierungsformen ist selbst den Diskriminierten manchmal nicht bewusst. Eine diskriminierte Person weiß nicht, warum sie beispielsweise eine Stelle nicht bekommen hat. Liegt es daran, dass sie eine Behinderung hat oder eine Person of Colour ist oder beides?
Gibt es trotzdem bestimmte Zuschreibungen, die du wahrnimmst?
Das Aussehen bzw. die äußere Erscheinung ist dabei schon zentral. Dass ich einen Rollator besitze und nutze, wissen die meisten in meinem Umfeld. Das ist vielleicht das erste, was erwähnt werden würde. Mein türkischer Hintergrund ist zwar nicht sichtbar, aber mein Aussehen wird öfter als nicht-deutsch gelesen. Andere Dinge sind nicht sichtbar und spielen für die Außenwelt vielleicht nicht so eine große Rolle. Dass ich langsamer spreche wegen meiner Krankheit wissen viele nicht. Ich habe aber einmal gesagt bekommen, dass ich keine pädagogische Arbeit machen könne, weil ich so komisch redete. Da denke ich: Das ist Geschmacksache.
Die Vorstellung, wer geeignet ist, etwas zu vermitteln und wie die Person dabei auftreten soll, ist sehr normativ im Kulturbetrieb.
Das ist vielleicht das zentrale, wenn wir über Barrieren sprechen: Es sind oft nicht die offensichtlichen Barrieren, wie eine fehlende Rampe oder ein fehlender Fahrstuhl. Es sind eher die Schubladen in den Köpfen. Was kann ein Mensch und wozu ist er zu gebrauchen? Das ist eine sehr kapitalistische Logik. Das mag erstaunen, dass das im Kulturbereich auch nicht besser ist, als in anderen Bereichen. Ich würde sagen: Ja, es macht Sinn, dass ich nicht Handwerker geworden bin, aber Diskriminierung gibt es auch im Kulturbereich.
Ist Barriereabbau im Kulturbetrieb denn ein Thema? Was sind diesbezüglich Herausforderungen für Institutionen?
In dieser Hinsicht finde ich das Curator of Outreach-Programm des Berliner Senats ganz gut, weil es dazu beiträgt, dass sich etwas bewegt. Die Berlinische Galerie hat viel umgesetzt und das Haus der Wannsee Konferenz hat seine Dauerausstellung nach den Regeln des „Design für alle“ neugestaltet. Viele Institutionen haben leider noch ein falsches Bild von Inklusion: Inklusion ist nicht einfach die Interessenvertretung einer kleinen Gruppe, sondern eine gesellschaftliche Pflichtaufgabe, die allen dient. Dieser Gedanke müsste sich in der ganzen Gesellschaft durchsetzen.
Hast du das Gefühl, dass das Outreach-Programm auch nach innen in die Institution wirkt? Verändert das Programm auch die Strukturen im Haus?
Wenn Outreach als Querschnittsaufgabe gedacht wird, sozusagen auch als Inreach, dann erreiche ich mehr, als wenn es auf die Vermittlungsebene begrenzt ist. Ich konzipiere zusätzliche Veranstaltungsformate, wie zum Beispiel vor kurzem die Veranstaltung zum Tag der Muttersprache, die ein anderes Publikum ansprechen als das reguläre Programm. Etwa die Hälfte der Besucher*innen, die am Tag der Muttersprache hier waren, haben diesen Lernort zum ersten Mal besucht. Ich würde mir deswegen wünschen, dass diese Formate – auch ohne mich – fortbestehen.
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