Von der Liebe zur Sprache

Eine Frau mit baunen, schulterlangen Locken und Brille schaut lächelnd in die Kamera. Sie trägt einen braunen Rollkragenpullover, hinter ihr sind Bücherregale zu sehen.
Prof. Dr. Liona Paulus beherrscht fünf verschiedene Gebärdensprachen. Foto: Stefanie Wetzel
Lesezeit ca. 6 Minuten

Liona Paulus ist seit Anfang Oktober Professorin für Gebärdensprachdolmetschen und Gebärdensprache an der Universität Hamburg. Mit Louisa Pethke von der Deutschen Gehörlosenzeitung spricht die Sprachliebhaberin über Etappen im Leben, Brasilien, Schreibprozesse und Ressourcen.

Geboren bei Würzburg hat Professorin Liona Paulus mit ihren 40 Jahren einige Etappen hinter sich. Als Kind hörender Eltern geboren und bilingual aufgewachsen, studierte, lebte und arbeitete sie in verschiedenen deutschen Städten, reiste nach Brasilien und Italien und ist nun nach Hamburg gezogen. Sie beherrscht insgesamt fünf verschiedene Gebärdensprachen versteht fließend schriftliches Portugiesisch und Italienisch. Paulus ist Professorin, Taube Dolmetscherin und Vorsitzende der GKKG (Gesellschaft für Gebärdensprache und Kommunikation Gehörloser e.  V.). Wir treffen uns an einem späten nass-trüben Nachmittag im Café Nasch im Hamburger Gängeviertel – um die Ecke vom Institut für Deutsche Gebärdensprache (IDGS). Sie ist dem Ruf des Nordens gefolgt und nahm hier zum 1. Oktober eine Professur für Gebärdensprachdolmetschen und Gebärdensprachen an. 

Louisa Pethke (DGZ): Willkommen in Hamburg, Liona! Wie gefällt es dir hier?

Dr. Liona Paulus: Alles noch ganz frisch (lacht). Es fühlt sich sehr gut an. Es ist toll, am IDGS zu sein. Das Kollegium, die Arbeitsbedingungen, das Institut ist räumlich riesig – ich verlaufe mich oft (lacht). Die Studierenden sind sehr aktiv, politisch bewusst, die Stadt gefällt mir. 

Du hast bereits einige Etappen hinter dir – magst du anfangen, einige zu umreißen? 

Die erste große Etappe war 2004 in Brasilien, nach meinem Abitur. Meine eigene Schulzeit verbrachte ich teils auf einer Schule für hörende Schüler und Schülerinnen und ich erinnere mich noch an den starken Druck, dort funktionieren zu müssen. Ich hatte taube Freunde, die mir eine Balance geben konnten, aber die Schulzeit insgesamt war ein großer Kampf. Ich machte in Brasilien ein FSJ (Freiwilliges Soziales Jahr, d. Red.) an der Escola Frei Pacífico in Porto Alegre. 150 Schulbesuchende, fünf taube Lehrende – ich war stark beeindruckt. Ich lernte Língua Brasileira de Sinais (LIBRAS, Brasilianische Gebärdensprache) und Portugiesisch. Diese Zeit war sehr prägend für mich. Ohne Brasilien wäre ich nicht da, wo ich jetzt bin.  

Was genau war so prägend an Brasilien?

Da war zum einen die Aufbruchstimmung. Zu dem Zeitpunkt, als ich vor Ort war, war Brasilien eine junge Demokratie. In dem Zuge wurde auch LIBRAS 2004 anerkannt – ich war beeindruckt, wie reich und vital die LIBRAS schon entwickelt war. An meiner Schule in Brasilien war sie ein selbstverständlicher Bestandteil. Das kennen wir aus Deutschland anders. Außerdem wurde die Gruppe tauber Menschen als sprachliche Minderheit anerkannt. Sie sind sehr gut vernetzt und präsent. Zum anderen ist da das generelle Kultur-Gefühl: menschennah, kollektiv und zusammen. Hier entdeckte ich auch meine große Liebe zur Sprache wieder – mich faszinierte Sprache schon immer.

Porträt-Bild von Liona Paulus. Sie trägt eine Brille und blickt seitlich in die Kamera.

