Anas Alhakim berichtet im Interview mit Anne Gersdorff, wie er zu seinem Job als Softwareentwickler gekommen ist und wie seine Leidenschaft für Informatik und seine Fähigkeit zur Lösungsfindung ihm helfen, Barrieren als Rollstuhlfahrer zu überwinden. Außerdem erzählt Anas, welchen Blick er als Person aus Syrien auf inklusive Bildung hat und was echte Vielfalt am Arbeitsplatz für ihn bedeutet.
Anne Gersdorff: Hallo Anas, magst du uns kurz etwas über dich erzählen?
Anas Alhakim: Ich bin 32 Jahre alt und habe kürzlich meine Masterarbeit im Bereich der Medieninformatik mit 1,7 abgeschlossen, worüber ich sehr glücklich bin. Seitdem ich 17 Jahre alt bin, arbeite ich als Programmierer und Entwickler. Nach meinem Abitur 2012 habe ich mich entschieden, einen akademischen Weg einzuschlagen. Zuerst bin ich aber von Syrien nach Deutschland gekommen. Das war Weihnachten 2013, weshalb bei Videocalls im Hintergrund immer ein Weihnachtsbaum zu sehen ist. Mein akademischer Werdegang begann erst im Jahr 2016 so richtig. Zuerst habe ich einen Bachelor in Informatik bzw. Medieninformatik gemacht und dann meinen Master in Medieninformatik. Warum Informatik? Weil ich mich seit meiner Kindheit dafür interessiere – es ist nicht nur eine berufliche Tätigkeit für mich, sondern eine Leidenschaft.
Was bedeutet Leidenschaft für dich?
2005 bis 2007 befand ich mich aufgrund meiner Behinderung in einer Rehabilitationsphase. Alles war anders und ich konnte aus gesundheitlichen Gründen nicht wie meine Kumpels an den üblichen sportlichen Aktivitäten während der Sommerferien teilnehmen. Zu dieser Zeit hatte mein Bruder die Idee, dass ich mich, aufgrund meiner Affinität zu Computern, mit der Hardware vertraut machen sollte. Es waren meine ersten Berührungspunkte mit der Materie, die sich jedoch nicht so gut anfühlte. Dann schlug er vor, dass ich es mal mit Programmieren versuchen sollte. Ich habe viele Nächte damit verbracht, mich zwischen Webentwicklung und Webdesign hin und her zu bewegen. Ich war unglaublich neugierig und motiviert, um vielleicht meinen ersten Kunden zu gewinnen, den ich dann tatsächlich im Alter von 17 Jahren bekommen habe, etwa sechs Monate nachdem ich angefangen habe. Das war für mich ein neuer Weg hin zu meiner finanziellen Unabhängigkeit, in der ich nicht mehr nur auf das Taschengeld meiner Eltern angewiesen war und mir mein Handy, Bildschirm usw. selbst leisten konnte.
Welche Herausforderungen hast du erlebt?
Zunächst einmal bin ich in einem ganz anderen Land, nämlich Syrien, aufgewachsen und dann nach Deutschland gekommen, wo ich erstmal die deutsche Sprache lernen musste. Ich musste auch mein Abiturzeugnis anerkennen lassen, was eine enorme Menge an Aufwand erforderte. Meine ersten drei Jahre in Deutschland war ich nicht krankenversichert, was wiederum bedeutete, dass mein gesundheitlicher Zustand, aufgrund des Mangels an Therapien und medizinischen Untersuchungen, nicht optimal war. Ich war im Überlebensmodus. Zudem benötigte ich im Vergleich zu anderen viel mehr Zeit für mich selbst – mindestens zwei Stunden am Tag für mich, für meinen Körper und meine Pflege. Da ich hier in Deutschland ohne familiäre Unterstützung war, musste ich extrem selbstständig sein und meine Zeit anders einteilen. Natürlich gab es gewisse Unterstützungen von Freundschaften, aber die waren nicht immer verfügbar. So war es für mich immer eine Notwendigkeit, selbstbestimmt und selbstständig zu handeln – nicht nur, weil ich es wollte, sondern weil ich keine andere Option hatte.
Wie war die Situation während deines Studiums?
