“Mutig” oder “inspirierend”, so seien manche Reaktionen von Zuschauer*innen auf ihre Performance. Die Tänzerin Carolin Hartmann erklärt im Interview unter anderem, warum Künstler*innen mit Behinderung bei Kritiken oft “Welpenschutz” haben und dennoch richtig gut sein müssen, um wahrgenommen zu werden.
Das Interview ist gemeinsam mit Diversity Arts Culture für die Reihe “Behinderung im Spielplan – Zugänge in den Kulturbetrieb” entstanden.
Die Neue Norm: Was machst du für Kunst?
Carolin Hartmann: Ich mache verschiedene Sachen von Tanz, Theater und Performance. In den letzten Jahren ging es immer mehr darum, mich frei zu machen und meinen Körper zu entdecken. Gerade auch den Bewegungen meines Körpers zuzuschauen und sie nicht in eine bestimmte Tanzrichtung zu drängen. Was passiert dabei, was will mein Körper mir sagen? Wie folge ich der Bewegung mit ungeteilter Aufmerksamkeit? Wie gehe ich damit um, dass so viele Blicke auf mich gerichtet sind? Um mein Nervensystem da ruhig und stabil zu halten, sodass ich weiter frei in der Bewegung und im Ausdruck bin, braucht es Konzentration. Dann entspanne ich in der Bewegung. Im Alltag macht man nur eine Bewegung, um etwas zu erreichen. Beim Tanzen lasse ich meinen Körper frei und schaue ihm ohne Effizienzgedanken dabei zu, was er machen möchte. Das freie Wesen KÖRPER zeigt sich.
Zudem mache ich viele Kunstprojekte, die die Neuroplastizität betreffen. Ich schreibe dabei auch Texte, die durch Audio-Aufnahmen hörbar gemacht werden, während ich performe. Es ist die Poesie zwischen Körper und Geist, die ich dabei erforsche. Meine Kunst vereint Wissenschaft, Spiritualität und Poesie.
Carolin Hartmann
Carolin Hartmann ist freischaffende Tänzerin, Performerin, Schriftstellerin und Yogalehrerin. Sie lebt mit Friedreich-Ataxie, einer chronischen Nervenerkrankung. Sie war Residenzkünstlerin (2019-2020) von Making A Difference (BIRDS und zuletzt BRAIN OPERATION) und bietet international inklusive Workshops zu mentalem Training und Yoga an (auf Festivals wie zuletzt Boom 2018 Portugal, Movement&Healing 2019 Berlin, wöchentlicher inklusiver Yogakurs bei der Lebenshilfe Berlin)
Wie bist du zur Kunst gekommen?
Mein Jurastudium hat mich herausgefordert und so beansprucht, dass mir gar nicht klar war, dass mein Körper verkümmert und nach Aufmerksamkeit schreit. Mein juristisches Referendariat habe ich dann abbrechen müssen, da es mir gesundheitlich immer schlechter ging: ständige Migräne und Überforderung.
Nach dem Abbruch meines Referendariats habe ich mich entschlossen, den Rest meines Lebens meinem Körper und meiner Kunst zu widmen. Mit diesem Entschluss bin ich nach Indien geflogen, um dort mehrere Monate in einem Ashram zu leben. Was ich in Indien gelernt habe, gebe ich bis heute in meinen inklusiven Kursen weiter: zum Beispiel, dass es beim Yoga nicht um körperliche Darstellung im Außen geht, sondern um Introspektion, Innenschau. Yoga befasst sich mit der Körper-Geist-Beziehung, dem Feld meiner Kunst. Zurück in Deutschland habe ich angefangen zu tanzen. Ich habe Tanzunterricht genommen. Außerdem fing ich an, Gedichte und Texte zu schreiben. Musik (Trommeln und Singen) fing an mein Leben zu bereichern und meinen Ausdruck zu verfeinern.