Prof. Dr. Liona Paulus

studierte Buchwissenschaft, Romanistik und Kunstgeschichte an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. 2021 promovierte sie mit einer Dissertation zum Thema „Der Konditionalsatz in Deutscher Gebärdensprache (DGS) und Brasilianischer Gebärdensprache (Libras) – Eine empirische soziolinguistische Studie“ an der Universität Göttingen. Sie ist staatlich geprüfte Dolmetscherin und Übersetzerin für Schriftdeutsch und Deutsche Gebärdensprache und war wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule Fresenius Frankfurt am Main/Idstein und der Georg-August-Universität Göttingen. 2019 war sie Lehrkraft für besondere Aufgaben und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Studiengang Dolmetschen für Deutsche Gebärdensprache (DGS) an der Universität zu Köln. Seit Herbst 2023 ist Paulus Professorin für Gebärdensprachdolmetschen und Gebärdensprachen an der Universität Hamburg.


Sprachen wurden dann auch ein weitere Bestandteil deiner beruflichen Laufbahn in Deutschland?

Genau. Ich studierte dann in Mainz an der Johannes Gutenberg-Universität Buchwissenschaft, Kunstgeschichte und Portugiesische Romanistik und machte 2012 meinen Abschluss. Davor startete ich an der LMU in München zuerst mit Gehörlosenpädagogik. Ich wollte gerne etwas von dem, was ich in Brasilien erfuhr weitergeben. Das Studium brach ich aber nach dem 2. Semester ab. Es gefiel mir überhaupt nicht – rein lautsprachlich ausgerichtet und nicht passend für die Bedürfnisse, die ich kenne. Die Dolmetscherorganisation war auch in Mainz etwas langwierig, die Antragsbewilligung dauerte lange, aber dann lief es. 2009 absolvierte ich dann noch ein Auslandssemester in Bologna/Italien, und lernte dort Italienisch und Lingua dei Segni Italiana (LIS, Italienische Gebärdensprache) – auch eine großartige Erfahrung. Ich suche immer das Regelhafte (= das, was sich wiederholt) im Kommunikationsverhalten, also die Grammatik. Selbst Bienen sind total spannend, denn sie „tanzen“, um mit anderen Artgenossen zu sprechen. Da sickert wieder meine Faszination für Kommunikation und Sprache durch. Eine Berufskrankheit fast (lacht).

Aber das war noch nicht alles?

Ja (lacht). Ich habe die Angewohnheit, kurz bevor ich Dinge beende, neue Dinge zu beginnen – und habe so quasi immer laufende Projekte. Parallel zu meinem Studium lernte ich außerdem von Tauben Dozierenden etwas zur Didaktik und Sprachvermittlung der Gebärdensprache. Ein großer Dank geht hier an Roland Metz – ich lernte so viel von ihm. So unterrichtete ich z. B. auch Taube Menschen mit Migrationshintergrund im Integrationskurs und begann außerdem die weiterbildende Ausbildung zur Tauben Gebärdensprachdolmetscherin im Institut für Deutsche Gebärdensprache an der Universität Hamburg. Hier machte ich dann 2014 den Abschluss. Ich war außerdem wissenschaftliche Mitarbeiterin im Studiengang Gebärdensprachdolmetschen an der Hochschule Fresenius Idstein bei Frankfurt am Main. 

Deine Promotion (= Doktorarbeit) hast du dann in Göttingen abgeschlossen, und auch hier mit einem Bezug zu LIBRAS?

Ich schrieb meine Doktorarbeit zum Thema „Der Konditionalsatz in Deutscher Gebärdensprache (DGS) und Brasilianischer Gebärdensprache (LIBRAS) – Eine empirische soziolinguistische Studie“ an der Universität Göttingen und promovierte 2021. Ich habe den Konditionalsatz (WENN-DANN-Sätze) in DGS und LIBRAS untersucht und wollte dabei wissen, was zwei weit voneinander liegende und nicht verwandte Gebärdensprachen für Gemeinsamkeiten oder Unterschiede aufzeigen. Tatsächlich ergab sich, dass beide sich in der Verwendung von nichtmanuellen Mitteln (also hochgezogenen Augenbrauen und Kopfbewegung) sehr ähnlich sind und das in der Grundemotion „Überraschung“ (wenn man überrascht ist, zieht man die Augenbrauen und den Kopf hoch), die ALLE Menschen weltweit tragen, zugrunde liegt. Also eine gestische Ausdrucksweise, die Hörende auch verwenden, die aber in den beiden Gebärdensprachen systematisch vorkommen und daher grammatikalisiert, also Teil der Grammatik, sind. Bei Hörenden sind Augenbrauen und Kopfbewegung beim Sprechen in ihrer Lautsprache nur eine Wahl, es muss aber nicht vorkommen. In Gebärdensprachen MÜSSEN sie vorkommen, weil sie Teil der Grammatik sind. Und die Überraschung basiert im Konditionalsatz in Gebärdensprachen auch darauf: „Wenn es morgen schneit, dann fahre ich nicht mit dem Rad.“ So könnte man interpretieren: Oh, es schneit! [Überraschung!] Dann kein Fahrrad heute! [Die Folge davon]). 