Das Studium war für mich nicht so problematisch. An der Universität hatte ich nicht viele Schwierigkeiten mit dem Stoff, obwohl es eine hohe Leistung und Konzentration erfordert. Diese steht jedoch nicht direkt in Zusammenhang mit meiner Rolle als Rollstuhlfahrer. Die Barrieren, mit denen ich zu kämpfen hatte, unterschieden sich nicht stark von denen, die andere erlebt haben. Immer wenn ich dennoch auf Barrieren gestoßen bin, habe ich das Gespräch mit der Universität gesucht. Es gab einige Barrieren, die nicht zu 100 Prozent beseitigt wurden, aber ich konnte immer einen Weg finden. Manchmal mussten Räume getauscht werden oder Kommiliton*innen haben mir geholfen.
Wie siehst du die Vielfalt im Bildungssystem?
Ehrlich gesagt, habe ich an der Universität kaum Probleme erlebt, zumindest nicht bei mir persönlich. Zum Beispiel habe ich in Berlin an der Technischen Universität (TU) und auch an der Hochschule für Technik (BHT) studiert. Beide Erfahrungen waren für mich nicht besonders problematisch. Aber mein Hintergrund ist auch etwas anders, da ich immer die Situationen mit denen in Syrien vergleiche. Ich weiß, dass das eigentlich kein angemessener Vergleich ist, denn diese beiden Welten sind nicht direkt vergleichbar. Dennoch war es für mich einfacher, in Deutschland zu improvisieren, weil ich in Syrien immer daran gewöhnt war, dass ich improvisieren musste und ständig nach einfachen Lösungen suchen musste. An der BHT gab es Situationen, in denen zum Beispiel die Knöpfe des Aufzugs zu hoch angebracht waren. Ich habe mir überlegt, wie ich mich strecken oder einen Kugelschreiber verwenden kann, um die Knöpfe zu erreichen.
Und was machst du heute?
Es ist viel passiert, seitdem ich Weihnachten 2013 aufgrund der schlechten Barrierefreiheit und der fehlenden Sicherheit wegen des Krieges von Syrien nach Deutschland gekommen bin. Ich habe meine beiden Studiengänge abgeschlossen und wurde vor drei Jahren eingebürgert. Mittlerweile arbeite ich bei Sozialhelden e.V. als Softwareentwickler, hauptsächlich für das Projekt Pfandgeben. Bald auch für die Wheelmap. und ich bin dort auch als Aktivist tätig, hauptsächlich im Bereich der Akademie, wo ich Workshops gebe und berate. Ich bin angekommen. Oft höre ich, dass das Jahr 2023 große Veränderungen für mich gebracht hat. Doch in Wahrheit spiegelt dieses Jahr die Ergebnisse der vergangenen zehn Jahre wider.
Du bringst eine breite Palette an Erfahrungen und Intersektionalität mit. Wie denkst du, können dir diese Erfahrungen im Berufsleben helfen? Kommen sie dir irgendwie zugute?
Ich habe eine Behinderung, bin Rollstuhlfahrer und habe gleichzeitig einen Migrationshintergrund. Das ermöglicht mir, die beiden Welten zu verstehen. Gleichzeitig arbeite ich als Fachexperte im Bereich Informatik. Dadurch kann ich meine Lebenserfahrung und Expertise in die Informatik einbringen. Ich kann Lösungen für Probleme entwickeln, die sowohl Behinderungen als auch technische Herausforderungen betreffen. Ich erkenne die Bedeutung dieser Komponente in meiner Persönlichkeit an und nutze sie, um mögliche Lösungen zu entwickeln.
Wie siehst du die Vielfalt in der Arbeitswelt?
Vielfalt auf dem Arbeitsmarkt sollte sich nicht nur auf eine Dimension beschränken. Wenn das der Fall ist, dann finde ich das positiv. Allerdings bin ich dagegen, wenn jemand nur aufgrund eines sogennaten Vielfaltsmerkmals eingestellt wird, ohne dass eine echte Vielfalt und inklusive Arbeitskultur vorhanden sind.
Wie siehst du die aktuelle Situation auf dem Arbeitsmarkt? Würdest du sagen, er ist vielfältig?