Nebenbei entstanden Filme, die mich und meine Kunstprojekte dokumentieren („Sirenita“ von Luis Ortiz oder „Brain Operation“ von Yango Gonzalez).
So habe ich mein künstlerisches Leben begonnen. Ich war immer offen für Neues.
Kannst du vom Tanz und Yoga-Unterricht leben?
Nein, leider nicht. Ich bekomme Grundsicherung. Ich habe schon öfters überlegt, das zu ändern, vielleicht doch einen Job anzunehmen. Das ginge aber nur auf Kosten meiner Kunst.
Wer hat dich begleitet auf deinem künstlerischen Weg? Gibt es Vorbilder, zum Beispiel auch Menschen mit Behinderung?
Sowohl Künstler*innen mit als auch ohne Behinderung haben mich inspiriert auf meinem künstlerischen Weg. Ich liebe Frida Kahlo. Schon viele Jahre. Sie war so kraftvoll und mental stark genug, ihr Leben mit seinen schweren Schicksalsschlägen und ihren traumatisierten Körper in ihre wunderschöne Kunst zu packen.
Würdest du dir mehr Sichtbarkeit wünschen von Künstler*innen mit Behinderung?
Nein, nicht unbedingt mehr Sichtbarkeit, aber ich würde mir allgemein mehr Respekt vor einem Künstler wünschen, der sein Innerstes zeigt und sich so verletzlich macht. Egal, ob mit oder ohne Behinderung. Klar, darf kritisiert werden, aber konstruktiv und nicht verletzend. Interessanterweise kam bei mir die schärfste Kritik von anderen Künstler*innen mit Behinderung.
Wo finden denn deine Performances statt?
In Tanz- und Yogastudios, bei „offenen Bühnen“, im Park, auf der Straße, in der Fußgängerzone oder auch in meinem Wohnzimmer, was ich gerne filme und auf meinen Youtube-Kanal hochlade.
Findet deine Kunst im Mainstream oder eher in der Soziokultur, im kleineren Rahmen statt?
Ich würde schon sagen bisher im kleineren Rahmen. Kleine Performances, Workshops in Yogastudios und Lesungen oder Filmscreenings auch meistens im kleinen Kreis (Ateliers von Freunden).
Sind dort Menschen mit Behinderung unter sich oder ist es inklusiv?
Bunt gemischt. Völlig übergreifend und definitiv inklusiv. Das ist mir auch sehr wichtig, denn dieser Stempel, der die Kunst separiert und danach unterscheidet, ob der*die Künstler*in eine Behinderung hat, zeugt doch von mangelndem Kunstverständnis einer völlig unfreien und normativen Gesellschaft.
Ist es auf Seiten der Menschen ohne Behinderung auch manchmal ein “Nicht-Ernst-Nehmen” der Kunst?
Einige finden meine Kunst schon übertrieben „inspirierend“. Oder finden alles „mutig“, was ich mache. Wahrscheinlich schon meine Existenz. Die Tatsache, dass ich anders und „extra“ bin, macht mich noch lange nicht zur Künstlerin.
Also einerseits steht man als Künstler*in mit Behinderung übertrieben „unter Welpenschutz“ und ist vor jeder Art von Kritik geschützt. Andererseits muss man richtig, richtig gut sein, um auch von Menschen ohne Behinderung verstanden und ernst genommen zu werden.
Sollte die Behinderung im künstlerischen Schaffen vorkommen?
Vorschreiben sollte man es bestimmt nicht. Die Behinderung an sich ist ja noch keine Kunst. Ich kann von meiner Warte aus nur sagen, wie gut mir die Kunst tut. Genau auf meinen Körper zu schauen. Der Druck, alles schnell zu machen, belastet mich und mein Nervensystem. Bei der Kunst kann ich von diesem Druck Abstand nehmen. Ich feiere mein Anderssein als eine Besonderheit. Es ist ein Ventil für mich.
Beeinflusst deine Behinderung deine künstlerische Praxis beziehungsweise inwiefern profitiert deine Kunst von deiner Behinderung?