Danach gab es noch einen Wechsel nach Köln als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität zu Köln. Und nun bin ich hier.

Eine Gruppe von 18 Menschen steht und kniet in einer Fußgänger*innenzone mit Fachwerkhäusern im Hintergrund.
Auch bei der Untertitel-Aktion im Jahr 2008 wirkte Paulus (3. v. l., stehend) mit. Foto: Privat

Der Schreibprozess einer Promotionsarbeit ist ja sehr herausfordernd. Wie erinnerst du dich an die Zeit? 

Es war eine große Herausforderung, ja. Zum einen muss man sich sehr gut strukturieren und Zeiten einteilen, das ist mir aber gut gelungen. Zum anderen merkte ich, dass mir in Deutschland eine solche schriftliche Schreiberfahrung fehlte. Die Formulierungen saßen nicht richtig, am Feedback meiner Betreuenden hatte ich oft zu knabbern – obwohl die Rückmeldungen natürlich richtig und angemessen waren. Ich entschied mich dann, eine Schreibberatung zu besuchen. Das war eine richtig gute Entscheidung. Die Schreibberatung wurde im Rahmen der Graduiertenschule (= Einrichtung im Hochschulbereich, die der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses dient) angeboten und war sehr hilfreich. Zum Glück wurden auch Dolmetschende für die Kommunikation bereitgestellt. Diese Beratung war ein richtiger Gamechanger (eine große Veränderung, d. Red.). Ab einem bestimmten Zeitpunkt hatte ich dann eine richtige Erleuchtung und die Worte flossen aus mir – ein richtiges Hoch und tolles Gefühl.

Wir brauchen mehr tauben Nachwuchs.

Was macht für dich eine gute Methodik (= praktische Vermittlung von Wissen) aus, und wo siehst du Bedarfe im akademischen Bereich? 

Aus methodischer Sicht ist es für mich sehr wichtig, nicht oder nicht zu viel frontal zu arbeiten. Die Studierenden müssen mit einbezogen werden, ihre Neugierde sollte geweckt wecken. Bedarfe im akademischen Bereich sehe ich vor allem in der Nachwuchsförderung – wir brauchen mehr tauben Nachwuchs, auch in der Linguistik. Wir brauchen außerdem eine konkrete Auseinandersetzung darüber, wie wir unsere Forschungsergebnisse der Deaf Community zugänglich machen und diese direkt davon profitieren kann. Ich sehe Bedarfe, ich sehe aber auch Ressourcen und gute Entwicklungen. Meine Sichtweise ist generell nicht defizit-orientiert. 

Stichwort Ressourcen – woraus ziehst du deine eigenen, für deinen Werdegang? 

Eine gute Frage. Ich finde, dass Abgrenzung wichtig ist. Man sollte sich Zeit mit sich selbst nehmen und bei sich selbst und authentisch bleiben. Das ist natürlich nicht immer einfach. Ziele sind wichtig, mein nächstes Ziel ist z. B. eine Alpenüberquerung! 

Das klingt nach einem spannenden Plan für das nächste Jahr! Dieses Jahr neigt sich dem Ende zu, hast du besondere Wünsche? 

Die Zeit zwischen den Feiertagen im Dezember und Januar soll wirklich für die eigene Erholung genutzt werden. All die köstlichen Weihnachtsleckereien (ich liebe sie!), mit seinen Liebsten bewusst zusammen genießen, auch mit sich selbst, und die eigenen Batterien aufzuladen. In dem Sinne wünsche ich allen Lesenden und Gebärdenden schöne und erholsame Ruhetage sowie einen guten Start ins neue Jahr mit neuen Kräften, Ideen und Plänen, für die eigene mentale Gesundheit und für die liebsten Mitmenschen! 

Vielen Dank für das Interview!

Dieser Artikel ist zuerst in der Deutschen Gehörlosenzeitung (Ausgabe 12/2023) erschienen.

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