Wenn ich mich in der Vergangenheit beworben habe, habe ich immer erst geschaut, wie das Unternehmen kulturell aufgestellt ist. Gibt es eine Abteilung für Diversität oder Inklusion? Bin ich dort als Einzelkämpfer unterwegs und muss mich um alles selbst kümmern? Wenn ich sehe, dass ein Unternehmen Gleichberechtigung nur groß schreibt, es aber in der Praxis nicht lebt, dann ist das für mich kein attraktiver Arbeitgeber. In solchen Fällen sortiere ich solche Unternehmen direkt aus. Es gibt Unternehmen, die Diversität zwar unterstützen, aber nicht wirklich darauf vorbereitet sind. Sie sprechen von Vielfalt, aber wenn man sich bewirbt, stellt man fest, dass beispielsweise kein Fahrstuhl vorhanden ist. Ich frage mich dann, wie ein Unternehmen Diversität unterstützen und darüber sprechen kann, während es keine inklusiven Maßnahmen umsetzt. Es gibt also viele Unternehmen, die zwar auf dem Papier für Diversität sind, aber in der Realität nicht inklusiv handeln. Es gibt viele Möglichkeiten, Anpassungen zu beantragen oder Bedarfe anzusprechen, aber wenn das Unternehmen nicht entgegenkommt, lohnt es sich oft nicht. Es fühlt sich an, als wäre man allein in diesem Kampf.
Das klingt nach einer kritischen Beobachtung.
Das ist meine Wahrnehmung. Ein Grund, warum ich sogar in einer vorherigen Firma schließlich gekündigt habe. Der Fahrstuhl hat sechs Monate lang nicht funktioniert und es gab auch keine barrierefreie Toilette. Ich musste improvisieren und Homeoffice machen, während alle anderen im Büro waren. Ich fühlte mich ausgeschlossen.
Gibt es Initiativen oder Organisationen, die du als besonders vorbildlich empfindest?
Ja. Auf jeden Fall. In den letzten Jahren gab es viele Unternehmen, die wirklich gut darin sind, inklusive Arbeitsumgebungen zu schaffen. Zum Beispiel die Deutsche Bahn – als ich mich dort beworben habe, hatten sie bereits eine sehr offene Diskussion darüber, was ich benötige, welche Barrieren vorhanden sind und ob es spezielle Anforderungen gibt. Das fand ich wirklich positiv. Auch bei der Bundesdruckerei war es ähnlich. Sie hatten einen Beauftragten für Menschen mit Behinderungen in den Bewerbungsprozess integriert. Das hat mich überrascht, weil ich das nicht erwartet hatte. Ein weiteres Beispiel sind natürlich die Sozialheld*innen, bei denen ich jetzt gelandet bin.
Das klingt nach einigen positiven Beispielen, die du erlebt hast.
Ja, definitiv. Es ist ermutigend zu sehen, dass es Unternehmen gibt, die sich wirklich bemühen, eine inklusive Arbeitskultur zu schaffen.
Welchen Rat würdest du anderen Personen geben, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben oder ähnliche Rahmenbedingungen haben wie du?
Seid mutig, seid offen, seid neugierig und lasst euch von anderen nicht entmutigen, egal was sie sagen. Ihr seid der Sinn eures Lebens in eurer eigenen Realität, und ihr seid nicht hier, um die Erwartungen anderer zu erfüllen. Verfolgt euren eigenen Weg, traut euch und lasst eure Stimme hörbar werden.
Das kann manchmal ganz schön herausfordernd sein, oder?
Oh ja, ich sage nicht, dass es einfach ist. Es ist ein anspruchsvoller Prozess, aber er lohnt sich wirklich. Wenn ich auf die letzten zehn Jahre zurückschaue, würde ich, obwohl es sehr hart und anstrengend war, mir sagen: Bleib dran, es wird sich am Ende auszahlen.
Was hast du getan, um dranzubleiben oder was hat dich motiviert?
Ich war hartnäckig und stur. Ich habe in den letzten zehn Jahren viele negative Aussagen gehört. Leute sagten, ich solle meine Entscheidungen überdenken, dass ich es nicht schaffen werde, dass es nicht schön für mich enden wird. Obwohl ich auch Unterstützung und Motivation von anderen erhalten habe, sind die negativen Gedanken oft hängen geblieben. Ich habe mir dann gesagt, dass ich niemanden brauche, der an mich glaubt. Ich muss lernen, an mich selbst zu glauben, unabhängig von anderen. Ich war entschlossen, das zu tun.