Als Tänzerin und Performerin erforsche ich den geistigen Anteil an der Bewegung, die Poesie zwischen Geist und Materie, die fast allen meinen künstlerischen Projekten zugrunde liegt. Mein Körper eignet sich durch seine chronische Nervenerkrankung hervorragend als Forschungsobjekt. Es ist die neuronale Kommunikation zwischen Körper und Geist, die sehr eigen ist. Während ich in meinem Alltag meinen Körper sehr oft als abgespalten von meinem Geist erfahre, bin ich eins in meiner Kunst.
Aus eigener Betroffenheit war mein Interesse für Neurowissenschaften schon sehr früh geweckt. Ich erfuhr von der Neuroplastizität, die eine Veränderbarkeit des Gehirns und so auch der Nerven durch Lernprozesse festgestellt hat. Ich wollte nun mein Gehirn dazu bringen, sich bestmöglich an den krankheitstypischen „Defekt“ im Kleinhirn, der für die Motorik zuständig ist, anzupassen. Es sollte mutieren und neue synaptische Verbindungen herstellen, um seine motorischen Aufgaben wahrnehmen zu können.
Dabei entwickelte ich auch meine „Bordering-Methode“, die bei einer Bewegung die komplette Muskelkette zurückverfolgt, um so eventuelle Blockaden lokalisieren und auflösen zu können. Die Auflösung erfolgt dabei durch den Versuch die Körpersprache zu lesen, sie zu deuten, zu decodieren. Diese „Bordering-Methode“ durfte ich 2019 in einer Künstlerresidenz von „Making A Difference“ weiterentwickeln. Durch diese Arbeit konnte ich auch die Kommunikation zwischen Körper und Geist stärken, sie transparenter machen. Jedoch konnte ich damit noch immer nicht mit sogenannter selbstgesteuerter Neuroplastizität mein Gehirn verändern. Dies wiederum war die Motivation für mein letztes Tanzprojekt „BRAIN OPERATION 2020“, erneut gefördert und produziert von „Making A Difference“.
Wenn Kulturinstitutionen inklusiver werden möchten, was würdest du ihnen raten? Wo können Sie anfangen?
Bei der generellen barrierefreien Zugänglichkeit. Das Netzwerk ausbauen, also verschiedene Leute mit und ohne Behinderung zusammenbringen. Ich fände es gut, wenn ein Rahmen geschaffen wird, in dem regelmäßige Zusammenkünfte – und dadurch regelmäßiger Austausch und Dialog – entstehen können: Seminare, Gruppen, Workshops, Kurse – also inklusiv mit behinderten und nichtbehinderten Künstler*innen, sodass man sich nicht wie von einem anderen Stern fühlt.
Was wären noch Wünsche an den Berliner Kulturbetrieb?
Mehr Offenheit, mehr ausprobieren, mehr wagen – also auch mal ganz neue Konzepte versuchen. Der Körper wird so gehyped und der geistige Aspekt, die Konzentration, die notwendig ist, um den Körper bei der Bewegung zu unterstützen, beziehungsweise die Bewegung überhaupt zu ermöglichen, kommt dabei meiner Meinung nach zu kurz.
Ich finde auch eine Offenheit und Anerkennung vielfältiger Körper gehört zum Umgang mit dem Körper. Es wäre interessant zu sehen, auch für Menschen ohne Behinderung, wie so ein Körper ticken kann. Wie erleben wir unsere Körper? Wo gibt es Widerstände im Körper? Das Leben des Körpers ist ganz schön spannend. Es ist schwierig einen Rahmen zu finden, um genau das darzustellen.
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Über die Reihe:
Behinderung im Spielplan – Zugänge in den Kulturbetrieb
„Kultur für alle!“ – bis heute beruft sich der Kulturbetrieb auf diesen Anspruch und behauptet oder fordert regelmäßig gleichberechtigten Zugang zur Kultur. Doch wenn man