#13 Internalisierter Ableismus
Internalisierter Ableismus – dieses Phänomen tritt auf, wenn behinderte Menschen die Vorurteile und Diskriminierungen, die sie erleben, unbewusst verinnerlichen oder ihnen sogar bewusst zustimmen. Darüber sprechen wir in der neuen Folge unseres Bayern2 – Podcasts.
Hast du bestimmte Dinge getan, die dich motiviert oder wieder aufgebaut haben?
Ja, auf persönlicher Ebene habe ich verschiedene Dinge gemacht. Ich meditiere auf meine Weise, höre Musik und mache Sport. Ich trainiere regelmäßig, mache Krafttraining und gehe schwimmen. Ich probiere gerne Neues aus. Obwohl ich gerne mit anderen Leuten zusammen bin, brauche ich auch Zeit für mich. Es ist wichtig, die Beziehung zu sich selbst zu stärken. Ich habe eine gute Balance gefunden. Wenn ich merke, dass ich abschalten muss, weiß ich, wie ich das tun kann. Die Sorgen haben bei mir nicht viel Platz.
Wie sehen deine Zukunftspläne aus? Was willst du in 10 Jahren tun?
Das ist eine gute Frage. Ehrlich gesagt, ich weiß nicht genau, wie es in zehn Jahren aussehen wird. Ich gebe mein Bestes im Moment, aber wie es in zehn Jahren sein wird, ist ungewiss. Vielleicht werde ich in die Selbstständigkeit gehen, vielleicht werde ich weiterhin bei den Sozialheld*innen arbeiten. Ich kann es nicht genau sagen.
Dieser Artikel ist zuerst auf tbd* (19.09.2023) erschienen.
Eine Antwort
Es war in den Jahren nach der Wende, meine Firma im Osten von Berlin war von bösen Geistern umtrieben, die Treuhand bot Kaufinteressenten und andere Käufer dem VEB ZPN an. Wir Ingenieure und auch gute Mitarbeiter wurden nach Ganderkeese (Fa. NEUHAUS) und Büchen (TUCHENHAGEN) verschickt, mit dem Ziel sich an erfolgreich fleißigen Firmen zu orientieren. Es waren leider nur kurze Episoden, denn in Kiel an der UNI belegte ich einen Kurs zum Thema “soziale Marktwirtschaft regelt alles” und meine Gewerkschaft DAG schuf für interessierte spezielle Lehrgänge durch nicht ließ ich aus. Bildung war ein Gebot der Stunde.
Meine Bewerbung an vielen Firmen hatte Wirkung gezeigt, eine Firma trat sogleich bei mir zu hause vor die Tür, nach telefonischer Absprache, es war ein sehr fruchtbares Kadergespräch in meiner Häuslichkeit. Die Frau des Hauses bot eine Schachtel Konfekt aus ihrer Heimat an, der Deckel verdeckte den Terminkalender des Gastes. So dass er völlig vergessen begann, diesen plötzlich zu suchen, und es schickte sich, unser Fachgespräch zu beenden. Verabschiedete sich. Kaum die Türschwelle verlassen, ich räumte die Unterlagen weg, kam meine Gattin und zeigte verzückt:
“guck mal was ich da habe? So haben wir das immer getan, als der große Bruder in der Sowjetunion!”
Die Fa. Braun, Backaromen der höchsten Güteklasse am Markt hatte sich nie wieder gemeldet, an Stelle meiner trat mein Studienfreund den Posten bis zum Rentenalter an. Auf Fachmessen sind wir uns immer wieder begegnet. Ob er von dieser o.a. Anekdote erfahren hat, bin mir zu 100% sicher.
1992 wechselte ich in den Außendienst, der Junior-Chef begrüßte uns: “na, endlich kommen meine Außendienstler aus DUNKEL-DOIT-SCHLAND!” Auch diesem Chef konnte ich kein Vertrauen abgewinnen. Danke, er kochte nur mit Wasser und strickte mit heißer Nadel (?).